Das Tier kommt, um zu staunen
Eine Gruppe lyrikhungriger Zuhörer sitzt in einem idyllischen Städtchen im Südschwarzwald artig auf seinen Stühlen und wartet auf die Ankunft des Dichters. Es ist ein lauer Frühsommerabend, die Lesung ist gut besucht, der Wein angenehm temperiert, die Dame hinter dem Büchertisch lächelt zuversichtlich. Fehlt nur noch Les Murray, der – sowohl in seiner Körperlichkeit als auch Performance – imposante australische Dichter, der 1998 nach Erscheinen seines monumentalen Versepos Fredy Neptune von manchem Feuilletonisten gar als neuer Homer gefeiert wurde. An diesem Tag aber spielt Les Murray lieber Odysseus. Nach einer Weile rückt der Leiter des hiesigen Literaturbüros seine buntmelierten runden Brillengläser zurecht, räuspert sich kurz und drückt mit Bedauern aus, dass er die Lesung absagen muss. Der Dichter ist auf seiner Lesereise verloren gegangen.
Das ist beileibe auch ein poetischer Akt. Und doch muss ohne den Körper des Dichters die erhoffte ordinary ecstasy an diesem Abend ausbleiben. Denn es ist die Dreifaltigkeit von Wach,- Traum-, und Körperbewusstsein, die laut Ley Murray gegeben sein muss, damit die Dichtung ihr ureigenes Element, ihre Sakralität entfalten kann. Die gewöhnliche Ekstase, die sich in glücklichen Momenten beim Lesen eines Gedichtes ereignen kann. Wenn etwa die surrealen Bildwelten durch das Alltagsbewusstsein hindurch in die tiefer gelegenen Schichten unseres Bewusstseins einsinken und dort Erschütterungen auslösen, die sich auch körperlich bemerkbar machen. Eine kleine, momentane Ekstase, die sich ebenso beim Hören der Lyrik, durch die Dreifaltigkeit von Dichter, Zuhörer und dem gesprochenen Gedicht selbst einstellen kann.
Nichts ist gesagt, bis es in Worten hinausgeträumt ist, heißt es im Gedicht Dichtung und Religion, in dem Les Murray eindrücklich den Zusammenhang zwischen den beiden Phänomenen schildert:
Religionen sind Gedichte. Sie bringen
unseren Tag- und Traumgeist in Einklang, vereinen
Gefühle, Instinkte, den Atem und die uns angeborene Gestikzum einzig vollkommenen Denken: der Dichtung.
Hier fühlt man sich zunächst ein wenig an Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus erinnert, in dem Hölderlin (wahrscheinlich gemeinsam mit Hegel und Schelling) proklamiert hatte: „Ich bin nun überzeugt, dass der höchste Akt der Vernunft ein ästhetischer Akt ist.“ und die Poesie prompt um zur höchsten aller Künste und Wissenschaften erhoben hatte. Bei Les Murray wird die Poesie noch weiter erhoben, in den Bereich des Transzendenten: und Gott ist die Dichtung, die in jeder Religion gefangen ist, wodurch sich der Autor zugleich auch rückbesinnt auf die Ursprünge der Dichtung, der Hohen Sprache, die dem Kult und dem Erzählen der Mythen vorbehalten war.
Diese Hohe Sprache bringt Les Murray zurück auf die Erde, in dem er nicht nur scheinbar Alltäglichstes und Banalstes thematisiert, sondern auch sprachlich ganz nah an der Mündlichkeit bleibt. (Womit er wiederum auf die orale Tradition der Poesie zurückverweist). So sind es oftmals nur kleine, surreal anmutende Sprenkel, wie das unvermittelte Russisch Blau zweier Katerohren, oder leicht aus dem Erzählfluss fallende Abschlusssätze, die einem bedeuten, dass man sich hier in einem Gedicht befindet. Die Grenzen zwischen Prosaischem und Poetischem sind bewusst verwischt und die Poetisierung der Welt ein Anliegen Murrays. Manches Mal auch das schelmische, zuweilen romantisch anmutende Vexierspiel mit den verschiedenen Ebenen von Wirklichkeit und Fiktion.
Eine Postkarte
Eine reflektierende Teerstraße durch
eine weite Ebene. Nieseliger Himmel.
Ein Fahrrad steht an einem großen Buch,
aufgeschlagen, wie ein Zelt am Straßenrand.
Einer kommt heraus und sagt: I
ch lese soVerrücktes Zeug in diesem Buch. ῍Jeder Vogelhat falsche Zähne aus Stein und betritt
die Welt in einem Sarg.῎ Das steht da drin.
Befremdlich mutet es schon an, wenn heutzutage ein Gedichtband mit der Widmung „Gott zur Ehre“ eröffnet wird und auch, dass der Mensch noch heilig ist in dieser Dichtung. Wie einst zu Adam, der ihnen ihre Namen gab, kommen auch hier die Tiere zum Menschen, um das Staunen neu zu erlenen:
Müde, das Leben zu verstehen,
nähern sich die Tiere den Menschen,
um überrascht zu werden.
Wie auch der Leser zu Les Murray kommt, um sich mit jedem Gedicht aufs Neue von der Vielfältigkeit der Inhalte und Formen dieses so schwer fassbaren Dichters überraschen zu lassen. Da werden Lieder über das Nasenloch gesungen (Das Königreich der Geister/ hat zwei Nasenlochtüren/ wie das Logo von McDonald’s), die australische Nationalpflanze, der Eukalyptus bekommt seine eigene Hymne (denn um Eukalyptus zu sein,/ muss man manchmal in der Hölle duschen), und selbst Die Kühe am Schlachttag ihre eigene Elegie (Der aasstinkende Hund, der das Kalb von Mensch und Wolf ist,/ jagt und frißt kleine Blutstücke, vertsreut von den Menschen,/ und alle ich laufen über Gerüche auf den Himmel zu.). Nichts was nicht geheiligt wäre in dieser Schöpfung, die der Schöpfer verdichtet.
Die hundert Gedichte für diesen Band hat Les Murray selbst ausgewählt. Er ist auch auf Englisch unter dem Titel „The Best 100 Poems of Les Murray“ erschienen. Ein Wermutstropfen bleibt, dass die Ausgabe auf die Beistellung der Originale verzichtet hat, um keinen „doorstopper“ aus dem Buch zu machen, wie es im Nachwort heißt. Übersetzt hat die Texte Margitt Lehbert, die sich schon zuvor als vielgelobte Übersetzerin der Murrayschen Gedichte verdient gemacht hat.
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