Andere über uns
|
Impressum |
Mediadaten
|
Anzeige |
|||
Home Termine Literatur Blutige Ernte Sachbuch Quellen Politik Geschichte Philosophie Zeitkritik Bilderbuch Comics Filme Preisrätsel Das Beste | ||||
|
Über Malte Herwigs Peter
Handke-Biographie »Meister der Dämmerung« Diese Charakterisierung des gealterten, auf sein Leben leicht resignativ zurückschauenden Schriftstellers Krapp aus Becketts "Das letzte Band" verwendet Malte Herwig auf Peter Handke, der Krapps Jugendliebe in Bis daß der Tag euch scheidet oder Eine Frage des Lichts eine Stimme gegeben hatte. "Mein Platz", so die Frau im Handke-Stück, "war ausschließlich in deinen Sätzen." Herwig wird dies von und über Libgart Schwarz, Marie Colbin und Sophie Semin immer wieder hören. Drei Frauen, die in Handkes Leben eine wichtige, eine zentrale Rolle gespielt haben und die Herwig für diese Biographie befragt hat (die vierte, Jeanne Moreau, hatte den Biographen versetzt, die fünfte, Katja Flint, wird nur einmal erwähnt). Die Erfahrungen der Frauen mit ihm, Peter Handke, bündelt der Dichter in einen fast elegischen Monolog, so Herwigs Deutung. Peter Hamms Film von 2002 über Peter Handke heißt "Der schwermütige Spieler". Malte Herwigs Biographie "Meister der Dämmerung". Vielleicht wäre die im Buch einmal vorkommende Bezeichnung des ewigen Abenteurer[s] noch treffender gewesen. Etiketten - etwas, was Handke hasst. Zuschreibungen, die ein Phänomen fassen sollen. Und sie sind ja nicht falsch; vielleicht etwas verkürzend und vielleicht auch ein bisschen zwanghaft originell. Gleichzeitig lassen sie Raum für Interpretationen. Das Coverfoto auf Malte Herwigs Buch lässt eher an einen "Meister der Finsternis" denken, so erscheint der hagere Handke mit einem ernsten, entschlossenen Blick. Das Bild ist leicht grünstichig und wenn man es nicht besser wüsste könnte man denken, die Aufnahme sei mit einem Nachtsichtgerät gemacht worden. Wer ein Nachtsichtgerät verwendet, möchte etwas ansonsten verborgen Bleibendes erkennen. Ist das Malte Herwigs Bestreben? Im Vorwort wird Peter Handke zitiert, der seine eigene Biographie - sollte er sie je schreiben - den Titel "Betrachtungen meiner Irrtümer" geben würde. Herwig glaubt, dass dies keine Koketterie sei, sondern der Wunsch nach Selbsterkenntnis. Damit sind die Pflöcke für dieses Buch eingeschlagen: Der Autor denkt gar nicht daran Dichter und Person Handke bloßzustellen und/oder eine Enthüllungsbiographie abzuliefern (auch wenn die Veröffentlichung des Karadžić-Kapitels als Vorabdruck in der F.A.Z. zunächst das Gegenteil annehmen lässt). Er will verstehen. Und taucht dafür ein in den Handke-Kosmos. Gleichzeitig darf er nicht in diesem Kosmos versinken. Es bedarf Nähe und Distanz gleichzeitig. Herwig will Höhen und Tiefen des Menschen Peter Handke zeigen und den Verwandlungen nachspüren. Dies ist unmöglich, ohne das Werk mit größter Genauigkeit zu lesen. So wird denn Handkes Diktum, man finde alles in seinen Büchern, ernstgenommen.
