



Das historische Ereignis ist wenig bekannt. Es gibt keine Fotografien des zusammenbrechenden Turms, nur eine Fotomontage, die Sie auch in ›Grundriss eines Rätsels‹ aufgenommen haben. Wie haben Sie recherchiert?
Da ich in den letzten zehn Jahren häufiger nach Venedig gefahren bin, hatte ich Zeit herum zu bummeln und mich in der Stadt zu verirren. Das Sich-Verirren in einer fremden Stadt ist eine andere Art, sie kennenzulernen. Mehrfach bin ich beim Geschäft eines Buchbinders vorbeigekommen, in dessen Auslage neben den kunstvollen Notiz-, Tage- und Geschäftsbüchern große Schwarzweißfotografien zu sehen waren, die einen einstürzenden Turm zeigten. Bei näherer Betrachtung erkannte ich, dass es der Campanile war. Ich betrat das Geschäft und fragte den Buchbinder, der gerade an einem besonders kleinen Büchlein arbeitete, ob der Campanile tatsächlich eingestürzt sei. Er gab mir nur das Datum des Ereignisses zur Antwort. Hierauf fragte ich ihn, ob er die Fotografien auch als Postkarten auf Lager habe und verkaufe. Er schüttelte den Kopf und sagte, er habe die Bilder, die den gerade einstürzenden Campanile zuerst nur mit Sprüngen, dann mit der sich bildenden Staubwolke und zuletzt den riesigen Schutthaufen auf dem Markusplatz zeigten, nur in die Auslage gehängt, um Kunden in sein Geschäft zu locken. Ich kaufte ein Notizbuch und fing an, nach Fotografien, Postkarten und Büchern über das Ereignis zu suchen, ließ es jedoch aus Erfolglosigkeit bald wieder bleiben. Der einstürzende Campanile ging mir aber nicht mehr aus dem Kopf. Bei meinem Besuch im Jahr 2012 versuchte ich dann ernsthaft Material über den Einsturz zu finden, denn ich wollte das letzte Kapitel meines Romans ›Grundriss eines Rätsels‹ damit in Verbindung bringen.


Es ist die Geschichte eines Wieners, der seinen Bruder in dessen Haus in Venedig besuchen will, aber dieser ist mit seiner Frau offenbar kurz zuvor verschwunden. Je länger er sich in Venedig aufhält, desto mehr wird er in ein Verbrechen verwickelt.

Venedig ist ein Mikrokosmos. Je mehr ich darüber weiß, desto öfter möchte ich hinfahren, und je öfter ich hinfahre, desto mehr Rätsel entdecke ich.

Ein Schriftsteller stirbt bei einer Gasexplosion in Wien, drei tschetschenische Flüchtlinge werden ermordet, eine Apothekerin versucht sich mit ihrem Kind gegen widrige Umstände zu behaupten, ein Schauspieler kehrt an den Ort seiner Kindheit zurück, eine Journalistin reist auf der Flucht vor sich selbst nach Japan, und ein alter Mann ist Augenzeuge, als 1902 in Venedig der Campanile einstürzt.
In Gerhard Roths grandiosem Roman der Täuschungen ist nichts, wie es scheint, und alles möglich: Die Ungewissheit ist das verborgene Abenteuer des Alltags. ›Grundriss eines Rätsels‹ ist selbst ein Rätsel, Spiegel des großen Rätsels unseres Lebens.