Als Schriftsteller war Dieter Kühn wie kaum ein Zweiter ein Wanderer zwischen den Gattungen, der sich auf vielfältigste Weise biographische wie fiktionale Prosa, die Lyrik, das Drama oder die akustische Gattung des Hörspiels zum Ziel nahm. So blieb er bis zuletzt beweglich im Kopf, wenn auch diese außergewöhnliche Breite des Schaffens nicht selten bestraft wurde durch einen Mangel an Resonanz; die Literaturkritik hat es gerne übersichtlich.
Aus den achtziger Jahren stammt ein Foto, so spielerisch wie charakteristisch, der lächelnde Dieter mit einem Turban auf dem Haupt. In der Tat besaß er eine gleichsam morgenländische Fabulierkunst. Sie verschmilzt in seinen Werken mit abendländischem Konstruktionsdenken. Beim Clara-Schumann-Buch beispielsweise sollte sich auch die literarische Form dem Thema Musik anbequemen, und Dieter Kühn übernimmt von dort das Rondo-Prinzip, die ständige Wiederkehr eines Formteils, damit das ständige Üben, Konzertieren und Gebären der Heldin symbolisierend. Das Rondo-Thema, betitelt ›Clara Schumann, Klavier‹, erscheint genau zwölf Mal, entsprechend der Halbton-Zahl einer Oktave, was freilich von den professionellen Lesern nicht registriert wurde; auch derlei Ignoranz war häufig Gegenstand unserer Gespräche. Dabei bemisst sich gerade an solchen Details der hohe Rang des Schriftstellers Dieter Kühn, erhellen sie doch etwas höchst Bedeutsames: seine Innovationskraft der Form.
Kühns »Markenzeichen«, wie die Nachrufe nicht versäumten hervorzuheben, sei der Möglichkeitssinn gewesen, und tatsächlich hat er mit der Frage »Was wäre gewesen, wenn?« seit dem furiosen Erstling ›N‹ uns allen ungeahnte Vorstellungsräume erschlossen. Gleichermaßen ausgeprägt war indes Dieter Kühns Wirklichkeitssinn. Wie hat die Geschichte konkret ausgesehen? Diese zweite Grundfrage führte ihn in die unterschiedlichsten Welten der Vergangenheit, um sie in allen Einzelheiten zu rekonstruieren, auf die Burgen Wolkensteins, in den Urwald Surinams oder in das Konzentrationslager Buchenwald; wie kein anderer Schriftsteller war Dieter Kühn zugleich der literarische Archäologe des Nationalsozialismus.
Dieter Kühns Bewegungsdrang prädestinierte ihn nachgerade zur Musik, die doch aus nichts anderem besteht als aus Bewegung – von Luftmolekülen. Musik hat von Anfang an seine Neugier geweckt und wurde ihm zum unverzichtbaren Lebensmittel. Er war ein eifriger Konzertbesucher, mit größter Wertschätzung etwa des Heimbacher Festivals von Lars Vogt, erfreute sich in besonderem Maße an der Freundschaft von Musikern wie York Höller, und in Dieters Wohnungen türmten sich die Platten-, später CD-Stapel, Brahms-Sinfonien neben einer Barockoper von Hasse neben Stücken des Zeitgenossen György Kurtág neben der Jazzpianistin Myra Melford. Ob Neue Musik, ältere Tonkunst bis hin ins Mittelalter oder sämtliche Spielarten des modernen Jazz – in Dieters weitem rheinischen Herzen hatte vieles Platz. Nur sollte, gleich der Malerei, die er liebte, die Musik jedweder Herkunft eine gewisse Erdennähe haben, möglichst mit rhythmischer Intensität, die zur Bewegung stimuliert. Daher zählten serielle Musik oder Wagners Überwältigungsklänge nicht unbedingt zu seinen Favoriten. Selbstredend haben wir immer ausführlich über Musik gesprochen, und wie oft konnte ich, ein sogenannter Musikgelehrter, von Dieters Hinweisen auf – mir unbekannte – Aufnahmen profitieren und mit Bewunderung beobachten, welch konzentrierten Umgang er mit dem konkreten Klang pflegte, das vollkommene Gegenteil von Hintergrundkulisse. Namentlich mit seinen Stücken für die einsame Insel, der Klavier- und Kammermusik seines musikalischen Hausheiligen Beethoven, die Dieter Kühn in immer neuen Interpretationen zu sich nahm. Als wir wenige Wochen vor dem Tod noch einmal über Musik sprachen, stellte ich die Frage, was er als Autor von der Musik gelernt habe: »Sich nicht an das halten, was man ohnehin schon kann, sondern immer wieder Neues ausprobieren. Weitergehen, weitergehen, und das ist ein Antrieb, der zumindest von Beethoven verstärkt worden ist.«
Dieter Kühn und die Bewegung – nun ist sie zur Ruhe gekommen.
