Ehrlich gesagt ist ›Der Untergang Barcelonas‹ ein Projekt, das ich schon lange mit mir herumtrage. Es ist sehr viel älter als meine Romane mit phantastischem Einschlag. Tatsächlich braucht eine historische Erzählung, so wie jede Erzählung, zum einen Vorstellungskraft, darüber hinaus waren aber auch umfangreiche Recherchearbeiten notwendig, die sehr viel Zeit in Anspruch genommen haben.
Die Spanischen Erbfolge Kriege sind ein sehr kompliziertes historisches Kapitel. In Ihrem Roman sind die Zusammenhänge ganz leicht nachzuvollziehen. Man hat den Eindruck, dass Sie sich schon seit langem mit diesem europäischen Kapitel befassen, ist das so, oder mussten Sie sich erst einmal einarbeiten?
Ja, und wie! Ich erinnere mich noch an den ersten Inspirationsfunken. Ehrlich gesagt war es etwas seltsam. Ich hole am besten etwas aus: Als ich zwanzig Jahre alt war, in den 1980er-Jahren, habe ich wie all die anderen jungen Leute meines Viertels für die Unabhängigkeit demonstriert, vor allem am 11. September. Die Demos endeten immer mit Verfolgungen durch die Polizei im Zentrum Barcelonas. Ich erinnere mich, dass ich mich einmal fragte: »Warum renne ich?« Das hat mich dazu gebracht, mich mit der Geschichte auseinanderzusetzen. Am 11. September wird dem Untergang Barcelonas gedacht. Am 11. September des Jahres 1714 fielen wir in die Hände des spanisch-französischen Heeres. So habe ich zunächst genauer nachgeforscht, was an jenem Tag passiert ist, nach einem ganzen Jahr militärischer Besatzung, nach dem Erbfolgekrieg der iberischen Halbinsel und später einem Krieg auf dem gesamten europäischen Kontinent. Puh, eine ganz eigene Welt, die mit der Gegenwart verknüpft ist. Schließlich sind wir alle das Ergebnis geschichtlicher Ereignisse.
›Der Untergang Barcelonas‹ ist spannend und unglaublich unterhaltsam, vom ersten Moment an ist man gebannt, wir haben es mit einem literarisch komplexen Roman zu tun. Wie lange haben Sie am ›Untergang‹ geschrieben?
Seeeehr lang! Zu lang! Es gab wirklich verzweifelte Momente. Ich sage immer: »Schreiben bedeutet wieder neu schreiben.« Manche Kapitel habe ich zehn-, zwanzig-, ja dreißigmal überarbeitet. Aber beim »Untergang« ist es mir oft passiert, dass ich beim einunddreißigsten Mal gemerkt habe, dass es mir nicht passt... und ich habe es in den Papierkorb geworfen. Für die meisten ist es schwer vorstellbar, wie frustrierend es ist, Wochen, Monate der Arbeit wegzuwerfen. ›Der Untergang Barcelonas‹ war ein Projekt, an dem ich wahrscheinlich mit Unterbrechungen insgesamt mehr als zehn Jahre gearbeitet habe.
Die Festungsmauern Vaubans sind berühmt, seine Gedanken zur Kriegsführung beinahe philosophisch. Was fasziniert Sie an Vauban?
Ja, Sie sagen es. Seine Gedankengänge sind auf einem sehr hohen Niveau, überwältigend. Niemand hat wie er so gegensätzliche Begriffe wie Krieg und Philosophie miteinander verwoben. Bei seiner ersten Belagerung sagte er zu seinen Soldaten: »Gebt mir Euren Schweiß, und ich sorge dafür, dass Euer Blut nicht fließen muss.« So jemand verdient doch unbedingt einen Roman! Vauban hat ein unglaubliches Konzept entwickelt: Krieg führen und Tote vermeiden. Das ist genial! Und es ist ihm gelungen! Er entwirft eine Methode, eine wissenschaftliche Methode, eine Festung zu belagern und sie mit immer weniger Toten zu erobern. Die meisten Toten gab es bei Arbeitsunfällen, bei der Konstruktion seiner Mauern. Vauban ist nicht außergewöhnlich, er ist einzigartig. In ›Der Untergang Barcelonas‹ mache ich Vauban zum Lehrer des Protagonisten, des jungen Martí Zuviria, auch Martí Langbein genannt. Vauban zeigt ihm, wie man den Krieg auf seine Art führt, einen humanistischen Krieg, ohne Leidenschaften. Er zeigt ihm seine Belagerungstechniken und gleichzeitig eine höhere Moral. Zu einem bestimmten Zeitpunkt sagt er zu Zuvi: »Aber warum hassen Sie den Feind? Was hat er Ihnen getan?« Für Vauban war eine Belagerung ein intellektueller Wettstreit, es hat mehr mit Schach zu tun als mit Gewalt.
