Liebe Katharina,
unser Treffen in Greifwald liegt nun schon vier Wochen zurück. Der Bericht will auf den Tisch, und ich mache nun also den Anfang und dachte an ein Gespräch zwischen uns beiden wie auf dem Podium, im Shuttlebus oder eigentlich immer (ich weiß, das war eigentlich deine Idee. Aber die Idee steht am Anfang, also steht sie jetzt hier).
Am Anfang also die Frage: Was kam für dich hinterher? Und was ist geblieben? Mir zum Beispiel ein paar Sätze aus dem Gespräch mit Vahur Afanasjev:
»Das Leben wird gut. Das ist die schwerste Probe.« Und: »Der Mensch, der Verantwortung für sein Leben übernehmen muss, findet einen neuen Feind.« Über solche Sätze denke ich, wie du weißt, seit einiger Zeit nach. Im Frühjahr kommt mein Roman, dann kannst du es nachlesen. Ach nein, kannst du ja nicht. Auch darum ging es ja in Greifswald – dir fehlt der Hang zur Autofiktion, aktiv wie passiv, lesend wie schreibend. Aber dazu kommen wir noch.
Oder das Bild, das Sharon Dodua Otoo für ihre mühsame Arbeit am ersten Roman in einer Fremdsprache gewählt hat: »Auf Deutsch zu schreiben ist für mich ein bisschen wie mit Handschuhen ein Smartphone zu bedienen.« Geht es dir auch manchmal so? Ich glaube, ich kenne dieses Gefühl, wenn ich nicht bis zur Außenwelt durchdringen kann. Zur Welt der Dinge, die immer auch eine Fremdsprache spricht. Schreiben als Übersetzungsarbeit.
Und was bleibt noch? Unsere Diskussion über die Einflüsse der Herkunft, sozialer Schichten, kultureller Unterschiede, die uns geprägt haben. Und wie falsch wir uns wechselseitig eingeschätzt haben. Das macht mir schon fast wieder Mut.
Was macht dir gerade Mut? Was hilft dir, weiterzuschreiben? Und wie hältst du es nun mit der Autofiktion?
Liebste Grüße
Isabelle
Re: Anstelle eines Berichts
Liebe Isabelle,
oh aber da muss ich gleich korrigieren. Ich kann mit der Autofiktion ja sehr viel anfangen, und in den letzten Jahren habe ich sie auch viel gelesen. Alle Knausgårds, Rachel Cusk, Maggie Nelson. Mein Verhältnis zur Autofiktion ist also ein Widersprüchliches. Literarisch gefällt sie mir gut, persönlich und moralisch weniger. Ich möchte Knausgård also gerne lesen, aber ich möchte ihn nicht kennen. Oder: Ich möchte nicht unbedingt, dass jemand, den ich kenne, Autofiktion schreibt. Noch viel weniger möchte ich in einer Autofiktion vorkommen. Mich wundert es ja immer: Menschen, die einem begegnen, fragen oft aufgeregt, ob sie in den Texten vorkommen. Die Art, wie sie fragen, legt nahe, dass sei etwas grundsätzlich Positives. Ich denke, es ist eine unheimliche, bestenfalls unangenehme Erfahrung, sich selbst im Text anderer zu finden. Vor ein paar Jahren wurde einmal ein Portrait über mich geschrieben. Ich las die ersten vier Sätze, dann hörte ich auf, weil sich mir die Härchen auf den Armen aufstellten, so schlimm war das.
Darüber habe ich vor allem, während der Tagung nachgedacht, und es ist mir noch lange im Kopf herumgegangen und wird mich wahrscheinlich noch während des ganzen neuen Schreibprojekts, das – wie du ja weißt – in großen Teilen autofiktional ist, begleiten. Also die Frage, wieviel von sich gibt man hier. Im Schreiben muss man natürlich alles hergeben. Aber ist es auch richtig, andere herzugeben? Für die eigene Arbeit. Diese Entscheidung für andere zu treffen. Ich finde: Nein. Knausgårds Frau wahrscheinlich auch. Und um diese selbst auferlegte moralische Beschränkung herumzuwerkeln wird wohl meine Hauptaufgabe sein. Das habe ich in unsere Diskussionen während der Tagung, glaube ich, zum ersten Mal im vollen Ausmaß verstanden. Wie sieht es bei dir mit diesen Bedenken aus? Plagen sie dich nicht? Wenig? Irgendwie doch?