Der erzählende Biograph
Malte Herwig ist ein erzählender Biograph. Zu Beginn erzählt er von Maria Siutz, die sich an einem Frühlingsabend 1942 fein herausgeputzt hat und im Kärntner Ort Griffen das Hotel Tigerwirt betritt. Dort begegnet sie dem deutschen Wehrmachtssoldaten Erich Schönemann, der ihr immer so schöne Komplimente macht. Die Zweiundzwanzigjährige lässt sich mit dem Deutschen, der zu Hause Frau und Kinder hat (was sie aber vermutlich nicht wusste), ein. Sie hofft mit ihm irgendwie dem vorbezeichneten Leben Geburt, Heirat, Schwangerschaft, Dorfleben und Tod zu entrinnen. Aber noch bevor Erich Schönemann sich an die heimatliche Ehefront verabschiedet, stellt Maria fest, daß sie von ihm schwanger ist. Das Kind, ihren Erstgeborenen, wird sie entgegen der Familientradition nicht Gregor sondern Peter nennen. Kurz vor der Geburt am 6. Dezember 1942 hatte Maria Siutz den deutschen Soldaten Bruno Handke geheiratet. Das Kind wird damit nicht unehelich geboren, obwohl Bruno nicht der Vater ist. Der Taufpate, Gregor Siutz, Marias Bruder, der später zum Schutzheiligen für Handke werden wird, ist in Russland, im Krieg für die Deutschen und wird durch die Schwester Ursula vertreten. Herwig erzählt ausführlich von dieser Kindheit auf dem Dorf, in der der Großvater zum Vaterersatz wird. Es ist Krieg, der, wenn auch verspätet, vor der Familie Siutz/Handke nicht Halt macht. In seinem neuesten Stück Immer noch Sturm wird Onkel Gregor, der bekennende Jugoslawe, der "Apfelmensch", der in Schönschrift ein Buch zur Obstzucht verfasst hatte, zum Widerstandskämpfer. In Wirklichkeit verliert die Familie binnen kurzer Zeit 1943 zwei ihrer drei Söhne, darunter auch Gregor (Georg, der dritte Sohn, wird es nach dem Krieg als Unternehmer zu bescheidenem Wohlstand bringen). Handkes Großvater ist durch "den Tod der Söhne…erledigt". Herwig zitiert einen Brief des jungen Handke an seine Mutter aus dem Jahr 1961, in dem er ihn liebevoll und gleichzeitig hart analysiert: "Ein Mensch, groß in seiner Einfalt, groß in seiner Stärke, groß in seiner Schwäche, mit den natürlichen, ursprünglichen Regungen eines Bauern, der nichts gelten lässt, es sei denn Frömmigkeit, körperlicher Schmerz und Mühsal". Und wie "alle ursprünglichen Menschen" habe dieser "uns voraus, daß ihre Empfindungen, Wahrnehmungen und Gefühle großräumiger und komplexer sind als die unsrigen und deshalb umfassender." ("Uns": die Mutter und ihr Lieblingskind verbünden sich gegen die dörfliche Welt.) Handke ist das, was man früher ein "Kriegskind" nannte. Dies hat Spuren bei ihm hinterlassen. 1944 bricht Maria mit ihrem Peter nach Berlin zu Bruno auf, kehrt aber bald wieder zurück. Nach dem Krieg 1945 fährt sie erneut nach Berlin und lebt dort bis 1948 bei und mit Bruno. 1947 und 1949 werden Monika und Hans geboren; Handkes Stiefgeschwister (ein Nachzügler folgt 1957, Robert). Die Rückkehr Marias 1948 mit ihrem Mann und den beiden Kindern von Ostberlin nach Österreich über zwei Grenzen hinweg wird der Sohn später in einem Schulaufsatz als eine Art Flucht aus Ägypten schildern. Die Ankunft in Griffen/Altenmarkt gelingt mit List und Tücke; die Familie lebt im Haus des Großvaters. Bruno ist Saison- und Gelegenheitsarbeiter, bezieht nur unregelmäßig Einkünfte. Es gibt Konflikte mit seiner Frau und ihrer Familie; Marias Vater lebt ein fast asketisches Leben für die Landwirtschaft, raucht und trinkt nicht, ist sparsam, der Schwiegersohn lässt sich gehen (ein entsprechendes Foto ist abgedruckt), er ist höchstens geduldet. Peter, der zu Beginn stark berlinert und in dem slowenisch sprechenden Umfeld als Fremdling gilt, geht aufs Gymnasium und ist ein sehr guter Schüler. Mit elf Jahren wechselt er auf das Priesterinternat Tanzenberg. Obwohl er diesen Wechsel selber betrieben hatte, ist er unglücklich. Der Tagesablauf ist hart, Handke ist ein Einzelgänger, findet schwer Anschluss. Er liest lieber, statt sich auf Mitschüler einzulassen. Die slowenischen Mitschüler grenzen ihn aus, weil er deren Sprache durch den langen Berlin-Aufenthalt verloren hatte und von zu Hause nur deutsch kennt. Dennoch ist er auch hier ein sehr guter Schüler. 1959 verlässt er Tanzenberg. Herwig zeigt, dass dies keinesfalls ein Rauswurf wegen nebulöser oder gar verbotener Lektüre war. Handke habe sich da später eine Rebellenvita zusammengeschustert (nicht nur in diesem Punkt). In Wirklichkeit sei er vor dem Druck der Internatsleitung geflohen, die ihrem Musterschüler nahelegte, Priester zu werden. Er ging auf ein Klagenfurter Bundesgymnasium und bestand 1961 die Maturaprüfung.
