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Hundertvierzehn | Extra
»Hätte ich diesen Roman in Armenien geschrieben, wäre es ein anderes Buch geworden«

Kommende Woche erscheint Katerina Poladjans Roman »Hier sind Löwen«. Wir haben mit ihr über russische Gespenster, die Untersuchung von Grenzen, und Armenien gesprochen. Und darüber, wie man die Angst auf Distanz hält.

 
Katerina Poladjan

Katerina Poladjan wurde in Moskau geboren, wuchs in Rom und Wien auf und lebt in Deutschland. Sie schreibt Theatertexte und Essays, auf ihr Prosadebüt »In einer Nacht, woanders« folgte »Vielleicht Marseille« und gemeinsam mit Henning Fritsch schrieb sie den literarischen Reisebericht »Hinter Sibirien«. Sie war für den Alfred-Döblin-Preis nominiert wie auch für den European Prize of Literature und nahm 2015 bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt teil. Für »Hier sind Löwen« erhielt sie Stipendien des Deutschen Literaturfonds, des Berliner Senats und von der Kulturakademie Tarabya in Istanbul. 

Jetzt im Juni erscheint Dein Roman »Hier sind Löwen«. Er erzählt die Geschichte einer deutschen Restauratorin, die für einige Zeit in Armenien an einem alten Buch arbeitet. Auf einer zweiten Ebene nimmt uns der Roman mit auf die Flucht zweier Kinder vor den Massakern an Armeniern im Osmanischen Reich vor gut hundert Jahren. Geschrieben hast Du den Roman zu großen Teilen in der Türkei. Wie passt das alles zusammen?

Ich war in Jerewan und konnte im dortigen Archiv für alte Handschriften die Restaurierungsarbeit an alten Büchern kennenlernen. Die Fluchtgeschichte der Geschwister Anahid und Hrant wiederum spielt an der türkischen Schwarzmeerküste – auch dort bin ich hingefahren. Wenn die Restauratorin Helen an der alten Bibel arbeitet, restauriert sie nicht nur den Gegenstand, sondern sie legt historische Schichten frei und arbeitet sie heraus. Sie belebt den Gegenstand neu und macht die Geschichte des Buches lesbar.  Jede Hand, durch die das Buch gegangen ist, hat auch die Geschichte des Buches fortgeschrieben – Helen findet diese Geschichte in den Fettflecken auf dem Papier, der Spucke, die zum Umblättern verwendet wurde oder bei den Kritzeleien, die sie an einigen Stellen am Seitenrand findet.

Der Roman thematisiert den Völkermord an den Armeniern. Wie war es für Dich in der Türkei, wo das Leugnen dieses Genozids bis heute Staatsräson ist?

Beim Schreiben geht es mir um die Untersuchung von Grenzen. In diesem Fall war es wertvoll, Ländergrenzen zu überschreiten, um Perspektiven zu überprüfen und zu verändern. Aber auch die Befragung der Grenzen der Realität gehört für mich dazu. Alles Erinnerte ist ganz selbstverständlich Teil unseres Lebens, es macht uns als Menschen sogar aus. Aber jede Erinnerung ist eine Konstruktion unseres Gehirns, es erzählt uns unsere eigene Geschichte.

Acht Monate habe ich in der Türkei gelebt und geschrieben. Ich hatte ein Aufenthaltsstipendium an der Kulturakademie Tarabya in Istanbul. Ich saß in der historischen Sommerresidenz des deutschen Botschafters in einem strahlend weißen Sommerhaus, ich saß dort und schrieb und blickte auf den Bosporus und wusste, dass während des Ersten Weltkriegs ein deutscher Diplomat an gleicher Stelle saß und von den Verbrechen an den Armeniern nach Berlin berichtete.

Ich betrachte meine Arbeit als eine sprachliche Auseinandersetzung mit der Möglichkeit, mit dem Erleben und mit den Trugbildern menschlicher Erinnerung. Verleugnung und Verdrängung produzieren auch solche Trugbilder. Es war wichtig, mich direkt mit diesen Verzerrungen auseinanderzusetzen, denn ich fürchte, Trugbilder werden zunehmend gesellschaftliche Realität – nicht nur in der Türkei. Wenn ich mit türkischen Freunden über den Roman sprach, wurde ich gefragt, »warum lässt du die Toten nicht schlafen?«. Äußerlich habe ich versucht, mich aus dem Konflikt zwischen dem Ringen um Anerkennung erlittenen Leids auf armenischer Seite und der hartnäckigen Leugnung auf türkischer Seite herauszuhalten. Aber die unmittelbare Erfahrung der jeweils anderen Perspektive war sehr wichtig.

