Er ging auf den dünnen Mann zu und fragte ihn, ob es ihm etwas ausmache, wenn er sich neben ihn setze. Der dünne Mann hatte nichts dagegen und machte ein wenig Platz, weil der dicke Mann wirklich sehr dick war. Nun hatte aber der dicke Mann keine Stulle, was ihn auf die Dauer sehr unzufrieden machte. Wie soll ich Spaß daran haben, den Leuten beim Spazierengehen zuzuschauen, wenn ich keine Stulle dabei essen kann wie der Mann neben mir, dachte er und seufzte sehr tief. Der dünne Mann hielt mit dem Kauen seiner Stulle inne und betrachtete seinen Nachbarn, der ziemlich griesgrämig aussah. Vielleicht ist er traurig, dachte der dünne Mann. Vielleicht hat seine Frau ihn verlassen oder jemand ist gestorben. Aber so ist das Leben. Er schob den letzten Bissen seiner Stulle in den Mund und schenkte seine Aufmerksamkeit einer Frau in hohen Schuhen, die einen hässlichen kleinen Hund hinter sich her zog. "Wie kann eine so schöne Frau einen so hässlichen kleinen Hund haben", sagte er. Normalerweise hätte er diesen Gedanken nicht ausgesprochen, doch er meinte, den dicken Mann ein wenig aufheitern zu müssen. Doch der schaute nach wie vor sehr verdrossen in die Landschaft. Dann eben nicht, dachte der dünne Mann. Dann kaufe ich mir jetzt eine schöne Krawatte. Er stand auf und ging federnden Schrittes den Parkweg hinunter. "Der hat's gut", murmelte der dicke Mann und schaute dem dünnen Mann nach, bis er ihn nicht mehr sehen konnte.
Und so konnte er auch nicht mehr sehen, wie der dünne Mann die Straße überquerte, den Krawattenladen betrat, und sich eine schöne Krawatte aussuchte. Wie er dann nach Hause ging, den Briefkasten öffnete, einen Brief herausnahm und ihn in seine Wohnung trug. Wie er den Brief las, regungslos an seinem Küchentisch verharrte und einen Entschluss fasste. Und wie er schließlich die schöne Krawatte an einem Haken in der Decke befestigte, um sich daran zu erhängen. Von alldem wusste der dicke Mann nichts. Zum Glück.

Marion Braschs unwiderstehlicher Roman erzählt die Geschichte ihrer außergewöhnlichen Familie im Spannungsfeld zwischen Ost und West. Der Vater war stellvertretender Kulturminister der DDR, die Brüder, darunter Thomas Brasch, wurden als Schriftsteller, Dramatiker und Schauspieler bekannt.
Mit überraschender Leichtigkeit erzählt die »kleine Schwester« die dramatischen Ereignisse in ihrer Familie – Erfolg, Revolte, Verlust der drei Brüder – und folgt ihrem Weg durch Abenteuer und Wirren in die eigene Freiheit. Selten wurde eine Familiengeschichte so persönlich und bewegend erzählt wie in diesem Roman.