Hin- und hergerissen
zwischen Alleinsein und Gemeinsamkeit Bereits in Tanzenberg zeigen sich typische Wesenszüge Peter Handkes. Schon früh ist dem Jungen klar, was er will. Er ist etwas Besonderes. Nichts und niemand darf sich ihm in den Weg stellen. Wenn der junge Handke gedankenverloren durch Dörfer und über Felder wandert, wirkt er abweisend auf seine Mitmenschen. Da er jähzornig werden kann, wagt es kaum einer, ihn anzusprechen und aus seinen Tagträumen zu reißen. Dabei sind da doch diese zwei Seelen, die in seiner Brust streiten: Er möchte nicht allein sein, spürt in sich den Wunsch nach Gemeinsamkeit, Freundschaft, Verständnis und gleichzeitig das Verlangen nach Einsamkeit. Das Hin- und Hergerissen-Sein zwischen diesen beiden Trieben - ein innerer Widerspruch, der ihn nie wieder verlassen wird, und bis heute auch die besten Freunde auf eine harte Probe stellt, wenn er zuweilen auf Kleinigkeiten rekurrierend zu verbalen Vernichtungen (auch in der Öffentlichkeit) ausholt wie im letzten Kapitel geschildert wird. Tanzenberg habe ihn "vernichtet", schreibt Handke ein bisschen bernhardesk in Gestern unterwegs. Was er bei dieser Gelegenheit nicht erwähnt ist, dass sich der Lehrer Reinhard Musar damals um ihn kümmerte und förderte, ihm gelegentlich Geld zusteckte und ihn im Unterricht gezielt gut aussehen liess. Schließlich macht aber auch der gutmeinende Lehrer mit Handkes Stolz und Eigensinn Bekanntschaft. Als Musar ihm durch eine Frage wieder einmal Gelegenheit geben will, vor der Klasse zu glänzen, zeigt der nach vier Internatsjahren des ständigen Lobes überdrüssig gewordene seinem Lieblingslehrer die kalte Schulter. Herwig glaubt, die Gründe gefunden zu haben: Lieber will der junge Handke wieder so allein sein wie die sechzehn Jahre zuvor, als zuzulassen, daß sich ein anderer ein Bild von seinem Innersten macht. Hier ist sie wieder, diese Ambivalenz zwischen Abgrenzung und Öffnung, die sich auch in der Schriftstellerexistenz zeigen wird: einerseits wird er in seinen Büchern sein Inneres nach Außen kehren - andererseits will er niemanden an sich heranlassen. Es ist aber auch Handkes Abscheu vor Kumpanei, Seilschaften und jeglicher Art von Vetternwirtschaft. Jahrzehnte später, so Herwig, schwelgte Handke noch in der Demütigung, die er seinem Mentor damals angetan hatte. Im 1986 erschienenen Buch "Die Wiederholung" trifft der Ich-Erzähler Filip Kobal seinen "Geschichte- und Geographielehrer", der "allein mit seiner Mutter" lebte, die "immer wieder durch die geschlossene Tür sich nach dem Wohlergehen und den Wünschen des Sohnes erkundigte." Er steckt seinem Schüler einen Geldschein zu, den dieser widerwillig annimmt. Später dann die Szene, als der Lehrer ihn vor der Klasse herausstellen will. Der Schüler aber zieht nur eine "fürchterliche Grimasse", die den "jungen Lehrer…ins Herz traf"; er verließ die Klasse und "kehrte in dieser Stunde nicht mehr zurück". Und obwohl Handke seine Figur reflektieren ließ: "ich war ein Schwindler, ein Heuchler und ein Verräter" – der Lehrer fühlte sich nochmals gedemütigt. Handke redete sich später in einem Brief an Musar auf die Fiktionalität der Figur heraus. Idiosynkrasien auf beiden Seiten. Vatermord… Immer deutlicher reift der Gedanke in Handke, Schriftsteller zu werden. So übernimmt er Musars Ratschlag und studiert Jura, weil man hier noch am meisten nebenbei schreiben kann. Zu Hause rebelliert der angehende Maturant immer stärker gegen den Vater, dem er längst keinen Respekt mehr zollt. Bruno Handke trinkt, verfällt physisch, arbeitet nur gelegentlich und schlägt seine Mutter. Eines Tages überrumpelt der Sohn seine Mutter: Bruno kann nicht sein Vater sein, behauptet er. Und die Mutter "gesteht": Sein leiblicher Vater ist ein anderer. Herwig glaubt den Dokumenten, dass Handke nicht gewusst habe, dass Bruno nur sein Stiefvater war, vielleicht ein bisschen zu sehr. Auch dies könnte eine nachträgliche, kleine