Campbell-Suppe, Wonder Bread und Dosenerbsen
Ein „bemerkenswert schlecht dokumentiertes“ Leben attestiert Paul Auster sich selbst – die häufigen Umzüge seiner Mutter und sein eigener unsteter Lebenswandel haben fast alle Spuren seines früheren Lebens ausgelöscht. Das Gute daran: vermutlich haben wir genau diesem Umstand all die autobiografischen Häppchen zu verdanken, mit denen Auster sein Publikum seit über dreißig Jahren füttert, wenn gerade mal kein neuer Roman von ihm erscheint. Im neuesten Band seiner Memoiren, „Bericht aus dem Inneren“, klingt es an: Wer keine Gedächtnisstützen wie Fotos oder Briefe besitzt, erkennt viel eher die Bedeutung des nachträglichen Aufzeichnens, wird zu viel detaillierterem Erinnern gezwungen, als es der geronnene Moment einer Fotografie leisten könnte.
© Rowohlt
In Austers vorgezogener Lebensbilanz „Winter Journal“ (2013) ging es vor allem um den Körper und das Älterwerden, ein sinnlich-assoziationsreicher Essay, der als typisch für den 1947 in Newark geborenen Schriftsteller gelten kann. Dahingegen kommt „Bericht aus dem Inneren“ wie eine szenische Materialsammlung daher, zusammengehalten von der zentralen Frage: „Wie bist du zu einem Menschen geworden, der denken konnte, und wohin hat dein Denken dich geführt.“
Auster hält den in „Winter Journal“ begonnenen Spagat, sein jüngeres Ich in der zweiten Person anzusprechen und auf diese Weise eine gewisse Distanz zum erinnerten Selbst zu schaffen, konsequent durch. Wir befinden uns im Kopf des heranwachsenden Paul, und gleichzeitig macht uns Auster unmissverständlich klar: Auch eine Autobiografie ist Fiktion.
„Scheren konnten gehen, Telefone und Teekessel waren Cousins, Augen und Brillen waren Brüder“ – der Autor beschreibt die animistische, fantasiedurchsetzte Weltsicht seiner ersten Lebensjahre mit einer erstaunlichen Dichte, als sähe er noch einmal durch die Augen eines Kindes. Aus dem Nordpol, glaubt der kleine Paul, rage eine Stange heraus, das Alphabet enthielte zwei geheime Buchstaben, und die Wanderdrosseln unterhielten sich in einer komplexen Sprache mit eigenen grammatikalischen Regeln.
In den Erzählfluss mischt sich immer wieder die Stimme des erwachsenen Schriftstellers, ordnet Zeitgeschichtliches ein und greift Momente heraus, die ihm im Nachhinein formativ erscheinen. Kalter Krieg, Antikommunismus, kindlich nachgespielte Gefechte gegen Nazis oder Japaner dürfen in den USA der Jahrhundertmitte natürlich nicht fehlen. Ebenso wenig „Campbell-Suppe, Wonder Bread und Dosenerbsen“.
Hauptsächlich jedoch geht es dem Autor um das Aufspüren zentraler Erkenntnismomente. Die Geburt seines Selbstbewusstseins verortet Auster auf charmante Weise an einen unspektakulären Samstagmorgen seines sechsten Lebensjahrs. Wobei Ich-Werdung für den zukünftigen Schriftsteller vor allem das Begreifen der Fähigkeit meint, sich die eigenen Geschichten zu erzählen.
In diesem Licht betrachtet, wirkt auch der zweite Teil weniger redundant, als es zunächst den Anschein haben mag. Im Wesentlichen erzählt Auster hier zwei Filmen nach, und er tut es auf eine mitreißende und zugleich allegorische Weise, die an den Häftling Molina in „Der Kuss der Spinnenfrau“ erinnert. Auf welche Weise diese beiden „kinematographischen Erdbeben“ den Autor Paul Auster geprägt haben, werden diejenigen spüren, die seine Romane kennen. „Die unglaubliche Geschichte des Mister C“ verdeutlicht dem kleinen Paul mit der Wucht eines Hammerschlags die Macht der Erzählstimme, die das Erlebte zusammenhält und ihm überhaupt erst einen Sinn verleiht. In „Jagd auf James A“ wiederum werden Auster-Fans diverse Motive wiedererkennen, die in seine späteren Werke eingeflossen sind.
Teil drei, „Zeitkapsel“, macht sich, wie auch viele seiner fiktionalen Werke, die Alchemie des Zufalls zunutze. Seine erste Frau, die Schriftstellerin und Übersetzerin Lydia Davis, lässt Auster ein Konvolut an Briefen zukommen, die er ihr in den späten sechziger Jahren schrieb. Warum Auster sich entschlossen hat, diesen Briefwechsel in den „Bericht aus dem Inneren“ mit hineinzunehmen, wird zunächst nicht recht ersichtlich. Teil eins verlässt den jungen Paul im Alter von zwölf Jahren; Lydia tritt erst acht Jahre später in sein Leben.
Für Auster-Kenner sind die Berichte an die ferne Geliebte natürlich hochinteressant – spiegeln sich darin doch die ersten Erfahrungen existenzieller Einsamkeit (in Paris), seine Haltung gegenüber den beginnenden Studentenunruhen (an der Columbia University in New York) und nicht zuletzt die nervenzehrenden Kämpfe um Inspiration, Aufträge und Anerkennung, die den Beginn seiner Schriftstellerkarriere prägen. „Das Land ist ein schwärender Entzündungsherd, eine Eiterbeule voller Plagen“, urteilt der junge Auster mit wenig Nachsicht über die im Chaos von Revolution und Vietnamkrieg versinkende USA. Der äußerliche Wirrwarr ist ein Abbild seiner inneren Zerrüttung. Dann jedoch schlagen die düsteren Monologe um in eine beinahe verspielte Poesie voller absurder Komik. Man begreift: Auster lässt seine LeserInnen gerade an dem Prozess teilhaben, wie ein Schreibender seinen Stil findet. Und er verdeutlicht noch einmal die Unzuverlässigkeit des eigenen Gedächtnisses, wenn er sich verwundert, manchmal sogar schockiert zeigt über all das, was und wie er damals über sich und seine Umwelt geschrieben hat. Der dritte Abschnitt schließt mit einem langen Brief an Lydia, eine Art Schelmengeschichte im Beat-Tonfall, die vorgibt, selbst erlebt zu sein, an die sich Auster jedoch kaum erinnert.
Im Anhang findet sich ein Album, das jedoch niemals Auster selbst, sondern eine wilde Zusammenstellung einflussreicher Figuren und Szenen aus Pop- und Hochkultur, Politik, Sport, Religion und Wissenschaft zeigt.
Wer kein eingefleischter Auster-Fan ist, den wird dieser postmoderne Zettelkasten möglicherweise ein wenig ratlos zurücklassen. Narzisstisch oder übermäßig eitel wirkt „Bericht aus dem Inneren“ jedoch nur an wenigen Stellen. Es geht Auster nicht um die Bespiegelung des eigenen Ich, das zu interessieren hat, weil aus ihm ein berühmter Schriftsteller wurde. Vielmehr geht es ihm um die Erforschung der Natur des Erinnerns an sich. Und wenn schon um die eigene Bedeutung, dann um die Entdeckung, „ein Mann zu sein, der Künstler wird, indem er sich von innen nach außen stülpt“.
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