Erweiterungen und Neufassungen längst existierender Bücher waren bei Dieter, mit dem ich damals schon seit fast einem Jahrzehnt zusammenarbeitete, nichts Neues. Dennoch reagierte ich zurückhaltend. Es gehört nicht zu den Kernaufgaben des Lektorats, dicke Bücher noch dicker zu machen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass eine Leserin am Ende dieses Buches »schön, aber zu kurz« sagen würde, und glaubte mich auch nicht an Rezensionen zu erinnern, in denen »das allzu Knappe der Darstellung« moniert worden wäre. Zudem hatte ich im Jahr zuvor die 1280 Seiten von Kühns Autobiographie »Das Magische Auge« lektoriert und die Arbeit am Folgeband »Die siebte Woge« soeben erst beendet. Ich hatte noch anderes zu tun. Und im Büro war es hochsommerlich heiß.

Es war eine Dringlichkeit in seinem Wunsch nach dem Extrakapitel, die mich aufhorchen ließ. Die Erweiterung sollte schnell geschehen, jetzt sofort, rechtzeitig für den nächsten Nachdruck, für die zu erwartende 5. Auflage. Und dann schickte er auch schon den neuen Text.
Im Büro saß ich hinter heruntergelassen Jalousien, die die Sonne fernhalten sollten, und brütete über den Seiten. Offenbar beschäftigte Dieter das Verhältnis zwischen Clara und Robert Schumann in den Jahren 1854 und 1855, Roberts Selbstmordversuch, seine Einlieferung in die »Privatheilanstalt« in Endenich bei Bonn, die Art seiner Erkrankung und Behandlung. Aber war es dafür jetzt nicht eigentlich viel zu heiß? Ich besaß damals einen Ventilator, der wegen einer Unwucht ein schabendes Geräusch machte und langsam über den Schreibtisch wanderte. Wenn ich mit Dieter telefonierte, war immer die Rede davon, das Buch mit diesen Ergänzungen »winterfest« zu machen, was mir bei den Temperaturen in meinem Büro völlig absurd vorkam. Noch immer schien das kleine Projekt für Dieter von höchster Wichtigkeit. Warum, war eine der Fragen, denen er nachging, hatte Clara ihren Mann in den zwei Jahren, die dieser in der Heilanstalt verbrachte, erst besucht, als er im Sterben lag?
Es vergingen dann nur wenige Monate, bis bei Dieter ein Tumor diagnostiziert wurde, der bereits in die Knochen metastasiert hatte. Im Juni 2015, ein Jahr nachdem wir am letzten Kapitel von »Clara Schumann, Klavier« gearbeitet hatten, war die neue Auflage im Buchhandel. Wieder waren es heiße Tage, und wieder saß ich hinter heruntergelassenen Jalousien in meinem Büro, nur der Ventilator war irgendwann vom Tisch gefallen. Auch jetzt war ich mit Dieters Texten beschäftigt, für den Herbst war ein Band mit Theaterstücken, für das folgende Jahr ein Band mit Gedichten geplant. Als sich Feuchtigkeit in die Sommerhitze zu mischen begann und die Luft schwer wurde, machte ich mich auf zu einem letzten Besuch, im Handgepäck auch das Clara-Schumann-Buch. Fünf Tage danach, am 25. Juli 2015, ist Dieter Kühn in Brühl bei Köln gestorben.

Clara Schumanns Lebensgeschichte ist Legende geworden. Ihre entsagungsreiche Kindheit, ihr enormes Talent als Pianistin und Komponistin, die frühe, gegen den Vater durchgesetzte Liebe zu Robert Schumann und die Erziehung von sieben Kindern geben genug Stoff für Mythen ab. Clara Schumann gilt seither als musikalisches Wunderkind, Idol romantisch-verklärter Liebesvorstellungen oder vorbildliche Mutter. Dieter Kühn geht in seiner großen Biographie den Lebensweg von Clara Schumann nach und erschafft mit Phantasie und Faktenkenntnis das Porträt einer hochsensiblen und selbstbewussten Frau, in deren Leben sich fast das ganze 19. Jahrhundert spiegelt.