Auch in der Türkei hast Du Recherchereisen unternommen.

Ich bin nach Ordu an der Schwarzmeerküste gefahren. Auf die Frage, wie viele Armenier dort noch lebten, erhielt ich »Drei« zur Antwort. Vor dem Ersten Weltkrieg seien es zwanzigtausend gewesen. Auf meine Frage nach einem historischen Melderegister habe ich eine Handvoll Haselnüsse bekommen. Als Zeichen der Endgültigkeit vielleicht. Als ich nach Kars kam, an den Ort ganz im Osten der Türkei, wo meine Großmutter einst lebte, begegnete ich dort auch russischen Gespenstern. »Ein Puschkin-Haus mitten in der Türkei«, schrieb ich meiner Mutter. Und meine Mutter antwortete: »Dass du nicht müde wirst!«. Ich kehrte zurück nach Tarabya. Der Ort hieß – so kann man es auf der Website des deutschen Generalkonsulats nachlesen – ursprünglich Phamakias, nach Pharmakeia – altgriechisch für Gift. Niemand habe an einem Ort mit einem solchen Namen wohnen wollen, daher wurde er umbenannt in Therapia – Genesung.

Wie war es in Armenien?

Ich trage meinen armenischen Familiennamen wie einen alten Hut, den ich – wie meine Protagonistin Helen es ausdrückt – auch zum Essen nicht abnehme. Mein Vater ist Armenier, in Moskau geboren, mein Großvater stammte von der Schwarzmeerküste, wo er als Kind die Katastrophe, die die Armenier Ageht nennen, erlebt hat. Es gibt also vage biografische Bezüge zur Geschichte meiner Familie im Text.

Hätte ich diesen Roman in Armenien geschrieben, wo das Trauma allgegenwärtig ist, wäre es ein anderes Buch geworden.  »Du bist Armenierin«, hat man dort zu mir gesagt, »du trägst Verantwortung für unsere Geschichte, wenn du darüber schreibst«. Ich fühlte mich unter enormem Druck. Ich fühlte mich beobachtet.  Wahrscheinlich hätte ich mich in Armenien aufgelöst. Ich brauchte Distanz. Mit der Distanz konnte ich eine Form finden, die mich selbst vor der eigenen Rührung schützte, vor dem Zerfließen.

Es hat lange gedauert, bis ich eine Form gefunden hatte. Wie erzählt man unbeschreibliches menschliches Leid? Wie sagt man das Unsagbare? Das sind sicher keine neuen Fragen in der Literatur. Für mich lag die Antwort im kindlichen, staunenden, nicht wertenden Blick des Mädchens Anahid. Dieser subjektive Blick zeigt nur einen kleinen Ausschnitt des Geschehens und vermittelt vielleicht eine Ahnung von der Dimension. Der Blick ist friedlich und hält die Angst auf Distanz.

Würdest Du den Roman als politisches Buch bezeichnen?

Das sollen andere beurteilen. Ich interessiere mich für Geschichten von Personen, für ihr Inneres, für Schicksale, die sich aneinander reiben, für das Geworfen-Sein des Einzelnen. Mag sein, dass das politisch ist.

 

 

Hier sind Löwen

1915: Die alte Bibel einer armenischen Familie an der Schwarzmeerküste ist das Einzige, was den Geschwistern Anahid und Hrant auf ihrer Flucht bleibt. Hundert Jahre später in Jerewan wird der Restauratorin Helen eine Bibel anvertraut. »Hrant will nicht aufwachen«, hat jemand an den Rand einer Seite gekritzelt. Helen taucht ein in die Rätsel des alten Buches, in das moderne Armenien und in eine Geschichte vom Exil, vom Verlorengehen und vom Schmerz, der Generationen später noch nachhallt. Und sie bricht auf zu einer Reise an die Schwarzmeerküste und zur anderen Seite des Ararat.

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