Aktualität 2.0
Oft ist man zu sehr mit der Aktualität beschäftigt, der Gegenwart, weil sie ihre spezifischen Probleme aufwirft. Probleme, die eine gegenwärtige und schnelle Lösung verlangen. Und entsprechend speist sich das Dasein des Rezensenten zu großen Teilen aus Überlegungen zu Texten, die jetzt oder im letzten Jahr erschienen sind.
Das hat zur Folge, dass der Ausschnitt der Welt, den man wahr- oder aufnimmt, sich wie unter einem Brennglas auf das punktuell Beleuchtete fokussiert. Der Punkt aber erhitzt sich und färbt zumindest das Papier, wenn er sich nicht entzündet. Geschichte, nicht nur Literaturgeschichte, verschwindet unter anhaltend Gegenwärtigem. Hin und wieder aber fährt einem ein älterer Text in die Parade.
Aktuell ist es für mich die Neuübersetzung von Nathaniel Hawthornes Der Scharlachrote Buchstabe durch Jürgen Brôcan. Und es ist nicht das erste Mal, dass mir Brôcan einen Text aus mutmaßlich vergangener Zeit nahebringt. Zu erwähnen wären vordringlich seine Übertragungen der Grasblätter von Walt Whitman und seine Übersetzung von John Muirs Die Berge Kaliforniens. Dies zumindest sind nahezu aktuelle Arbeiten, die lange in mir nachklingen. Ich könnte weitere nennen.
Nathaniel Hawthorne wurde 1804 in einer alten Puritanerfamilie geboren. Er starb vor 150 Jahren am 19. Mai 1864 in Plymouth, New Hampshire. Anlässlich seines einhundertfünfzigsten Todestages legen verschiedene deutsche Verlage Texte in Neuübersetzungen auf. Neben dem hier zu besprechenden Buch sei noch auf die gemeinsamen Tagebücher von Hawthorne und seiner Frau verwiesen, die gerade unter dem Titel Im Paradies der kleinen Dinge im Frühjahr bei Jung und Jung erschienen sind.
Hawthornes Ururgroßvater war einer der Richter in den Hexenprozessen von Salem 1692, in deren Verlauf eine Reihe von Bürgern Neuenglands der Hexerei angeklagt und zwanzig von ihnen hingerichtet wurden. Die Einwanderer hatten etwas von der religiösen Hysterie aus Europa mit in die Neue Welt eingeschleppt, wie Ratten und Krankheiten. Eine Hysterie, die in Europa entstanden war, die in Drucken und Zeichnungen von Goya Gestalt annahm und in seinem Bild Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer Ausdruck fand. In Amerika bildete sie ihren eigenen Ausdruck aus.
Darin liegt sicher auch ein Ursprung von Hawthornes eher pessimistischen Menschen- und Gesellschaftsbild. Ein Pessimismus, der durch die Begegnung mit Henry David Thoreau und Ralphh Waldo Emerson in der Sozialutopischen Siedlung Brook Farm, in der er 1841 ein halbes Jahr verbrachte, zwar gemindert, aber nicht getilgt wurde.
Schon im ersten Kapitel des Romans kommt dieser Pessimismus zum Tragen.
Eine Delinquentin wird an einem Schandpfahl der Gemeinde ausgestellt. Ihre Verfehlung bestand darin, ein Kind zur Welt gebracht zu haben, das offensichtlich einem Ehebruch entstammt, weil ihr Gatte schon seit einiger Zeit verschollen war. Hester Prynne, das ist der Name dieser Frau, weigert sich den Vater des Kindes preiszugeben. Zum Zeichen ihrer Verfehlung wird sie verurteilt, von nun an einen scharlachroten Buchstaben sichtbar an ihrer Kleidung zu tragen.
Hesters Ehemann lebt inzwischen unerkannt und unter falschem Namen wieder als Dorf-Arzt in der Gemeinde. Und als Arzt ist er mit allen Wassern gewaschen. Man könnte meinen, er gälte als Vertreter moderner Naturwissenschaft und würde der religiösen Eiferei Momente der Vernunft entgegensetzen können. Dem ist aber nicht so. Zu sehr hat sich die Männergemeinschaft in seine Handlungsmotivik gegraben. Unter subtiler Nutzung seiner Fähigkeiten treibt er den Pfarrer der Gemeinde, der an einer merkwürdigen Herzschwäche leidet, in den Wahnsinn. Der Pfarrer andererseits ist der verschwiegene Vater von Hesters Kind. Im Grunde ist sein Wahnsinn die internalisierte religiöse Eiferei, die mit seiner Lebensweise in Konflikt geraten ist.
Hester Prynne derweil rettet, könnte man sagen, sich selbst. Sie arbeitet sich aus ihrer Situation heraus, denn mit demselben Geschick, mit dem sie den Scharlachroten Buchstaben, das Zeichen ihrer Verfehlung fertigte, fertigt sie Näharbeiten an. Aufträge hat sie genug. Einzig zur Fertigung von Brautschleiern wird sie nicht zugelassen. Pearle, so der Name des Kindes, könnte so etwas wie einen Ausweg aus der verkarsteten Gesellschaft darstellen.
In Hester Prynne hat Hawthorne eine der großartigen Frauengestalten entworfen, wie sie in der Literatur der Moderne immer wieder auftaucht. Es sind Frauen, die einerseits Opfer einer Männergesellschaft werden, in ihrer Situation letztlich aber auch die Kraft entwickeln, sich diesem überkommenen Wahnsinn zu entziehen.
Der englische Originaltext, der 1850 zum ersten Mal erschien, steht neben Melvilles Moby Dick, den Erzählungen Poes und einigen anderen Marksteinen am Anfang der amerikanischen Moderne. Brôcans Neuübersetzung trägt ihn in die Gegenwart. Brôcan hat das Buch nicht nur übersetzt, sondern, wie wir es von ihm inzwischen gewohnt sind, mit einem umfangreichen Apparat aus Kommentar und Nachwort ausgestattet. Dieser Kommentar, der uns den Text noch näher bringt, führt uns in ein Abenteuer der Geschichte und auch der übersetzerischen Feinheiten. In diesen Feinheiten kommt eine Kommunikation zwischen Entstehungszeit und Gegenwart zum Tragen. Angereichert wird der Text durch Ausschnitte von Briefen und Anmerkungen zur Rezeptionsgeschichte, so dass um das Buch herum ein weiteres Buch entsteht, dass eben die Vergangenheit mit dem Heute kurzschließt. Angesichts des erstarkenden religiösen Fundamentalismus jedweder Couleur in den letzten Jahren erweist sich Hawthornes Text hier und heute von geradezu erschreckender Aktualität.
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