Manipulation des Lebenslaufs sein, denn es wird damals Gerede im Dorf gegeben haben. In den 60er Jahren lebten noch viele Zeitzeugen, die Marias Techtelmechtel mit Schönemann mitbekommen haben dürften. Insofern erscheint es nicht abwegig, dass Handke Gerüchte zu Ohr gekommen waren. In langer Recherchearbeit hat Herwig die Schwiegertochter des 1993 verstorbenen Erich Schönemann überredet, nach Briefen von Peter Handke zu suchen. Irgendwann hat er sich zum Kaffee eingeladen und ihm wurde ein Packen Briefe übergeben. Malte Herwig ist stolz auf dieses Produkt der Hartnäckigkeit - und das mit Recht. Er zitiert aus den wunderbaren Briefen ausgiebig. Die Korrespondenz war nicht regelmäßig, aber dauerhaft. Sie begann mit der "Enthüllung" 1961 und endete wenige Wochen vor Schönemanns Tod 1993. Handkes Mutter bereitete Schönemann noch am Tage ihres "Geständnisses" in einem Brief auf Peters Kontaktaufnahme vor. Bruno Handke, der seinen Stiefsohn in dessen Gymnasialzeit immer wieder finanziell unterstützt hatte, war nun vollends "abgemeldet"; der junge Handke ignorierte ihn. Er hatte nun plötzlich zwei Väter: Einen, den er nicht mehr respektierte. Und einen, den er nicht kannte. Obwohl vollkommen unbekannt, öffnet er sich seinem leiblichen Vater fast sofort wie sonst niemandem. Er offenbart in diesen Briefen seine Wünsche und Ideen. Schon hier, zu Beginn der 1960er Jahre, entwirft er sich als ambitionierten Schriftsteller. Schönemann kann mit dem selbstbewussten, aber gleichzeitig noch suchenden jungen Mann wenig anfangen. Den ersten Brief der ehemaligen Geliebten beantwortet er noch mit der Befürchtung, ob sie jetzt vielleicht finanzielle Zuwendungen wünsche. Als sich Vater und Sohn ein Jahr später kennenlernen, ist Handke danach um "eine weitere Enttäuschung reicher", wie die Mutter schon vorausahnte. Schönemann ist ein Spießer mit Colliehund und "Sandalen an den Füßen", der auf der Reise durch Jugoslawien Angst hat, für einen Homosexuellen gehalten zu werden und ständig betont, sie seien Vater und Sohn. Handke nennt ihn verächtlich eine "Sparkassenexistenz". Er wird dies später zurücknehmen und im Laufe der Zeit normalisiert sich das Verhältnis. Er nennt ihn heute "Arschloch-Vater", und zwar "aus Freundlichkeit". Das ambivalente Vaterverhältnis ist ein Kern von Herwigs Betrachtungen, der in Handke den Meister des zwischen den Zeilen verübten Vatermords sieht. Insbesondere in "Wunschloses Unglück" zeige sich dies manifest (er findet aber auch andere Belege). In der Erzählung von 1972, die den Freitod seiner Mutter erzählt, werde dieser durch den Sohn die Auferstehung zuteil, während der Stiefvater der Lächerlichkeit preisgegeben und schließlich immer und immer wieder gekreuzigt werde. Der Hass auf die Väter wird von Herwig als wichtiger Schaffensimpuls des heranwachsenden Dichters betrachtet. Im Krieg gegen die Väter bekämpft Handke auch seine inneren Dämonen. Wirklich? Natürlich wird auch Kafkas Brief an den Vater geschwenkt, zumal es irgendwann heißt, Handke habe weniger Kafkas Schreiben im Sinn gehabt, als dessen literarische Existenz. Obwohl beide erst durch das Gesetz des Schreibens ihre Reizbarkeit[en]…Panikattacken und Selbstzweifel produktiv werden lassen und ihrem Leben als Schriftsteller somit eine Form geben, ist diese Aussage mindestens kühn, weil Kafkas Büroexistenz von der reinen Schriftstellerexistenz Handkes fundamental differierte. Und gerade wenn zahlreiche Stellen für Handkes immer wieder stattfindenden Vatermord aufgefunden werden – auch dieser selber ist nicht immer eindeutig. Der ebenfalls vielfach vorkommende Vaterverlust (zuletzt in der "Morawischen Nacht") wird nur kursorisch behandelt; Gegenstimmen zu dieser These gar nicht. Heißt es denn nicht schon in den 1981-82 entstehenden "Phantasien der Wiederholung": "Ich hasse Franz Kafka, den ewigen Sohn"? Auch nur Selbsthass? Oder nicht auch ein Emanzipationsversuch von der Vaterfixiertheit?
