Es war spät im Sommer. Auf der Wiese, die sich wie eine Insel zwischen zwei schmalen Flussarmen ausmachte, lag kieloben ein Boot aus Kunststoff. Wir drehten es um und hievten es, das nicht schwer war, ins Wasser, warfen ein paar Dinge hinein, sprangen hinterher und fuhren, die jahrhundertealten, im Wasser stehenden Gemäuer des Fabrikgebäudes, die ihren Putz längst verloren hatten, hinter uns lassend und die Paddel kräftig eintauchend, damit ein Stück stromauf. Unter mancher Brücke musste man sich ducken, um sich den Kopf nicht zu stoßen. Das Wasser war hier klar, dort bernsteinfarben und an wieder einer anderen Stelle grün wie Flaschenglas. Es war still, wie es nur auf einem Fluss still sein kann: Zwischen und hinter den Geräuschen war die Stille, unauslöschlich wie das Licht zwischen und hinter den Dingen. Nicht die zurückgelegten Meter, die Ruderschläge waren es, die der Strecke das Maß gaben, die wachsenden, sich wie unmerklich verändernden Schatten, das Quaken der dann und wann auffliegenden Enten, die man hätte schießen wollen. Aber wir waren nicht auf Enten aus. An einer seichten Stelle legten wir an, stiegen aus und machten das Boot fest. Über das hier glasklare, kalten Atem in unsere Gesichter strömende Wasser gebückt, lugten wir nach Flusskrebsen, die sich farblich von den Steinen des Flussbetts nicht unterschieden. Hatten wir einen entdeckt, griffen wir rasch und behutsam, um nicht von seinen Scheren verletzt zu werden, nach ihm, dem im Krebsgang Fliehenden, und warfen ihn in den Eimer im Boot. Später – wieder: keine Zeit; nur die Schatten waren länger geworden, das Licht schwächer, die Stille deutlicher – die Fahrt zurück. Flussab nur noch ab und zu ein Stoß mit dem Paddel. Kein Wort fiel dabei. Das alles ist Erinnerung, heraufbeschworen in der Dauer eines Herzschlags, vergangen so rasch wie Wind, der durch ein Schlüsselloch zieht. Aber heraufbeschworen wodurch? Denn an das meiste erinnert man sich doch nie wieder.
2
Es war Frühling, fast noch Winter, und der Wind pfiff durch die Gassen der Stadt. Ich war nach langer Abwesenheit zurückgekommen und hatte zwischen zwei Verpflichtungen Zeit und fuhr, vom Stadtrand kommend, ins Zentrum. Es gab dort eine Bar, in der ich früher manchen Abend verbracht hatte, weil sie Budweiser vom Fass hatten und man so gut und ungestört an der Theke sitzen konnte. Am liebsten war ich dort, wenn ich den Tag über gearbeitet hatte. Zwar gefiel mir die zu laute und zu elektronische Musik nicht, aber nach ein paar Minuten nahm ich sie meist schon nicht mehr wahr, und dann war sie nichts mehr als ein Schirm, eine Hülle, die sich um mich legte. – Auch wenn es bereits dämmerte, war es an jenem Tag noch nicht Abend. Nur ein paar Tische waren besetzt, an der Theke saß niemand. Ich setzte mich, bestellte Kaffee und tat, was ich schon seit dem Eintreten getan hatte: Ich betrachtete die blau getünchte Wand gegenüber, auf der eine Reihe Lampen angebracht waren, die ich nie zuvor gesehen hatte und die in mir jene oben umrissene Erinnerung auslösten. Die Lampen bestanden aus je drei oder vier Einzelteilen, die wiederum aus je zwei miteinander verschweißten Schalen gefügt waren, außen von einem matten Braun, innen von einem leuchtenden Orange.

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Reinhard Kaiser-Mühlecker erzählt von menschlicher Schuld, dem Vergehen der Zeit und unserer Sehnsucht nach Erlösung.
In fünf hochgelobten Romanen hat Reinhard Kaiser-Mühlecker ein großes Epos der menschlichen Schuld geschrieben. In seinen drei Erzählungen verdichtet er die existentiellen Fragen: Wie wird der Mensch schuldig? Wie verketten sich Verfehlungen, Verschweigen, Gerüchte und Lügen zu einer Lebensgeschichte? Und ist jeder unausweichlich in sein vorgezeichnetes Schicksal verstrickt? Ein ängstlicher Verrat, eine Bösartigkeit, ein perfider Freundschaftsdienst lösen ein Unheil aus, das lange nachwirkt. Mit großer poetischer Kraft erzählt Kaiser-Mühlecker von der Sehnsucht, den alten Geschichten und der Vergangenheit zu entkommen und ein eigenes, freies Leben zu beginnen.