K.
Re: Re: Anstelle eines Berichts
Liebe Katharina,
jetzt habe ich endlich verstanden, was du meinst: Knausgård lesen, ihn aber nicht kennen wollen! Intim und schwer aushaltbar wird es wirklich erst, wenn man sich kennt und im Buch plötzlich mehr Privates erfährt, als man sich im Gespräch jemals anvertrauen würde. Das Gefühl der Grenzüberschreitung, die nicht nur der Autor vollzieht, sondern auch der Leser, indem man ihn zwingt, in ein fremdes Leben einzudringen.
Für die Ausstellung des Eigenen habe ich diese Entscheidung getroffen: Es ist möglich, weil es mich nicht betrifft. Was da steht, ist niemals mit mir identisch. Es bleibt auf Distanz, ich weiß um die Verfremdung, Überspitzung, Fiktionalisierung, die sich schreibend unmittelbar einstellt. Aber ich weiß auch, dass der Leser das nicht nachvollziehen wird. Sobald Momente und Details wiedererkennbar sind, scheint plötzlich alles authentisch.
Aber was, wenn es nicht nur um mich geht, nicht nur um den Knausgård, sondern auch um dessen Frau? Natürlich plagen mich diese Bedenken. Auch das ist Thema meines Romans: nicht zu wissen, wie ich damit umgehen soll. »Man soll seine Freunde nicht verraten, indem man sie zum Teil eines Kunstwerks macht,« heißt es an einer Stelle. Aber anstatt einer Antwort, wie das zu schaffen ist, rette ich mich in die Metafiktion: Meine Erzählerin spricht mit ihren Freunden über deren Figurwerdung und schildert ihre Reaktionen darauf. Ein fieser Trick und keine Lösung? Vermutlich. Selbst die Bedenken werden für das Kunstwerk missbraucht.
Aber nun ganz ohne doppelten Boden:
Ich versuche, die Menschen in meinem Umfeld wissen zu lassen, wenn ich über sie schreibe. Ich biete ihnen an, das Manuskript zu lesen. Meine Eltern wollten es nicht – ich solle mal machen. Andere nahmen das Angebot an. Einer wünschte sich mehr Raum für seine Figur, um besser verständlich zu sein. Ein anderer sprach an zwei Stellen sein Veto aus. Beidem bin ich nachgekommen, nicht zum Schaden des Romans, wie ich glaube. Eine Freundin – nämlich du – wollte nicht vorkommen. Also kommt sie nicht vor, auch wenn ich mir ein Gespräch mit dir ausgeborgt und einer anderen Figur untergeschoben habe. Davon weißt du, und es sei auf diese Weise in Ordnung für dich. Dann wieder eine Freundin, die sich gerade wie unsichtbar fühlt und sich freut, dass ich glaube, sie gebe für meinen Text genug her. Und schließlich eine Freundin, die selbst autofiktional schreibt. Mit ihr immer der Streitpunkt: Wem gehört der Stoff, wenn unsere Leben sich kreuzen? Und was kann sie mir noch erzählen? Sie sagt jetzt immer dazu, was ich verwenden darf. Manchmal spricht sie explizit als Figur, unter dem Namen, den ich ihr im Manuskript gegeben habe. Sie weist ihre Sätze als Zitate aus, wird zur Ko-Autorin und schreibt sich ein. Sie gestaltet sich als Figur, die sie darstellen will – auch eine Möglichkeit. Nur einer weiß nicht, dass er vorkommt. Wir haben keinen Kontakt mehr, und dabei soll es bleiben. In diesem Fall hat die Juristin geprüft.