…und Deutschlandhass Im historischen Denken Handkes zerstörte Deutschland damit das Jugoslawien, welches sich 1945 in einem autarken Akt von der deutschen NS-Besatzung befreit hatte. Mit aller gebotenen Vorsicht zieht er 1991 durchaus eine Parallele zu den Ereignissen vom April 1941. Hierin liegt seine unverhohlen erwachte Deutschfeindlichkeit (die weniger den einzelnen Deutschen als das politische Gebilde Deutschland zum Ziel hat) hauptsächlich begründet, wie sich in der Aussage von 1992 sehr deutlich zeigt: "Berlin und Deutschland...finde ich abstoßend...ein schlimmes Volk...Das ist sicherlich nicht gerecht, aber das ist ein schreckliches Volk." Zwar wurde Berlin erst 1999 offiziell wieder Hauptstadt Deutschlands, die Entscheidung wurde jedoch 1991 getroffen. Die "Bonner Republik", Synonym für ein "kleines Deutschland", war passé. Hierauf bezieht sich die Erwähnung von Berlin (und nicht auf die Kindheitserlebnisse). Handke fügte im Interview mit Jože Horvat allerdings auch hinzu: "Wahrscheinlich habe ich da auch ein bißchen einen Selbsthaß." Im 1994 erschienenen Roman "Mein Jahr in der Niemandsbucht" (jene tausend Seiten Einsamkeit, von Herwig zu Recht als Schlüsselwerk Handkes gesehen und gerade deshalb ein tückisches Terrain für Biographen) befindet sich Deutschland im Jahr 1997 in einem Bürgerkrieg, was im Hintergrund der Erzählung eine Rolle spielt. Den Höhepunkt des Handke-Hasses gab es dann 1999, als Deutschland im Krieg gegen Serbien nicht nur passiv agierte, sondern direkt in die kriegerischen Aktionen eingebunden war und Ziele bombardierte. In der Erzählung Die morawische Nacht, die 2008 erschien und "fast zwei Jahrzehnte" nach dem Ende des Krieges spielt (das müsste dann 2019 sein), erlebt der "Ex-Autor" Deutschland dann wieder anders: "Ein friedlicheres Land als dieses sollte er nicht durchwandert haben, weder vorher noch nachher". Und Deutschland erwacht wieder als Leseland: "Lesen und ein Deutschland, in dem die totgesagten Dinge einen staunen machten, als seien sie nach einem Jahrhundert in einer farben- und formlosen Vorhölle wiederauferstanden." Eine Anspielung auf Hofmannsthals "Briefe eines Zurückgekehrten", dessen Protagonist das verlorene Deutschland durch die Kunst wiederfindet. Ist es wirklich ein Dokument des Vater- oder Stiefvaterhasses, wenn Hans Handkes Frau Rosemarie heute sagt, der Peter habe in "Wunschloses Unglück" übertrieben, was Brunos Prügel und Schreiereien angehe? Immer wieder besteht Handke auf dieser Darstellung. Die Nachricht vom Tod Bruno Handkes im März 1988 erreichte den Stiefsohn auf eine seiner zahlreichen Reisen. In "Gestern unterwegs" erinnert er sich an die Aussprüche Brunos und "seine zum Schlag gegen mich erhobene Hand", setzt dann in Parenthese "er schlug mich aber nie" und hört "dazu sein Schreien, geradezu ein Aufbrüllen." Das klingt allerdings mehr nach Mitleid (freilich im Licht der soeben erhaltenden Todesnachricht). Aber ist Literatur nicht immer ein bisschen Übertreibung, ja "Lüge", wie Handke dies selber früher nannte? Selbst Rosemarie konzediert dies. Und immerhin – und das erwähnt Herwig auch – hatte Handke das Manuskript der Erzählung erst an Bruno geschickt, damit dieser es lese und freigebe, was dann auch ohne Korrekturwünsche geschah.
