»an inability to experience phenomena first-hand«
Die Alt Lit-Bewegung hat ihre besten Tage gesehen. Mira Gonzalez, vom Hanser Verlag als »Star der jungen amerikanischen Literaturszene« stilisiert, kollaboriert mit dem Posterboy der Bewegung, Tao Lin. Dem wurde vor einem Jahr sexueller Missbrauch vorgeworfen. Was hat das mit Gonzalez‘ Lyrik zu tun?
In der digitalisierten Form des Kapitalismus, wie wir sie in der privilegierten westlichen Welt erleben, ist die Entfremdung zum eigentlichen Lebensmodus geworden. Wir sind ständig vernetzt und partizipieren, unsere Teilhabe ist aber augenscheinlich mittelbar geworden. An die Stelle von Aktivismus tritt slacktivism, soziales Engagement per Klick. Das persönliche Miteinander findet im Stream statt. Selbst unsere Ernährung wird Teil der Selbstinszenierung, abfotografiert und der Welt zur Schau gestellt. Niemand jedoch kann Instagram-Bilder essen, Berührungen und eine Twitter-Konversation sind grundverschieden und was helfen eigentlich all die Online-Petitionen gegen die real existierenden Übel da draußen in der, nennen wir es mal: echten Welt?
Das alles ist eigentlich nicht weiter schlimm, es ist eben nur anders als wir es bisher gewohnt waren und im Grunde nur eine Extrapolation dessen, was schon immer irgendwie problematisch war: Eine Demonstration ist kaum mehr als ein symbolischer Akt, zwischenmenschliche Kommunikation muss sich immer auf das unverlässliche Medium der Sprache verlassen und wie unser Essen wirklich schmeckt, wissen auch nur wir und niemand sonst. Dennoch werden diese Wandel in Weltwahrnehmung, -vermittlung und -gestaltung kritisiert. Nicht nur von einem konservativen Feuilleton, sondern ebenso von einer neuen Generation von Schriftsteller_innen, die in genau diesen neuen Lebensmodus hineingeboren wurden. Alt Lit, ein weitestgehend US-amerikanisches Phänomen, setzte der schönen neuen Welt eine radikale Aufrichtigkeit entgegen.
Plötzlich ging es wieder weniger um ästhetische Diskurse denn um das eigene Leben. Eine Generation, die sich per sozialen Netzwerken wie Twitter oder Facebook unablässlich selbst zum Ausdruck brachte, nahm den nächsten logischen Schritt. Alt Lit ist eine Art Naturalismus des 21. Jahrhunderts: Ungeschönt, direkt und mit dem Ziel versehen, die eigenen Erfahrungswerte möglichst transparent zu machen. »Ich mag Gedichte, die sich möglichst zeitgenössisch anfühlen und die Dinge wörtlich nehmen. So wenige Metaphern wie möglich, und Inhalte, auf die ich meine eigenen Erfahrungen beziehen kann«, sagt Mira Gonzalez beispielsweise im Interview gegenüber ihrem deutschen Verlag Hanser. Literatur, vor allem Lyrik leistet etwas Ähnliches wie Twitter und Co., nur ohne die unmittelbare Interaktion. Die wird zeitlich nach hinten verschoben.
Natürlich wurde über Alt Lit viel diskutiert, denn Alt Lit gab zwar viele Einsichten in die Lebenswelten des Ennuis stinknormaler weißer Teenies bis Mittzwanziger aus der Mittelschicht, entwickelte sich jedoch auch zum Sprachrohr der LGBTQIA-Community und von jungen people of colour. Solange, bis der konventionelle Buchmarkt das Phänomen zu okkupieren begann und Tatsachen ans Licht gekehrt wurden, die noch die schonungslosesten Schriftsteller_innen nicht thematisiert hatten. Der Fall Tao Lin wurde exemplarisch für das Zerbröckeln einer disparaten Bewegung, die nicht nur viel literarische, sondern auch sozialpolitische Hoffnungen auf sich lenkte.
Lin wurde mit seinen Romanen und Novellen wie Eeeee Eee Eeee oder Shoplifting From American Apparel zum Posterboy des Phänomens. Seine Literatur zeichnete sich durch einen trockenen, autobiografischen Stil aus, der einer nihilistischen Grundhaltung entspringen zu schien. Es war der perfekte Selbstausdruck einer Altersklasse, deren Leben sich zwischen den beiden Polen Depression und Ritalin nicht einzupendeln vermochte. Lin wurde zum internationalen Bestseller-Autor, mit seinem Roman Richard Yates gelang ihm 2010 der endgültige Durchbruch, 2013 folgte mit Taipei sein bisher größter Erfolg.
