Kürzlich erreichte uns der Anruf eines Buchhändlers, Konrad Mönter. Er hatte zum Jahreswechsel 2005/06 als Jahresgabe seines Buch- und Kunstkabinetts den Literarischen Kalender 2006, »Göttinnen«, verschenkt, und eine seiner Kundinnen, die Malerin Marianne Reiners-Maaz, gestaltete den Kalender auf ganz eigene Weise: »Da mir das Buch zu schade war für Termineintragungen, nahm ich mir vor, täglich einen Gedanken, eine Beobachtung oder Empfindung zu notieren. Dabei beschränkte ich mich, den schmalen Spalten entsprechend, zunächst auf ein bis zwei Sätze pro Tag, die ich aus Respekt vor der schönen Gestaltung des Kalenders mit dem Füllfederhalter eintrug. Als die Texte mit der Zeit länger wurden, benutzte ich zur besseren Lesbarkeit der sehr kleinen Schrift einen Kugelschreiber. Nachdem ich mein Vorhaben ein ganzes Jahr lang lückenlos durchgehalten hatte, kaufte ich mir am Jahresende den Literarischen Kalenderfür das Jahr 2007. So benutzte ich auch die folgenden Kalenderbücher bis zum Frühjahr 2009. Dann allerdings konnte und wollte ich mich nicht länger durch das vorgegebene Raster einengen lassen und erfasste die Texte, wie auch vorher schon parallel zu den handschriftlichen Eintragungen, nun ausschließlich am Computer. Nach neun Jahren umfasste mein Literarischer Kalender Ende 2014 insgesamt ca. 900 gedruckte Seiten.«
In einer Text-Installation wurden die literarischen Kunstwerke in diesem Jahr im Buch- und Kunstkabinett Mönter ausgestellt.
Marianne Reiners-Maaz LITERARISCHER KALENDER, Auszüge aus dem Monat März, 2006 - 2014
Mit freundlicher Erlaubnis der Autorin zitieren wir ein paar Auszüge aus den Aufzeichnungen:
©Marianne Reiners-Maaz
Montag, 12.11.2007
Frage: Warum malen Sie ausschließlich Gesichter?
Antwort: Man weiß ja, dass die alten Meister bei ihren Gemälden vieles von Schülern und Assistenten ausmalen ließen. Ganze Figuren, die Faltenwürfe der Gewänder, Spitzenkrägen und Schmuck wurden auf diese Weise ausgeführt. Nur das Malen der Gesichter behielten sich die Meister selber vor. Da ich weder Schüler noch Assistenten habe, fehlt auf meinen Bildern alles, was nicht Gesicht ist.
Montag, 25.8.2008
Um künstlerische Ordnungen zu finden, muss man es ertragen, dass der Rhythmus des alltäglichen Lebens in Unordnung gerät.
Donnerstag, 4.2.2010
Kaum ist der Schnee geschmolzen, spielen schon Mücken in der milderen Luft.
Freitag, 17.2.2012
Jedes fertige Bild ist zuerst eine Enttäuschung.
Dienstag, 18.12.2012
Was uns auf Papier als höchst ästhetische Komposition farbiger Grautöne erschiene, widerfährt uns draußen als feuchtes, trübes Wetter.
Das schwarze Geäst der Pappel greift in eine bleiche Höhe. Wie Kehrricht steckt verrottendes Laub im nassen Gras. Der Himmel liegt in Pfützen auf den Feldern
Mittwoch, 8.1.2014
Beim Zeichnen kommt es vor allem auf den schönen Strich an. Jeder Strich müsste rein klingen wie ein klar unterscheidbarer Ton in einem Musikstück. Erst danach geht es um das richtige Erfassen des Bildgegenstands. Es lässt sich kein Ausdruck erreichen, wenn die Form unsauber oder verwaschen ist.
Mittwoch, 11.6.2014
Gegen die Angst, nicht zeichnen zu können, hilft nur Zeichnen.
Samstag, 27.12.2014
Gesichter nur richtig zu zeichnen, ist zu wenig. Man müsste Alphabete mit ihnen entwickeln. In einem bewusst entworfenen und eingeübten Zeichenstil, einem Schreibstil vergleichbar, stünde jede Haltung des Gesichts, jede Drehung, für einen anderen Buchstaben. Weil es weit mehr als 26 Typen wären, würden sich durch die Zusammenstellung zweier oder mehrerer Gesichter leichter als bei den Schriftzeichen und oft sogar ohne eigenes Zutun Sätze und kleine Erzählungen bilden.