"Rüstung für die
Unsterblichkeit" Die Zeit der Provokationen folgte sogleich. 1966 ergriff Handke auf der Tagung der "Gruppe 47" in Princeton das Wort, warf der versammelten deutschsprachigen literarischen Elite "Beschreibungsimpotenz" vor und brach mit seiner Grundsatzrede die eisernen Gesetze von Hans-Werner Richter (wie weiland auf kleinerer Ebene im "Forum Stadtpark" in Graz geprobt). Der blasse, "introvertierte Narziß" (Emil Breisach) mit dem Hang zur Polemik, mischte die Szene auf. Er wurde, wie er dies halb scherz-, halb ernsthaft immer wieder als Ziel nannte, "weltberühmt". Da kam die schallende Befreiungskomödie "Publikumsbeschimpfung" genau richtig. Das Potential erkannten Unseld und Regisseur Claus Peymann sofort. Mit Peymann hatte er für lange Zeit seinen kongenialen Regisseur gefunden. Ihre ästhetischen Differenzen wurden durch das beiderseitige Geltungsbedürfnis verdrängt; beide gingen eine Symbiose ein. Handke agiert mit Einfallsreichtum, Witz, Selbstbewusstsein, Strenge, Zorn und einem Faible für Provokationen. Lesungen wurden zu Events. Das Bewußtsein bestimmt das Sein. Dabei ist es bemerkenswert, wenn Herwig feststellt: Handke ist kein Angeber, dazu nimmt er sich viel zu ernst. Er ist omnipräsent, was im etablierten Betrieb nie ohne Kritik bleibt. So kann sein späterer Freund Peter Hamm mit dem jungen Provokateur zunächst nichts anfangen. 1967 heiratet Handke die Schauspielerin Libgart Schwarz. Zwei Jahre später wird die Tochter Amina geboren. Aber schon bald gibt es Risse; Libgart will auf ihre Schauspielerkarriere nicht verzichten, man lebt sich auseinander. Im Seelenmärchen, dem "kurzen Brief zum langen Abschied" (1972), arbeitet Herwig geschickt und überzeugend die autobiographischen Details heraus und liest das Buch als Protokoll einer gescheiterten Ehe. Er schildert, wie von nun an Handke seine Tochter fast alleine erzieht und wertet die "Kindergeschichte" aus (Georg Stefan Trollers kritischen Beitrag von 1975, der Vater und Tochter in einer Art Parallelwelt sah, wird nicht erwähnt). Und er erläutert, wie Handke seine literarische Programmatik in seinen Büchern umsetzt, was wiederum eng mit der Persönlichkeit Handkes verknüpft ist.
Anschauung und Dasein Herwig findet immer wieder Zeugnisse für die Kongruenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Literatur und Leben. Das Schreiben ist für Handke eine Lebensversicherung: ein Sich-des Lebens-Versichern ebenso wie ein Schutz vor der ihn bedrängenden Welt. Wo Heidegger die tradierte Sicht der Wirklichkeit destruieren und das Sein aus den Trümmern der Seinsvergessenheit neu bergen wollte, sucht Handke die "Sprachvergessenheit" der Welt zu bannen. In einem Radiobeitrag aus dem Jahr 1965 ist schon das Programm formuliert welches Handke in Zukunft mit radikaler Konsequenz verfolgen wird: Durch genaues Beobachten gewinnt er der Welt neue Eindrücke ab und faßt sie in eine Sprache, die nicht abgegriffen und matt ist, sondern lebendig und wach. Emphatisch fügt Herwig hinzu: Wem in dieser turbulenten Welt Hören und Sehen vergehen, der kann sich von Handkes Büchern die Augen und Ohren wieder öffnen lassen. Allerdings ist der ansonsten so genaue Biograph in der Verwendung des Wortes "beobachten" unpräzise. Diese Vokabel hat Handke immer wieder abgelehnt. Es geht ihm – in Anlehnung an keinen geringeren als Goethe - um die "Anschauung", wie er Peter Hamm 2002 explizit erläuterte: "Nicht ausspähen, nicht belauern, nicht betrachten, schon gar nicht beobachten, sondern…anschauen…Das ist was Herrliches. […] Du musst einmal anfangen mit der Anschauung, und aus der Anschauung ergibt sich das Denken, die Reflexion, das Zusammendenken." Er will, wie er Herwig sagte, "immer finden, etwas finden, was niemand gefunden hat".
