Von Hans Jürgen Balmes
Sein Mutterland war die Literatur, und seine Vatersprache war jede Sprache. Die Metamorphosen der Dialekte, der In-einander-Übergehen der Motive und Sujets und die überraschenden Nachbarschaften der Bücher im Regal, der Geschichten in seinem Kopf: das war seine Welt. Er las Kafka als einer der ersten auf dem amerikanischen Kontinent und seine Kommentare waren so luzide wie die von Walter Benjamin. Ach, hätten die sich kennengelernt! Und wegen Klabund in die Haare gekriegt! Aber er kannte nicht nur deutsche Autoren mit dem Anfangsbuchstaben K. Hölderlin und Thomas Mann, Gerhard Hauptmann und Meyrink, Luther und Leibniz, Heinrich Heine und Schopenhauer las er ebenso wie er sich kurz vor seinem Tod Novalis vorlesen ließ, auf Deutsch.
Borges ist unentrinnbar: »Welche Bücher haben Sie geprägt, Herr Bolano?« »Die gesammelten Werke von Borges.«
Genf war eine zweite Heimat für Borges. Dort liegt er begraben. Es muss ein unterirdisches Grummeln geben, da die Deutschen nacheinander DREI immer vollständige Werkausgaben von Borges veröffentlicht haben. DREI! Es gibt Menschen, die durchkämmen das frühere Ostberlin nach dem verborgenen Aleph, das eine Tür öffnen könnte, um direkt in den Heinrich von Ofterdingen einzutreten.
Die Literatur ist ein großer Bienenstock, so Ossip Mandelstam, in dem viele Bienen summen. Borges‘ ist eine der am deutlichsten vernehmbaren – wie sollte man sie herausfiltern?
»Obwohl sie sich im Stil derart unterscheiden, zeigen zwei Autoren uns ein Bild des nächsten Jahrtausends: Joyce und Borges.«, sagte Umberto Eco.
Hans Jürgen Balmes ist seit 1999 Programmleiter für internationale Literatur im S. Fischer Verlag.
Jorge Luis Borges, Buenos Aires, 1972
Übersetzt von Gisbert Haefs
Jorge Luis Borges (* 1899 Buenos Aires, gestorben 1986 Genf) ist einer der wichtigsten Autoren des 20. Jahrhunderts; ohne sein wegweisendes und bahnbrechendes Werk wäre die moderne hispanische Literatur undenkbar. Die Vielfalt seiner Themen und die Perfektion seiner Formen in Erzählung, Essay und Lyrik machten ihn schon zu Lebzeiten zum Klassiker der Weltliteratur auch außerhalb der spanischsprachigen Welt. Mit Joyce und Proust teilt er die Auszeichnung, den Nobelpreis nicht bekommen zu haben.

»Die Poesie ist nicht minder mysteriös als die anderen Elemente des Erdkreises. Dieser oder jener geglückte Vers darf uns nicht eingebildet machen, denn er ist eine Gabe Des Zufalls und Des Geistes; nur die Mängel sind unser. Ich hoffe, daß der Leser auf meinen Seiten etwas seiner Erinnerung Würdiges entdecke; auf diese Weise ist die Schönheit Gemeingut.« Jorge Luis Borges
In »Schatten und Tiger« verbindet Jorge Luis Borges die Motive seiner Gedichte mit dem Thema des Alters und seiner allmählichen Erblindung, dem »Lob des Schattens«: »aber im Abend, der vielleicht aus Gold ist, / lächelt er angesichts des merkwürdigen Schicksals / und fühlte das eigenartige Glück / der alten geliebeten Dinge.«