Ende 2014, nur wenige Wochen nachdem zwei Frauen aus der Alt Lit-Szene den Herausgeber Stephen Tully Dierks wegen sexuellen Übergriffen beschuldigten, erhob Schriftsteller E. R. Kennedy via Twitter schwere Anschuldigungen gegenüber Lin: Dieser habe ihn im Alter von 16 Jahren – Lin war zu diesem Zeitpunkt Anfang Zwanzig – zu sexuellen Handlungen genötigt und nicht nur die persönliche Geschichte der Beiden, sondern auch ihre gemeinsame Kommunikation in Richard Yates ohne Einverständnis aufgearbeitet und zum Teil direkt kopiert. Die Ikone derjenigen Bewegung, die nicht nur literarisch, sondern sozial einiges anders machen wollte, wurden Vergewaltigung, zumindest aber statutory rape (sexueller Missbrauch von Jugendlichen) und Plagiarismus vorgeworfen. Der Transmann E. R. Kennedy, den Lin in seinen Aussagen mit seinem bei Geburt zugeordneten Namen Ellen ansprach und dies immer noch tut, behauptete im Folgenden, vom Autor mit rechtlichen Maßnahmen bedroht worden zu sein. Dann protestierte er dagegen, dass das Blog Jezebel über die Geschehnisse berichtete und forderte die Entfernung des Artikels mit dem Hinweis, dass die von ihm in die Öffentlichkeit getragenen Anschuldigungen nur Lin und ihn etwas angingen.
Es ist eine undurchsichtige, komplexe Geschichte. Lin verwies auf die rechtliche Situation des US-Staats in dem sich das Geschehen abspielte, nach welcher jegliche sexuelle Handlungen zwischen den Beiden nicht strafbar waren und auch darauf, dass Kennedy gemeinsam mit ihm und in seinem eigenen Verlag Muumuu House veröffentlicht hätte. Auch wurde er nicht müde zu betonen, dass Kennedy psychische Probleme habe. Kaum ein Wort verlor er über seine eigene Rolle in der Beziehung der Beiden. Das ist kein Beweis für irgendetwas, nicht mal ein Indiz. Aber wenn sich jemand als Opfer fühlt und das äußert, sollte das ernst genommen werden und nicht als unglaubwürdig abgestempelt werden. Zumindest sorgten Lins Reaktionen keinesfalls dafür, dass die Alt Lit-Szene sich wieder friedlich zusammenfand.
Der Herbst 2014 war eine Zeit, in der viele Seifenblasen platzten. Alt Lit scheint nach den Vorfällen, die massive Diskussionen über die männlich-heterosexuelle Dominanz in der bisher als progressiv betrachteten Szene nach sich zogen, zur literaturgeschichtlichen Fußnote geworden zu sein. Während sich Dierks verabschiedet hat, veröffentlicht Tao Lin nun wieder. Die Übersetzung seines Romans Richard Yates – von dem Lin im Übrigen lange vor Veröffentlichung scherzte, er würde ihn Statutory Rape nennen – sollte bereits 2014 auf Deutsch erscheinen, wurde aber bisher nicht veröffentlicht. Dafür aber Selected Tweets, eine Gemeinschaftsarbeit mit eben jener Mira Gonzalez, die einem Interview mit ihrem Verlag Hanser zufolge so gerne Inhalte vor sich hat, die sie auf ihre eigenen Erfahrungen beziehen kann.
Gonzalez ist eine (Zu-)Spätkommerin der Alt Lit-Szene, ihr erster Gedichtband i will never be beautiful enough to make us beautiful together erschien 2013 und damit ein Jahr, bevor die bis dahin weitestgehend heile Welt der literarischen Bewegung einen vernichtenden Rückschlag erhielt. Hanser legt ihn jetzt auf Deutsch auf, um die Übersetzung hat sich Verlagschef Jo Lendle selbst gekümmert. Der Verlag weist auf Selected Tweets und die Verbindung zu Tao Lin hin, lässt die Kontroverse aber unter den Tisch fallen.