Zuvi ist ein liebenswerter junger Abenteurer, ungebildet, aber bauernschlau und herzensgut, ein wahrer Schelm, wie ja auch der ganze Roman an einen Schelmenroman erinnert. Der pikareske Roman ist eine Erfindung Spaniens, war Ihnen beim Schreiben bewusst, dass Sie eine alte spanische Tradition aufgreifen?
Ja, ja, natürlich! Ich bin ein großer Bewunderer des spanischen Schelmenromans. In der Tat ist eine zentrale Stelle des Romans eine Hommage an den Schelmenroman, und an Cervantes. Es ist der Teil, in dem ich die Offensive der Österreicher gegen Castella beschreibe, und die Belagerung Madrids. In diesen Kapiteln liest Zuvi ein Buch. Der Titel wird nicht genannt, aber es ist klar, dass es sich um den ›Quijote‹ handelt. In Wirklichkeit geht es in der literarischen Diskussion, die Zuvi mit seinem spanischen Reisegefährten führt, um sehr viel mehr als um Literatur: Es stehen sich zwei Mentalitäten gegenüber, die katalanische und die spanische, die aus Barcelona und die aus Madrid. Sie werden über den Quijote, über die Meinungen in Bezug auf den Quijote vermittelt.
Ihr Roman ist trotz Historie, trotz Schelmentradition ein ganz moderner Roman mit hohem Unterhaltungswert, literarisch sehr außergewöhnlich. Lesen Sie Ihre zeitgenössischen Schriftstellerkollegen aus Spanien und anderen Ländern? Haben Sie in der Literatur Vorbilder?
Wenn ich ehrlich bin, nein. Wie sagte ein buddhistischer Mönch: »Wenn du immer einem Meister folgst, kannst Du ihn nie überwinden.«
Sie haben bisher auf Katalanisch geschrieben, diesen Roman aber auf Spanisch. Warum?
Das ist lustig! Es gab Zeiten, da hat man mich gefragt, warum ich auf Katalanisch schreibe, und jetzt will man wissen, warum ich es auf Spanisch tue. Ich glaube kaum, dass ein kurzes Interview dazu ausreicht, der deutschen Leserschaft die kulturelle Komplexität Kataloniens verständlich zu machen. Ich ermutige Sie, Katalonien zu besuchen, sich dafür zu interessieren. Sie werden entdecken, dass der Kulturtourismus sehr interessant ist, und sehr viel bereichernder als nur an den Strand zu gehen oder Sangria zu trinken (Urghh! Sie sollten niemals Sangria bestellen, es ist eine Touristen-Abzocke und sehr unverträglich)
Der Konflikt zwischen Katalonien und Spanien ist ein alter und spielt auch im ›Untergang Barcelonas‹ eine Rolle, der 11. September 1714 ist ein katalanischer Nationalfeiertag. Sind Sie ein Befürworter der Katalanischen Unabhängigkeit?
Was gerade in Katalonien passiert, ist wunderschön. Die Bevölkerung hat sich friedlich und demokratisch mobilisiert. Sie fordert nur, ihr Schicksal selbst zu bestimmen: Wir wollen wählen dürfen, ob wir unabhängig von Spanien sein wollen. Aber die spanische Regierung sagt, dass eine solche Wahl illegal und undemokratisch sei. Das scheint wahnwitzig, aber es ist so. Die meisten ausländischen Journalisten haben ihr Büro in Madrid und nicht in Barcelona und neigen deshalb dazu, der spanischen Auffassung über die katalanische Frage zu folgen. Wenn sie in Katalonien wären, würden sie vielleicht nicht so schnell den Klischees und Vorurteilen folgen. Die katalanische Bewegung ist keine ethnische. Das ist einer der historischen Verdienste der katalanischen Gesellschaft, ihre Fähigkeit, Menschen von überall aufzunehmen. Ich selber habe einen spanischen Nachnamen, Sánchez, aber natürlich bin ich dafür, dass Katalonien ein eigenständiger Staat in Europa wird.
Die politischen Machthaber in den Spanischen Erbfolgekriegen kommen in Ihrem Roman nicht gut weg. Europa ist im 17. Jahrhundert ein einziges Schlachtfeld. Heute haben wir seit 70 Jahren Frieden in Europa. Haben Sie Vertrauen in die spanischen Politiker? In Europa?
Vertrauen in die spanischen Politiker? Das ist ein Witz, oder? Ich glaube im Norden Europas hat man noch nicht das Scheitern Spaniens verstanden. Spanien hat demokratische Institutionen, aber keine authentische demokratische Kultur, vor allem nicht in seinen Eliten. Tatsächlich sind die wirtschaftlichen und politischen Eliten korrupt. Die Mächtigen haben all ihre Gelder in ausländische Steuerparadiese gebracht und gleichzeitig eine Steuerhölle im Inland geschaffen.
