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Kritik

Flaubert als Rettung

Ein Bildungsroman aus der Pariser Banlieue und gleichzeitig eine Hommage an den Vater: Mein Vater ist Putzfrau von Saphia Azzeddine.
Hamburg

Der zu Beginn der Handlung vierzehnjährige Polo ist vom Leben nicht gerade bevorzugt. Seine Familie gehört zu dem, was man Prekariat nennt und laut Duden nur geringe Aufstiegschancen hat. Für Polo bedeutet Familie konkret eine gelähmte Mutter, eine Schwester, die schon mit dreizehn Jahren abgetrieben hat, und einen Vater, der mit Putzarbeiten für den Unterhalt der Familie sorgt. Gleich auf den ersten Seiten wird Polos Dilemma deutlich. Er hat sich intellektuell von seiner Familie weit entfernt und ist doch Teil von ihr. Einerseits findet er es schrecklich, seinem Vater beim Putzen helfen zu müssen, andererseits ist das der Beginn seiner Rettung, denn mit dem Vater sieht er vieles außerhalb seiner normalen Umgebung.

Die Firma meines Vaters hat ein gutes Mittel zur Zerstreuung ihrer Angestellten gefunden. Alle ein oder zwei Monate ändert sich der Einsatzort. So wechselt mein Vater von einer Bibliothek zu einem Gemeindefestsaal und von Büroräumen zu Nachtklubs: Jedes Mal eröffnet sich ihm eine neue Welt. Und mir auch, wenn ich ihn begleite.

Polo ist ein guter Beobachter. Er versteht und benennt Ungerechtigkeiten, Rassismus oder einfach die Banalität der sogenannten besseren Leute. Saphia Azzeddine charakterisiert aus seiner Perspektive und in seiner Sprache ungeschminkt, direkt und oft vulgär verschiedene Schichten der französischen Gesellschaft.
Bei einem Besuch in einem Freizeitpark wird Polo in der Warteschlange ohnmächtig.

Ich mag diese Leute nicht. Die Leute, die Schlange stehen, alle in die gleiche Richtung wollen und »fuck you« anstatt »danke« sagen. Denn »thank you« heißt danke auf Englisch, und deshalb ist es wichtig.
-Alles klar, Papa. Können wir gehen?
Mein Vater hat die in der Schlange stehenden Vielficker beruhigt, und wir sind sofort gegangen.

Wie nebenbei werden Ungleichheiten des Schulsystems und rassistische Lehrer geschildert. Während in der neunten Klasse auf dem Collège die Jugendlichen aus aller Herren Länder kommen, algerische Namen wie Tamimout Hihi tragen oder wie Cosmin aus Romafamilien stammen, wird die Farbpalette zusehends heller beim Übergang in die 10. Klasse

Polo hat es also auf das Lycée geschafft. Dazu hat ihm nicht zuletzt geholfen, dass er seinem Vater beim Putzen in der Bibliothek half. Denn neben Staubwischen und Bodenschrubben fand er immer noch Zeit, neue Wörter, Sätze und somit neue Gedanken zu lernen. Manchmal fragt er sich, ob es nicht besser wäre, wie sein Vater zu werden, schlicht und einfach.

Nein, die Wörter aus der Bibliothek werden mich meinem Proletenschicksal entreißen. Ein Stück weit wenigstens. Ich muss ein anderer werden.

An einer Stelle, in der er sich über seine Verwandtschaft aufregt, weil Vater, Onkels, Cousins, Großväter alles ins Schweinische ziehen müssen und ständig blöde Witze machen, kommt er zu der Erkenntnis:

Diese chronische moralische Unsitte wird mich zu einem radikal anderen machen. Zum Gegenpart. Zum absoluten Gegenteil. Ich darf nichts dem Zufall überlassen. Ich muss methodisch vorgehen, sorgfältig auswählen und genau das Gegenteilige von dem tun, was mir spontan unterlaufen würde. Ich möchte, dass Kundera und Borges sich so natürlich in meine Sätze einnisten wie »gottverdammte dreckige Scheiße« in die Sätze meines Vaters. Zwar verstehe ich bei Balzac oder bei Zola nicht, was die endlosen Sätze sollen, die einfach nur sagen, dass es Tag oder schönes Wetter ist, aber ich muss sie lieben.

Polo hat viele Wünsche. Abwechselnd möchte er muslimisch oder jüdisch sein und wie seine arabischen Freunde in den Ferien wenigstens in ein weit entferntes Heimatdort fahren können. Er möchte endlich mit einem Mädchen schlafen und vor allem hätte er gern eine vorzeigbarere Familie.
Aber so oft und so heftig er auch seinem Vater vorwirft, es zu nichts gebracht zu haben, erkennt er doch, dass dieser Putzmann, der sich vor Vorgesetzten klein machen muss, der blöde Possen reißt ein wertvoller Mensch ist.

Es ist beschämend, wenn man sich wegen seinem Vater schämt. Einem Vater, der im Rathaus alle Hebel angesetzt hatte, damit ich auf ein anständiges Collège gehen konnte. Es ist zwar nicht das Jean-Jaurès-Collège, aber viel besser als das Lèon Blum, auf das ich vom Einzugsbereich her gehört hätte.

Ein Vater, der für seinen Sohn einen Euro pro Tag gespart hat, um Polo nach dem (erschummelten) Abitur den Start ins Leben zu erleichtern. Und so hält Polo in dem für mich schönsten Satz des Romans fest: 15. August und eine Riesenlust, meinen Vater zu lieben.

Am Ende des unterhaltenden und gleichsam berührenden Romans schließt sich der Kreis. Der erwachsene Polo liest, dass sein Sohn in ein Schulheft geschrieben hat, Polo sei Stewardess. Als er ihm erklärt, das heiße Stewart und er seine Arbeit im Flugzeug beschreibt, stellt der Junge lakonisch fest: Ach ja,…Das heißt also, du putzt, nur eben in der Luft.

Saphia Azzeddine
Mein Vater ist Putzfrau
Aus dem Französischen von Birgit Leib
Wagenbach
2015 · 128 Seiten · 14,90 Euro
ISBN:
978-3-8031-3270-3

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