Es schmeckt bitter, wenn Gonzalez so freimütig mit einem kollaboriert, der sich höchstwahrscheinlich massiver Ausnutzung in vielerlei Hinsicht schuldig gemacht hat und sich davon weder ausreichend distanziert noch jemals entschuldigt hat. In einem Interview stimmt sie sogar zu, als die Anschuldigungen gegenüber Dierks sowie Lin sowie die nachfolgenden Diskussionen als »witch hunt« bezeichnet werden. Gonzalez zufolge wäre die Presse für ein paar Klicks auf den Zug gesprungen. Ihrer Auffassung nach hat sich Lin nichts zu Schulden kommen lassen.
Das alles hat auf den ersten Blick mit Gonzalez‘ Lyrik im Allgemeinen und Ich werde niemals schön genug sein, um mit dir schön sein zu können, wie der Band in der deutschen Übersetzung betitelt ist, wenig zu tun. Es bildet aber zum Einen einen problematischen Rahmen, weil Gonzalez‘voll von impliziten und expliziten Hinweise auf körperliche Transgressionsakte ist. »I want someone to forcibly hug me«, »I am going to consume your entire body«, »I want someone to pull my hair because I like the idea of someone controlling my head without touching my head«, die Beispiele sind mannigfaltig. Es sind Momente, die entweder wie achtlos beiseite gewischt oder sogar stilisiert werden: »this is understood to be the defining element of emerging adulthood«. Natürlich ist das nicht zwangsläufig affirmativ zu verstehen und selbstverständlich lässt sich darüber keine Aussage über Gonzalez‘ Person treffen. Der dominante Diskurs sexualisierter Übergriffe jedoch wirkt vor ihrer Verteidigung Lins umso prekärer.
Was Gonzalez‘ Lyrik so frappant macht, ist die Schonungslosigkeit, mit der sie die Bedrohlichkeit der eingangs angesprochenen inhärenten Entfremdung (»I have alienated myself«, »I don’t identify with most people«) und Einsamkeit (»I wonder how is it possible that there are billions of people in the world / yet I am the only person on the planet«) nachvollzieht und in einen zwischenmenschlichen Kontext setzt (»›alone together‹ is not an oxymoron anymore«). Angesichts der Stagnation, Abwesenheit oder, noch schlimmer, Redundanz der Gefühlswelt (»everything is okay«, »I am the absence of something sentient«, »everyone feels the same things over and over again«) scheint es nur wenige Ausflüchte zu geben: Drogen (»you take drugs because they make you feel different«), die Gewissheit des Todes (»and we felt comforted by the inevitability of death«) oder die Bestätigung durch andere (»are you able to confirm my existence«). Wie weit letzteres geht, zeigt sich an Zeilen wie »you said ›do you want to have sex‹ / I said ›no‹ and immediately felt guilty«. Die Entfremdung sucht ihre Reintegration im Zwischenmenschlichen, Verständnis und Empathie dort, wo auf allen Seiten Selbsthass herrscht.
Gonzalez skizziert mit knappen, gestisch abgeklärten Worten – Gedichte sind für sie so etwas wie in Breite ausgeführte Tweets – Szenarios von gegenseitiger Ausbeutung. Sie entspringen der internalisierten Entfremdung, ihr Ausgangspunkt ist »an inability to experience phenomena first-hand«. Sie suchten nach Erlebnis, vielleicht sogar nach Liebe. Eingedenk Gonzalez‘ Verbindungen zu und Verteidigungen von Lin werden diese eh schon brisanten Leitmotive umso brisanter.
Dass Hanser sie dabei als »Star der jungen amerikanischen Literaturszene« stilisiert und dafür lobt, »heutiges Lebens ins Extrem« zu treiben, umso mehr. Die angesprochene Szene erlebte nämlich durch genau so ein Verhalten einen entscheidenden Rückschlag. Dass überdies etwas, das eigentlich überkommen werden sollte, in der Alt Lit und auch sonst irgendwo, von Gonzalez als ein Fluchtpunkt zeitgenössischen Ennuis an den Horizont gemalt wird, ist niederschmetternd. Es wirft aber auch Fragen der Verantwortlichkeit auf, weniger gegenüber Gonzalez als ihrem deutschen Verlag. »an inability to experience phenomena first-hand« fordert Opfer, wie es sich auch leicht bei Gonzalez abstrahieren lässt. Es ist fatal, das nicht weiter offen thematisieren.
Obwohl es sich verbietet, das Dargestellte mit der Darstellung und erst recht nicht mit Affirmation zu verwechseln: Dessen Vermarktung muss unbedingt hinterfragt werden. Denn die stützt sich, ob sie will oder nicht, auf die Verharmlosung des Einzelfalls und damit auch des Gesamtkontextes.
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