Brief an Marie Exner
Zürich, 16. Dezember 1872
Höflichen und herzlichen Dank für die zwei Bilder, die mir Herr Dilthey gestern abend gab. Bis zu diesem Augenblick, das heißt seit Monaten, hatte ich in Zucht und Ehren gelebt. Gestern tranken wir zwei nun folgendes:
8 Glas Bier
2 Schoppen Wein
2 Flaschen Wein
2 Gläser Grog
2 Wiener Schnitzel (Dilthey)
1 Blumenkohl (idem)
1 Hasenbraten (ich)
2 Brot (beide)
1 Kartoffelsalat (ich)
1 Käs (Dilthey)
1 Butter (id.)
1 Brot (id.)
macht 24 Einheiten, die wir zusammen verschlangen. Als Dilthey meinen schönen Hasenbraten sah, wollte er auch welchen haben; es war aber keiner mehr da, ich bot ihm den meinigen an gegen Abtretung der Wiener Schnitzel. Da wurde er mißtrauisch und behielt sie.
Heut hab' ich etwas Katzenjammer; als ich um neun Uhr aufstand und die Photographien besah, machte ich ein zwinkerndes Gesicht, wie eine alte Eule, die an einem hellen Morgen aufs Meer hinausschaut.

Thomas Hürlimanns Auswahl aus dem Werk Gottfried Kellers verzichtet nicht auf schöne Stellen aus dem »Grünen Heinrich« oder die bekannte Novelle »Romeo und Julia auf dem Dorfe«. Zugleich aber finden sich in diesem Lesebuch auch kenntnisreich aufgespürte Briefe und weniger bekannte Texte Kellers. Sie bestätigen seinen epochalen Rang als Autor und zeichnen wie nebenbei das Bild eines Mannes, der voller Tatendrang ins Leben aufbricht und am Ende melancholisch zurückblickt.