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Die poetische Würde des Menschen
Über
Gert Neumann
und die Odyssee seines Buches »Elf Uhr«
Von Herbert Debes
»Das Schwierige am Sprechen ist die Liebe, und es ist wertvoller, durch
die geschlossenen Finger der vor die Augen gehaltenen Hand zu sehen, als
den Deutungen, die in den Erscheinungen leben, zu verfallen: damit sich
so der Kreis der Verachtung in der Tötung des Subjekts, auf das die
Dinge und die Menschen hoffen, nicht schließen kann.« (Aus: Übungen jenseits der Möglichkeit,
Koren & Debes, Frankfurt 1991)
Das
Pragma des global herrschenden Positivismus zertickt die Lebenswelten
seiner »human resources« in Inszenierungen des Konsums und der Gewalt.
Die Sprachen der Ereignisse diktieren einen hochmütigen Text, der all
jene Menschen verachtet, die den vorgegebenen Deutungen der durch ihn
zum Gesetz erklärten Wirklichkeit nicht verfallen sind.
Wie viele DDR-Bürger hat Gert Neumann die Verachtung des Menschen im
Sozialismus bis zum Kollaps des realexistierenden Systems erlebt. Sehr
genau hat er die Wort-, Bild-, und Gebärdensprache der Repräsentanten
des Apparates studiert und in einem poetischen Purifikationsprozeß die
Lügenkonstrukionen herrschenden Sprechens decouvriert. Seine Texte
verteidigen die poetische Würde des Lebens, die von der herrschenden
Gegenwartsgrammatik nicht repräsentiert werden kann, weil sie die
Kenntnis dieser Würde verweigern muß, um überhaupt existieren zu können.
Nach dem Ende der DDR und ihrer Literatur, (die für einige Westkritiker
nur durch das Elend des Ostens überhaupt habe entstehen können!),
verloren viele dort entstandenen Texte ihr Gültigkeit, oder wurden durch
biographische Erkenntnisse über ihre Autoren in ihrer Bedeutung
relativiert. Gert Neumanns Texte haben ihre Gültigkeit auch in der
nunmehr konkurrenzlos herrschenden Demokratie des globalen Kapitalismus
behalten. Mehr als das: Sie legen nun, vom Eis der Ostliteratur befreit,
jene grenzenlose existentielle Wunde offen, die schon in Franz Kafkas
Brust brannte.
Leben und Sterben des Buches »Elf Uhr«
Martin Walser schreibt in seinem Vorwort »Elf
Uhr, ein Handbuch der Poesie« zur 1999 bei DuMont erschienenen Ausgabe:
»Elf Uhr ist bis heute das bisher unentdeckteste Buch der
Gegenwartsliteratur geblieben. Ein Schicksal, das das Buch mit seinem
Autor teilt. Erstaunlich ist für mich seit 1990 geblieben, daß alle
möglichen Literaten-Calamitäten der DDR-Zeit herumgereicht wurden, aber
nirgends begegnete ich dem Betriebsschlosser und Schriftsteller Gert
Neumann, der dieses fabelhafte und durch Genauigkeit wahrhaft schöne
Buch Elf Uhr geschrieben hat.«
»Immer um elf Uhr
eines Arbeitstages, von Februar 1977 bis Februar 1978, vertraute Gert
Neumann, der damals als Schlosser in Leipzigs größtem Kaufhaus -
konsument - arbeitete, seinem Notizbuch tagebuchartige Aufzeichnungen
an: er beobachtete und hielt beharrlich fest, was um ihn herum und in
ihm vorging, was er von anderen zu hören bekam. Der sozialistische
Einkaufstempel wurde zu einem Querschnitt durch die DDR-Gesellschaft.
Für Gert Neumann eine trostlose und gespenstische Realität, deren
Verhängnis die erhoffte Würde des Lebens zu verdecken schien. Er nahm
die Staatssprache der DDR in seinem ungeheuer rigorosen Traktat beim
Wort und führte mit ihr einen Kampf, um schreibend einen Sinn zu retten,
den die Diktatur mit ihrem Wahrheitsanspruch zu verhindern suchte oder
verloren hatte.