Interpretationskreislauf Der Motor des Erzählens ist das Vergewissern der Kindheit. In seinem Werk erwachen frühste Erlebnisse und Empfindungen immer wieder mit einer eigenartigen Intensität zu neuem Leben…Handke begibt sich auf die Suche nach der verlorenen Kindheit, weil aus ihr der Strom der Erzählung fließt. Für Herwig steht fest: Nur in der Biographie des schreibenden Ich haben alle Handke-Texte einen gemeinsamen Kern. Über die produktive Selbsterschütterung des wieder-erzählenden Lebens findet der Autor in die Welt. Das Verhältnis von Leben und Werk bei Peter Handke: erotischer Realismus – die Kunst begehrt das Leben. Fast zwangsläufig findet Herwig Handkes Prosa literarisch, aber nicht eigentlich fiktional, weil in ihr immer Partikel des Gewesenen hervorlugen. Und seien diese auch noch so verfremdet. Hier werden sehr schöne Details herausgefunden, was den Autor als ausgezeichneten Kenner des Werkes ausweist. Aber vielleicht ist es eine leichte Déformation professionelle des Biographen, wenn dieser überall Realitätselemente entdeckt. Das wirkt bisweilen leicht überanstrengt, etwa wenn erläutert wird wie Wesenszüge von realen Personen auf mehrere fiktionale Protagonisten verteilt sind (wenngleich die Formulierung des großen Puppenspielers nett ist). Eine Aussage, die letztlich wenig aussagefähig ist, aber einen hübschen Interpretationskreislauf freilegt: Handke, der Archäologe des eigenen Ich, der sich erzählend am eigenen Schopf aus dem Sumpf herauszieht und dies fiktionalisiert - und Malte Herwig dann wieder als Handkes Archäologe, der die Fiktionalisierungen hervorholt. Und zuweilen bekommt man den Eindruck, das Werk Handkes sei eine Art Katalysator seines Lebens. Als habe sich das Werk des Lebens bemächtigt und Handke führe kein Leben mehr, sondern lebe sein Werk fort.
Jugoslawien nur als
Episode Dies erfährt der Leser in einem Exkurs im Kapitel "Jugoslawien". Und die Biographie ist schon auf Seite 245 angekommen (sie endet auf Seite 318; dann folgen noch Dank, eine Zeittafel, die Endnoten und eine bibliografische Auswahl). Kann es sein, dass Herwig dieses so elementar wichtige Kapitel nicht nur im Leben, sondern auch im Werk Peter Handkes nur auf rund 40 Seiten behandelt? Zumal im bereits angesprochenen letzten Kapitel ("Sturm") neben Handkes Ausrastern die Ahnengalerie wieder heraufbeschworen wird. Herwig beginnt das Jugoslawien-Kapitel mit dem Besuch Handkes auf Miloševićs Beerdigung (die "Reden" - es waren zwei - werden zitiert). Richtigerweise merkt er an, dass Handke damals am Ende war – allerdings aus einem anderen Grund, als man gemeinhin glaubt: Es ging ihm nicht primär um die Trauer für die Person Milošević. Für Handke wurde Jugoslawien, sein Arkadien, endgültig zu Grabe getragen. Milošević war nur eine Metapher für den Endpunkt eines Prozesses, der sich seit dem "Sommerlichen Nachtrag" 1996 langsam entwickelte, als Serbien für Handke als "Ersatzland" für das vom Westen mutwillig zerschlagene Jugoslawien untauglich zu werden begann. Die Motivation, zum Begräbnis zu gehen, entsprang der Sprachsensibilität Handkes. Dies erklärt Herwig genau, ohne dass man mit der Handlung des Schriftstellers einverstanden sein muss. Dennoch bleibt der Eindruck, Handkes Entscheidung sei eine Art Affekt gewesen. Dies, weil der Biograph die Entwicklung und vor allem die Motivationen Handkes für dessen Jugoslawien-"Engagement" nicht ausreichend entwickelt. Einem Engagement, welches 1991 als noch vergleichsweise zaghafter Widerspruch zur Autonomie vor allem von Slowenien und Kroatien begann und dann in drei Erregungswellen (1996, 1999 und 2006) die Feuilletons erschüttern sollte. Kein Wort von Herwig zum sprachkritischen Impetus Handkes, der fast drei Jahrzehnte vorher schon in "Die Tautologien der Justiz" die Voreingenommenheit in der öffentlichen Sprache luzide sezierte. Man erfährt wenig über die Hinwendung Handkes zu der Zeit, als "Tito schon am Verwesen" war (wie er dies in einem Interview 1996 bezeichnete). Kein Wort zu dieser Verwandlung irgendwann um 1985 herum, als Novas Ratschlag "über die Dörfer" zu gehen nicht mehr nur einem virtuell-fiktionalen Raum galt, sondern in Jugoslawien "ortsfest" wurde wie weiland Algerien für Camus. Die dann entstehende Schaffensperiode bis 1990 war nicht nur äußerst fruchtbar, sondern brachte viele herausragende Werke Handkes hervor. Und schließlich auch kaum etwas über die geschichtshistorischen Beweggründe Handkes, die südslawischen Partisanen als autarke Widerstandsbewegung gegen den Nationalsozialismus zu rühmen. Herwig beendet das Jugoslawien-Kapitel mit der Schilderung von Handkes Reise zum Führer der bosnischen Serben Radovan Karadžić am 20.12.1996. Dieses Detail ist fast neu und wurde nur im Sommer 2008 von <a href="http://volltext.net/magazin/magazindetail/article/4492/">Norbert Gstrein in einem Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler Gunther Nickel</a> als eine Art Gerücht kolportiert. Zunächst tauschen die beiden Bücher aus. Dann übergibt Handke eine Liste von vermissten bosnischen Muslimen, die er von Freunden bekommen hatte. Schließlich beginnt er, der sich sehr gut informiert zeigt, den Serbenführer zu befragen. Dieser ist verblüfft darüber, wie hartnäckig Handke ihn ausholt weiß Herwig von Karadžić: "Er befragte mich über den Krieg, die Ereignisse vom Vorjahr in Srebrenica, die Hintergründe des Konflikts und die Leiden der bosnischen Bevölkerungsgruppen." Monate später verschwand Karadžić für mehr als zehn Jahre in den Untergrund. Was mit den vermißten Verwandten seiner Salzburger Freunde geschehen ist, hat Handke niemals erfahren.
