Mancher mag es ja schön finden; aber ich konnte die widerliche Majestät der Alpenlinie nur mit Achselzucken betrachten: zu viel Stifter! Auch die feinen Funken, die ab und zu in den blaugrünen Wänden aufleuchteten, versöhnten mich nicht: gebt mir Flachland, mit weiten Horizonten (hier steckt man ja wie in einer Tüte!); Kiefernwälder, süß und eintönig, Wacholder und Erica; und an der Seite muß der weiche staubige Sommerweg hinlaufen, damit man weiß, daß man in Norddeutschland ist. Ich hob vornehm die Brauen (graue Brauen, wußte ich), und schenkte mir lieber wieder vom Samos ein, ein Gemisch von Öl und Feuer, wie ich selten eines gekostet hatte.
Matinee bei Frau Ederer. Ihre fehlenden Zähne waren durch Elfenbeinstückchen, mangelnde Körperformen durch Schaumgummihügel ersetzt, das Plappermaul mit Karmin umstrichen: wir nickten uns zu; wir kannten uns seit dreißig Jahren.
Ich verstand mich also von selbst. Außerdem war da der Maler, der für sein Bild ›Weiblicher Akt mit Bruchband und Brille‹ den letzten Preis erhalten hatte. Dann Fräulein Basse: eine bezaubernde Furchtsamkeit, die sie oftmals und listig zu erzeugen wußte, wenn wir Männer so gelehrt sprachen, verschönerte ihr Gesicht. Zwei Textilkaufleute waren wegen des Gatten da; die Einzigen, aus deren Mündern etwas Vernunftähnliches kam. Und dann eben noch der junge Geologe.
Nun sind Wissenschaftler durchaus eine Sache für sich. Ich persönlich habe mehr als genug vom Umgang mit Schriftstellern; schon da muß man wissen, daß Er in seiner Freizeit hannoversche Staatshandbücher sammelt, und für Sie ihre schwarzweißgelbbraunwasweißich getigerte Katze tabu ist (oder Er schwört auf Astrologie, Sie auf Thomas Mann; vita difficilis est). Der hier ließ uns nichts weniger als ruhig auf dem kurz geschorenen Rasen sitzen, sondern fing an mit der Kontinentaldrifttheorie: daß sich Grönland neuerdings schon wieder sechsunddreißig Meter entfernt habe (und Südamerika und Afrika paßten genau ineinander); auch die Alpenauffaltung ginge laufend weiter: nach den neuesten Messungen näherte sich die Zugspitze pro Jahrhundert um diverse Meter der guten Stadt München.
Fräulein Basse schielte entzückend entsetzt zur nächsten Bergwand hinüber: war die nicht schon wieder ein Stückchen näher gekommen?! Die Textilfachleute erörterten verächtlich Kett= und Schußgarne; und Molly Ederer sah mich bittend an: das fehlte gerade noch, daß auch unter ihr alles wackelte und schwamm!
Ich strich als Präambel die Asche von meiner Zigarre, und begann:
»Das war damals, 1946 – also vor fünfundzwanzig Jahren – ich war Dolmetscher beim Polizeipräsidenten in Lüneburg, und Tag und Nacht auf den Beinen. Bald wollte Major Billingham eine Schießübung mit seinen Tommies abhalten; bald hatten DP’s – ›Displaced Persons‹: Polen und dergleichen – einen einsamen Bauernhof überfallen, und ihrem grausamen Hunger ein paar Kühe geschlachtet. Schöne Zeit damals; wir waren alle jung und hager, vorurteilslos und gewetzt.
Der Polizeiinspektor, dem ich zugeteilt war, nahm mich vorsichtshalber auf jede Fahrt mit; und es war eben wieder ein halbes Jahr um: die deutsche Polizei hat nämlich, unter anderen Aufgaben, auch die, termingemäß alle halben Jahre das ›Vorhandensein‹ sämtlicher, in ihrem Bezirke befindlichen TP’s zu melden.«
»›Trigonometrische Punkte‹« erklärte angeregt der Geologe: »die Grundmarkierungen unsres geographischen Wissens.« Ich nickte ihm lobend zu, und fuhr träge fort (und kehrte die augenblickliche Landschaft einfach um; ist ja egal):
»An einem windigen und kalten Herbstnachmittag kamen wir in Schwarmstedt an. Der Ortsvorsteher begleitete uns zum Zementstumpen, und hob an zu klagen, wie das Ding so grausam mitten im Fahrweg stünde; erst voriges Frühjahr seien zwei Radbrüche an der Stelle erfolgt: ob man den Stein denn nicht etwas zur Seite rücken könnte? –
Der Polizeioffizier, alter Soldat und an rasche Entscheidungen gewöhnt, überlegte kurz, und nickte dann vorurteilsfrei mit der Schirmmütze: er hatte das ›Vorhandensein‹ zu melden, nichts weiter. Ergo erschienen aus der alrunischen Dämmerung vier schweigsame Niedersachsen mit Spaten; gruben den TP Nr. 1577 aus, und versetzten ihn drei Meter nach rechts, an den Wegrand: noch heute wird termingemäß das Vorhandensein des Steines gemeldet. – Seitdem mißtraue ich allen Theorien, wie der vorhin von Ihnen vorgetragenen Wegnerschen!«
Der Geologe schrie auf, händeringend; rief Helmert an, Wilhelm Jordan (oder so ähnlich; ich kenne die geodätischen Gottheiten nicht). Ich schilderte noch überzeugend den Nachtsturm, der sich gleich anschließend erhoben hatte, Wind, Blitz und Donner, als die gefällig=rächenden Werkzeuge des Himmels; trotzdem – die glitschenden Kontinente zogen nicht mehr.
Die Damen lächelten erleichtert; Mollys Knie dankte mir kurz, wie einst im Mai; die Textilfachleute hatten ohnehin nicht auf uns geachtet, sondern waren schon beim Sanforisieren. Nur der Geologe strich sich immer wieder das schüttere Haar rückwärts; dabei war er erst achtundzwanzig! – Ich hob versonnen das Samosglas: Öl und Feuer; wo ist die Zeit hin, da wir noch Kontinente verschoben?!
Erschienen bei FISCHER Taschenbuch
Frankfurt am Main, Dezember 2013
© Arno Schmidt Stiftung, Bargfeld 2013
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013

In der Auseinandersetzung mit der europäischen und amerikanischen Avantgarde hat Arno Schmidt eigene, äußerst originelle und vielfältige Formen des Erzählens entwickelt. Seit dem Erscheinen seiner Erzählung ›Leviathan‹ (1949) zählt er zu den bedeutendsten Schriftstellern der deutschen Nachkriegsliteratur.
›Das große Lesebuch‹ versammelt eine Reihe von kürzeren Texten Arno Schmidts, die das Werk in seiner gesamten Vielfalt darstellt und den Erzähler ebenso präsentiert wie den Essayisten, den Sprachvirtuosen ebenso wie den scharfen Analytiker. Die Mischung von bekannten und unbekannten Texten lädt dazu ein, dieses gewaltige Werk neu zu entdecken.
Bernd Rauschenbach, leitender Vorstand der Arno-Schmidt-Stiftung, hat die Texte für das Lesebuch zusammengestellt und mit einem biographischen Nachwort ergänzt.