Poesie des Dialekts - nicht der Dialektik
Im Überschwang ihrer beglückenden Zweisamkeit treiben Hilla und Hugo ein Spiel: sie verpassen der Weltliteratur ein anderes Ende, sie verheiraten Faust und Gretchen, Romeo und Julia.
Es scheint das Motiv für Ulla Hahns „Spiel der Zeit“ zu sein - das Happyend, das aber leider nicht am Ende der gut 600 Seiten stattfindet, sondern bereits auf Seite 136. Ein Paar, das zueinander findet, sich emotional stützt - eine Abwehr gegenüber der Außenwelt errichtet und sich liebt. In der Beziehung gibt es keine Reibungen, keine Verwerfungen, all das findet außerhalb der Beziehung statt, mit den jeweiligen Elternhäusern, mit den studentisch bewegten Kommilitonen, auf der Straße.
Ulla Hahns erster Roman „Das verborgene Wort“, verfilmt als „Teufelsbraten“, beschreibt die Befreiung der in proletarischen Verhältnissen aufgewachsenen Hildegard Palm durch ihre Liebe zum Wort zu einer Welt, die ihrer Herkunftsfamilie unbekannt ist. Aus der sie, geführt von einem ihr geneigten Großvater und seiner archaischen Steinpoesie, herauswächst. Um den unerträglichen Alltag zu bewältigen, werden Wutsteine mit den Namen derer, die ihr Steine in den Weg legen, in den Rhein geschleudert. Der Großvater lehrte sie die Steine zu lesen, nun hat sie einen Gefährten, der diese Liebe zu den Steinen teilt.
Diese schöne Grundidee, nennen wir es mal die Steinpoetik, zieht sich nun mittlerweile durch den dritten Roman, der Hildegard, das Alter Ego Ulla Hahns zum Motor, zum Zentrum, zur Hauptperson hat. Was der Großvater der kleinen Hildegard als Überlebenshilfe anbot, wird in allen drei Büchern als Abbildung zur Zäsur zwischen den Erzählabschnitten, ein kleiner runder Feuerstein immer derselbe, seit 2001.
Manchmal ist man froh, wenn in „Spiel der Zeit“ das Schema des Steins durch die Seite schimmert, ach, endlich wieder ein Kapitel zu Ende. Denn der Roman, der in der Zeit von 1967 bis 68 spielt, zieht sich lang lang hin. Am spannendsten ist gleich zu Beginn die Geschichte von Hildegards Studienfreundin Gretel, um deren schönes Familienleben Hilla die Freundin beneidet. Doch Gretel ist ungewollt schwanger, es ist die Zeit, kurz bevor die Pille aufkommt und Hilla engagiert sich in Sachen Abtreibung. Nachdem die grausamen Do it your self-Methoden - Seifenwasser trinken u.ä. nicht zum gewünschten Ergebnis führen, bleibt nur der Gang zu einer professionellen Engelmacherin, deren Vorgehen mit großer Detailtreue erzählt wird. Doch nach Rettung der Freundin verliert Hilla diese - ans Kloster.
Sehr schön und komisch ist die Begegnung mit Hugo, der ihr dann bis zum Schluss des Romans nicht mehr von der Seite weicht: Es ist Karneval in Köln und die von der Vergewaltigung (Zentrum des zweiten Romans „Aufbruch) zutiefst verletzte und verunsicherte Hille verpuppt sich als unförmige Raupe. Und zwischen den ganzen Matrosen, Engeln und Piraten tappt ein ebenso unförmiger Käfer, der unter seinem Schaumgummipanzer einen echten Buckel verbirgt, sein Problem. Das seltsame Paar erzielt beim Tanzen große Aufmerksamkeit. Diese Szene ist sehr hübsch, aber nichts passiert bei Ulla Hahn ohne Absicht. Die beiden Vermummten, die ihre Verletzungen unter dem jeweiligen Schaumgummipanzer verbergen, finden zueinander. Er ist der Sohn einer reichen bekannten Kölner Familie, in der er als Krüppel keine Anerkennung findet, gegen deren bourgeoises Dasein der Spross revoltiert, indem er sich aktiv an der Studentenbewegung beteiligt, Mao Tse Tung liest und sich dem Proletariermädchen zuwendet. Hilla wiederum überwindet mit seiner Hilfe ihr Trauma. Alles gut.
Nein, es wird geredet und geredet. Nichts bleibt dem Leser erspart, alles sprechen die beiden durch, Mao, Rudi Dutschke, Schiller. Dann wird dem Leser auch noch erklärt, wer wer ist, ist das ein Roman? Obendrein beschleicht mich der Verdacht, dass das, was Hilla denkt, nicht von 1967 oder 68 stammt, sondern aus der Distanz von heute. Offenbar, um dem vorzubeugen, führt Ulla Hahn eine Gegenwartsperspektive ein, indem sie die sonst in der Ich-Form Erzählende mit Hilla anspricht und im gleichen Satz „Hilla" und „ich“ vorkommen. Das hätte Sinn, wenn sich die Ansichten unterscheiden würden, aber das 1968er „ich“ hat bereits die gleiche ironische Distanz zum Geschehen um sich herum wie die Kommentatorin 2014. Herauskommt eine verschwommene Perspektive, gerade da wo es spannend gewesen wäre, die Reflektionen von gestern und heute schärfer gegeneinander zu stellen. So ist es nicht glaubhaft, wenn Hilla 1968 denkt, dass sie eigentlich nur Hugos wegen auf Demonstrationen geht und darüber sinniert, ob sie auch einem Nazi-Hugo aus Liebe gefolgt wäre. Das scheint doch offensichtlich ein späterer Gedanke zu sein, hingeworfen wie ein unverdaulicher Knochen.
Im Klappentext ist von einem „Epochengemälde der 68er Jahre“ die Rede. Ja, es kommen alle Versatzstücke der 68er vor, aber alle bereits mit dem Stempel „ich habs damals schon nicht geglaubt“ von 2014. Das überzeugt mich nicht. Da zieht sich das ehemalige DKP-Mitglied Ulla Hahn aus der Zeitschlinge, sie gibt Hilla die Distanz von heute mit.
Schwer zu ertragen sind endlose Bildungssuaden. Vor lauter klugen Passagen über Ezra Pound und wie sie alle hießen, über die Bibel, sehnt man sich schon fast nach dem Dondorfer rheinischen Dialekt, wo es einfach aber ärlisch zugeht, denn regelmäßig fährt Hilla heim und jeder Besuch wird dokumentiert. Das dröge Zuhause von einst hat seinen Schrecken verloren, es ist schöner und ärlischer dort als in der Marienburger Festung bei Hugos Eltern, die natürlich voller Herablassung auf das Proletenmädel schauen. Klischee, Klischee, Klischee. Eingestreut in den Text sind Hahnsche Gedichte aus dem Band „Gesammelte Gedichte“, 2013 erschienen. Der dritte Band der Hildegard Palm-Trilogie ist eine Selbstinszenierung. Eine Verteidigung. Eine überaus erfolgreiche Frau, preisgekrönte Literatin, als promovierte Germanistin an vielen Universitäten Lehrbeauftragte, trägt immer noch schwer an ihrem Erbe: das talentierte verprügelte Proletenkind, das sich selbst durch Worte befreite.
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