Das Vermächtnis Im letzten Kapitel wird das Standgericht des Dichters, sein Jähzorn, thematisiert, bevor in einer ergreifenden Retoure der Kreis zum Ahn Gregor geschlossen wird. Wie Heidegger, der sich gelegentlich zur Entspannung auf den Todtnauberger Höhen "den Sturm um die Ohren pfeifen" ließ, begibt sich Handke für sein Partisanendrama auf das Jaunfeld und beschwört seine Ahnen (und sein, d. h. Gregors Jugoslawien). Im Herrgottswinkel seines Schreibzimmers ist das handgeschriebene Obstbaulehrbuch des Onkels angebracht; in der Truhe des Großvaters ruhen die Insignien der Familie. In einem Brief aus dem russischen Feld schreibt Gregor seiner Schwester "Mitzi" (Maria), dass er nicht "Pate spielen" kann. Der Brief endet mit dem Vermächtnis: "So macht alles gut in meinem Namen". Sein Biograph weiß: Zeitlebens hat sich Peter Handke an diesen Auftrag gehalten. Vielleicht wurde er auch getrieben, sich daran zu halten; das Vermächtnis wurde Verpflichtung. Gegen alle Gesetze der Welt beschwört er das Recht und die Macht der Erzählung. Und obwohl er seine Menschenscheu nie ganz verlieren wird, findet er im Schriftstellersein eine Rolle, die es ihm ermöglicht, eine Balance zu finden zwischen Einsamkeit und Geselligkeit, Fanatismus und Gelassenheit, Kunst und Leben. Eine, wie man nach der Lektüre ahnt, zuweilen schwierige Balance. Denn der größte Feind Handkes bleibt Handke selber. Es gibt wunderbare Pretiosen in diesem Buch. Beispielsweise Luc Bondys Aussage der altlinke Theateranarcho (Herwig) Claus Peymann könne "Handke-Stücke nicht inszenieren, weil er nicht in die Tiefe gehen kann" (wie wahr!). Oder wie Handke beim Abendessen aktuelle deutschsprachige Literatur einschätzt. Man erfährt auch ein wenig Klatsch, etwa wie André Heller die Frau ausgespannt wurde (Marie Colbin), bekommt einen Einblick in die Weltgewandtheit Handkes beim Tischbestellen und auf seine Geschäftstüchtigkeit. Und sogar die erste Freundin, eine Kroatin mit dem Namen Jasna, hat der Biograph auf einem Bild aus den 60er Jahren entdeckt. Malte Herwig ist ein durchaus filigraner Chronist, der sich um größtmögliche Objektivität bemüht und auch für Handke unangenehme Erkenntnisse nicht verschweigt. Abgesehen von einigen mephistophelischen Apostrophierungen (auch diese vermutlich aus Gründen der Selbstdistanzierung) ist es wohltuend, wie er jeglichen Sensationalismus meidet und ein temporeich, erfrischend unkonventionell erzähltes und hervorragend recherchiertes Buch vorlegt. Küchenpsychologie wird gemieden. Herwig zeigt, dass literaturwissenschaftliche Erkenntnisse nicht unbedingt in dünkelhaftem Germanistenjargon vermittelt werden müssen. Dass er Handke für einen herausragenden Autor hält, trübt seinen Blick nicht. Diese Biographie ist ein sehr beachtliches Angebot. Nicht zuletzt auch ein Angebot endlich(!) wieder(?) zum Handke-Leser zu werden.
Die kursiv gesetzten
Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch. |
|
||
|
||||