Erlauben Sie mir ein Beispiel: Ich selbst zahle so viel Steuern, dass ich allein damit das Gesundheitszentrum in meinem Viertel bezahlt haben dürfte. Also, eines Tages musste ich wegen Augenproblemen dorthin. Als Schriftsteller kann ich schließlich ohne funktionierende Augen nicht arbeiten, und so auch keine Steuern zahlen. Sie haben mich kurz angesehen und mir gesagt, dass es etwas Ernstes sein könne und sie mir bald einen Termin für eine kleine Untersuchung geben würden. Sie haben mir immer noch nicht Bescheid gegeben. Wissen Sie, wie lange das her ist? Zwei Jahre. Es ist zum Mäusemelken.
Am Ende hat man das Gefühl in einem komplett kleptomanischen Regime zu leben. Zur allgemeinen Ineffizienz müssen wir den autoritären Teil der Regierung hinzurechnen. In Wirklichkeit hat Spanien gedanklich nie mit der Diktatur General Francos (1939-1975) gebrochen. Gerade heute habe ich wieder eine Nachricht in der Zeitung gelesen: Der spanische Konsul in St. Petersburg hat eine spanische Militäreinheit der Faschisten geehrt, die an der furchtbaren Belagerung der Stadt im Zweiten Weltkrieg beteiligt war, auf Befehl Hitlers! Stellen Sie sich einmal einen deutschen Konsul in St. Petersburg vor, der die SS-Division »Totenkopf« ehrt!
Darüber hinaus gibt es eine absolute Intoleranz der spanischen Regierung in Bezug auf die verschiedenen Kulturen innerhalb Spaniens. Es gibt eine Obsession, die katalanische Identität, Kultur und Sprache anzugreifen. Der Hass gegen das Katalanische, die Katalanophobie, ist endemisch – und bringt Wählerstimmen. Wundert es da noch, dass die Katalanen einen eigenen Staat wollen?
Die Filmrechte für ›Der Untergang Barcelonas‹ sind verkauft. Wenn Sie wählen dürften, wer sollte Regie führen? Und welche Schauspieler sollten mitspielen?
In Hollywood lebt ein guter Freund von mir, ein großartiger Regisseur. Er heißt Jaume Collet-Serra und macht außergewöhnliche Filme. Er arbeitet oft mit Liam Neeson zusammen. Der wäre ein großartiger General Villarroell. Natürlich könnte diese Rolle auch Dominic Raacke ausfüllen. Sie würde gut zu ihm passen!
Haben Sie einen bestimmten Tagesablauf beim Schreiben, bestimmte Rituale? Hören Sie Musik, wenn ja, welche?
Ich brauche Ruhe zum Schreiben und Arbeiten. Aber in einer Stadt wie Barcelona ist das unmöglich. Und ja, wenn ich arbeite, höre ich normalerweise Musik, meist allerdings unfreiwillig: Mein Nachbar ist ein 50-jähriger brasilianischer Transvestit, der sich Barbara nennt. Wenn er seine Kunden empfängt, und das ist eigentlich immer der Fall, hört er sehr laut Samba-Musik.
Schreiben Sie gerade? Wann ist mit Ihrem nächsten Buch zu rechnen?
Vom ›Untergang Barcelonas‹ soll es eine Fortsetzung geben. Mir würde es gefallen, wenn der Protagonist Martí Zuviria das ganze 18. Jahrhundert aus der Perspektive dieses traumatischen und gründungsgeschichtlich so wichtigen Ereignisses, der Belagerung Barcelonas von 1713-1714, schildert. Mich begeistert das 18. Jahrhundert sehr.
Das Interview führte Isabel Kupski
Übersetzt von Maren Borgerding

Barcelona um 1700: Zuvi ist vierzehn, etwas großmäulig, ein Taugenichts mit rabenschwarzem Haar. Als ihn der Graf Vauban auf sein Schloss einlädt, ändert sich Zuvis Leben schlagartig. Vauban, der berühmteste Baumeister seiner Zeit, lehrt ihn, die sichersten und schönsten Festungsmauern zu bauen, und Tochter Jeanne führt ihn in die Liebeskunst ein. Aber dann tobt der Spanische Erbfolgekrieg und Zuvis Heimatstadt Barcelona droht, eingenommen zu werden. Zuvi, inzwischen vom Leben gereift, unternimmt alles, um seine geliebte Stadt zu retten. Mit knisternder Spannung und funkensprühendem Humor erzählt Albert Sánchez Piñol die atemraubende Geschichte Barcelonas – ein Meisterwerk.