Und trotzdem hast du irgendwie Recht. Moral und Recht sind zwei verschiedene Dinge. Ich kenne die Tendenz, mich über Einwände hinwegzusetzen, indem ich sie nicht nachvollziehen will: Das bist doch nicht du, das bin doch nicht ich! Natürlich ist es anmaßend, sich im Namen der Kunst alles herauszunehmen. Ich will niemanden verletzen, aber vermutlich geschieht es dann doch. Davor habe ich Angst. Ich bin gespannt, angespannt, was nach dem Erscheinen noch kommt.
Und wie geht es jetzt weiter bei dir? Hast du eine Ahnung, wie du deinen Stoff trotzdem schreiben kannst? Ich hatte gedacht, das Erkennen der Skrupel wäre bereits das Ende des Projekts. Oder denkst du noch darüber nach, wie du mit dem Problem umgehen kannst? Ich würde das Buch natürlich sofort lesen!
Viele liebe Grüße
Isabelle
Liebe Isabelle,
das Erkennen der Skrupel sei schon das Ende des Projekts, hast du gedacht. Nein, so will ich es noch nicht sehen. Skrupel kommen ja aus den ein oder anderen Gründen in den meisten Projekten wegen irgendwas, das darf noch nicht das Ende sein, denke ich. Im Moment schiebe ich bloß das Alter der Protagonistinnen hin und her. Das Buch soll aufhören, wenn sie dreizehn sind, wenn sie achtzehn sind, wenn sie dreißig sind, ach nein, doch nicht. Eine Lösung habe ich noch nicht, aber nein, auch noch nicht aufgehört, nach einer zu suchen. Womöglich sind die Skrupel bei mir größer, weil für mich diese Erklärung »Das bin doch nicht ich, das seid doch nicht ihr, das ist bloß Fiktion« nicht so richtig zieht. Es ist so eine schön postmoderne Haltung, aber ich glaube eigentlich nicht an sie. Im Gegenteil, ich habe bei jedem meiner Bücher, und wenn es um Raumschiffe, fliegende Affen, sprechende Fledermäuse oder sonst etwas geht, immer das Gefühl: Das bin ich, das ist meine Geschichte. Das ist damals, wie ich zum Ende der Welt laufen musste, und mir dann zwischendurch auch noch mein Sechsmaster auf Grund ging, ach Gott, das war eine schwere Zeit. Nach meinem ersten Roman wurde ich in Interviews gleich mehrmals auf die »durchgeknallten Figuren« angesprochen, und da macht mir die eigene Distanzlosigkeit zum Buch natürlich zu schaffen, weil die durchgeknallten Figuren – und zwar alle –, die sind natürlich auch ich! Aber wie du schon schreibst, gefühlt »authentisch« wird es für die LeserInnen erst, wenn die äußeren Marker auch übereinstimmen und ich eben damals nicht bis zum Ende der Welt lief, sondern sagen wir mal: ans DLL. Aber ob nun Leipzig oder das Reich der tausend Inseln, ich glaube, dass ich anders als du nie werde sagen können: Das bist doch nicht du, das bin doch nicht ich.
Cheers
K.
Liebe Katharina,
ob ich so weit gehen würde, weiß ich auch nicht: Das bin doch nicht ich? Vielleicht ist »ich« ja auch außerhalb des Romans immer eine Fiktion. Eine Behauptung, mit der man sich rollenspielend und selbstauskunftgebend durchs Leben bewegt. Insofern ist das autofiktionale »ich« im Roman für mich genauso sehr Selbstbehauptung wie Selbstverleugnung. Nur eine weitere Selbstzuschreibung neben vielen, aber eine mutigere, eine Trotzfigur, mit der ich mir erlaube, was ich mir außerhalb des Romans nicht gestatten würde. Das will doch nicht ich sein. Und: das wäre so gern ich.
Aber noch etwas ganz anderes: »Ich« wird bald vierzig. Kommst du zu meinem Geburtstag? Und sehen wir uns vorher noch? Lass uns doch vielleicht dann weiterreden …
Gruß und Kuss,
I.
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