Heute darf man sagen: Gert Neumann hat diese Auseinandersetzung
gewonnen. Und im Rückblick ist Elf Uhr auch zum Abenteuer- und
Expeditionsbuch durch einen untergegangenen Staat geworden.«
»Elf
Uhr« erschien zuerst 1981 im S. Fischer Verlag. Nicht in der
Collection Fischer, sondern im Hauptprogramm als sehr schön und dem
Thema angemessen gestaltetes Hardcover, was zweifellos ein Verdienst des
damaligen Lektors Thomas Beckermann war, der die literarische und
philosophische Bedeutung des Autors erkannt, und bereits 1979 Neumanns
Textsammlung »Die Schuld der Worte« in der Collection herausgegeben
hatte. An ihm lag es nicht, daß bis 1986 kaum tausend Exemplare verkauft
werden konnten, und man fragt sich, was die meinungsführenden deutschen
Literaturkritiker damals gelesen haben. Als Indiz für ihre zumindest
mangelnde Sorgfalt mag die Tatsache gelten, daß Gert Neumanns Buch »Die
Klandestinität der Kesselreiniger« in der Rezension einer führenden
deutschen Wochenzeitung zur »Klandestinität der Kesselflicker«
verunstaltet wurde.
Nach der Wende »erlaubte« der S. Fischer Verlag, daß »Elf Uhr« 1990 im
Rostocker Hinstorff Verlag erscheinen durfte. Der hat sich in den Zeiten
des Umbruchs und der wirtschaftlichen Reorganisation davon wohl eine Art
Ehrenrettung versprochen. Anscheinend mußte der gesamte Text für die
broschierte Ausgabe neu gesetzt werden. Sie enthält Satzfehler, bei
denen man sich fragen muß, ob da nicht noch Methode dahintersteckte. Der
Osten hatte in jenen Tagen dummerweise gerade seine Begeisterung für
Heimwerkerbücher entdeckt, die von den Westverlagen dort lastwagenweise
verramscht wurden. In der allgemeinen DM-Euphorie interessierte sich
kaum noch einer für die Schilderung eines Elends, dem man gerade
entronnen zu sein glaubte.
1999
schließlich erschien »Elf Uhr« bei DuMont zum dritten Mal in einer
schönen und aufwendig gestalteten Hardcoverausgabe zeitgleich (!) mit
Gert Neumanns bislang letztem Roman »Anschlag«. Vielleicht wollte man
dem Start als Literaturverlag inhaltlich Gewicht verleihen und
wahrscheinlich auf das Drängen von Martin Walser, der Gert Neumann als
Autor sehr schätzt; unter Marketinggesichtspunkten war dies keine
glückliche Entscheidung. Überdies sei die Frage erlaubt, warum ein Autor
von der literarischen Bedeutung, die ihm allenthalben zugesprochen wird,
nicht längst bei Suhrkamp erschienen war, als der kaufmännische Leiter
Honnefelder und Lektor Döring dort noch in Brot und Würden standen.
Gert Neumann
Anschlag
»Du
meine Güte, so begann ich zu ahnen, was für herrlich verschieden
unbetretenes Land im deutschen Gespräch das Gewesene offensichtlich
ist.«
»Die Erfahrung der Wiederbegegnung der Deutschen nach dem Verlust des
Realsozialismus ist eine so spannend verschwiegene Geschichte, daß ich
große Lust bekam, diese Geschichte durch Schreiben irgendwie
aufzuspüren.«
Gert Neumann
Für Gert Neumann
ist nach dem Ende der DDR die Zeit gekommen, sich vom Eindruck
erlittener Demütigungen zu befreien. Dieser radikale Schriftsteller
fragt: Wer sind wir eigentlich?
Zu wahrer Verständigung verhilft ihm, was er Gedächtniskunst nennt, »die
sich für die Bergung der unendlichen Bemühungen des Menschen im
Gewesenen verantwortlich fühlt.« Den Unterlassungen der Erinnerung gilt
sein Anschlag. Gert Neumann möchte hinter die Erscheinungen kommen, die
die Diktatur zur Bestimmung der Lesart der Dinge hinterlassen hat. Sein
Anschlag markiert den Beginn dieser Auseinandersetzung. Er sucht nach
einem Zwiegespräch, das noch nicht stattgefunden hat; und er erzählt von
einem Spaziergang und einer Begegnung auf dem Weg zum berühmten Kloster Chorin. In der Sprache, die das Gespräch möglich macht, will Gert
Neumann die Wahrheit über den vergangenen Staat herausfinden, der sich
für sein Schicksal verantwortlich glaubte. Gert Neumann erzählt von der
Suche seines Herauskommens aus dem Erzählen vom Osten, vor dem sich der
Westen bloß stumm zu fürchten scheint.
Siehe auch die sehr hilfreiche Rezension von:
Michael Braun -
Die Schuld der Worte und die Reinheit des
Schweigens
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Gert Neumann
Elf Uhr
DuMont - 400 S. -
Erscheinungsjahr: 1999
Euro 19,80
ISBN 3770145585
Gert Neumann
Übungen jenseits der Möglichkeit
Briefe-Essays-Gedichte
Koren & Debes 1991
Gert Neumann
Anschlag
200 S. - DuMont
Euro 19,80
ISBN 3770148223
Originaltext als pdf:
Übungen jenseits der Möglichkeit
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