Wie würden Sie ›Die Frau, die nicht lieben wollte‹ beschreiben?
Das Buch ist eine Sammlung von 31 Geschichten, die in fünf Abschnitte unterteilt sind – von ›Anfänge‹ bis ›Verlassen‹. Die Geschichten können jede für sich gelesen werden und in jeder beliebigen Reihenfolge, doch wenn man sie vom Anfang bis zum Schluss liest, folgt man dem Lauf des Lebens, von der Geburt bis zum Sterben. Ich schreibe über die Probleme, die mir und den Leuten, die ich kenne am wichtigsten sind – und damit ist es vor allem ein Buch über das Leben: Es dreht sich um die Menschen, die wir lieben und die Lügen, die wir erzählen; die Veränderungen, die wir auf uns nehmen und den Kummer.
Wie kamen Sie dazu dieses Buch zu schreiben?Foto: Bettina von ZwehlNun, es gab persönliche und weniger persönliche Gründe.
Zu den persönlichen gehört, dass ich mittlerweile sechzig bin. Ich habe eine elfjährige Tochter und einen achtjährigen Sohn. Als ich in seinem Alter war, hatte mein Vater bereits zwei Herzinfarkte hinter sich; meine Mutter starb im Alter von vierundsechzig Jahren. Mir kam ein Gedanke: »Was, wenn meine Kinder in die Pubertät kommen, erwachsen werden und ich nicht mehr da bin – was würde ich ihnen sagen wollen? Was sollten sie wissen?«
Und so befassen sich die einunddreißig Geschichten in meinem Buch mit dem, was ich für die größten Probleme des Lebens halte – Probleme, denen wir uns alle stellen müssen. Und mehr noch: Ich nahm mir vor, eine Art zu denken darzustellen, eine Einstellung gegenüber sich selbst und der Welt, die ihnen und anderen nützlich sein würde.
Ich glaube, dass die Arbeit, die ich als Psychoanalytiker verrichte, für andere von Nutzen sein kann. Die Psychoanalyse erfordert viel Zeit und – in den meisten Ländern der Welt – viel Geld. Viele können sich keine Analyse leisten. Also wollte ich einige der wichtigsten Dinge, die ich selbst gelernt habe, auf eine Art und Weise zu Papier bringen, die all denjenigen etwas nützt, denen eine Analyse oder eine Therapie unmöglich ist.
Der Kritiker Michiko Kakutani beschrieb ›Die Frau, die nicht lieben wollte‹ in der New York Times als »Serie kurzer, bestechender Kapitel, die sich wie eine Kombination aus Tschechow und Oliver Sacks lesen.« Gibt es eine Verbindung zwischen dem Erzählen und der Psychoanalyse?
Die Menschen, die sich einer Psychoanalyse unterziehen, leiden an etwas. Und normalerweise ist ein Teil des Leidens die Tatsache, dass sie dieses Leiden nicht gut in Worte fassen können. Sie finden keinen Weg, ihre Geschichte zu erzählen. Die Schriftstellerin Karen Blixen sagte einmal »Alle Sorgen lassen sich erdulden, wenn man sie in eine Geschichte packt oder eine Geschichte über sie erzählt.« Aber was, wenn ein Mensch keine Geschichte über seine Sorgen erzählen kann? Was, wenn ihm das seine eigene Geschichte erzählt?
Wenn ich arbeite, versuche ich die Geschichten zu hören, die meine Patienten selbst nicht erzählen können und versuche dann, ihnen zu helfen, sie in Worte zu fassen. In ›Die Frau, die nicht lieben wollte‹ geht es um jene ungesagten Geschichten, für die wir nie die richtigen Worte fanden, weil uns niemand dabei half, sie zu finden. Wenn wir keinen Weg finden, unsere Geschichte zu erzählen, werden wir von unserer Geschichte erzählt – wir träumen dann von ihr und entwickeln Symptome; wir finden uns in Situationen wieder, in denen wir auf eine Art und Weise handeln, die wir selbst nicht verstehen.
Der ganze psychoanalytische Jargon – der übrigens in meinem Buch nicht zu finden ist – erscheint mir oft als Abweichung von der Eindeutigkeit unserer eigentlichen Sprache. Was ich in dem Buch versucht habe ist, bestimmte Geschichten so direkt und schnörkellos zu erzählen wie nur möglich. Selbstverständlich gibt es eine lange Tradition des Erzählens in der Psychoanalyse, und das fand ich schon immer sehr fesselnd. Aber anders als eine Fallgeschichte in ihrer Gänze nachzuerzählen, bemühe ich mich, das Spezifische in Augenschein zu nehmen, den Moment, besonders Momente des Wandels – oder in anderen Worten: Ich versuche auf dem Papier das zu tun, was ich in meiner täglichen Arbeit mit meinen Patienten mache.
Der Autor William Trevor antwortete auf die Frage nach seiner Definition der Kurzgeschichte: »Ich denke, sie ist die Kunst des flüchtigen Blicks. Sie sollte eine Explosion der Wahrheit sein. Ihre Kraft liegt gleichermaßen in dem, was sie auslässt und in dem was sie aufnimmt, vielleicht sogar in etwas weiterem. Sie befasst sich mit der vollständigen Ausklammerung der Bedeutungslosigkeit.«
Beim Schreiben ging mir das oft durch den Kopf.
Sind ihre Geschichten wahr?
Wenn ich schreibe, versuche ich einer emotionalen Wahrheit Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Und gleichzeitig verwende ich große Sorgfalt darauf, die Vertraulichkeit meiner Patienten zu schützen; meine Geschichten kommen stark verkleidet daher. In ›Die Frau, die nicht lieben wollte‹ habe ich Namen geändert und alle Einzelheiten, die Rückschlüsse auf die Personen zulassen könnten, umgearbeitet, um ihre Anonymität zu bewahren. Wenn es nötig war, habe ich Details hinzugefügt oder die Handlung an einen anderen Ort und in eine andere Zeit verlegt. Mein Ziel war es, die Privatsphäre meiner Patienten zu schützen, ohne die Natur unserer gemeinsamen Arbeit zu verzerren. Wenn ich mir unsicher war, zeigte ich ihnen einen Entwurf dessen, was ich schreiben wollte und lud sie zu Kommentaren und Rückmeldungen ein – und alle waren dazu bereit, ihre Erfahrungen zu teilen; viele äußerten sogar die Hoffnung, dass ihre Geschichte anderen helfen würde.
In Ihren Geschichten legen Sie besonderen Wert darauf, auch Ihre eigenen Emotionen, Gefühle und Gedanken neben denen Ihrer Patienten zu berücksichtigen. Warum?
Ich habe meine eigenen Gefühle miteinbezogen, weil ich sie dazu benutze, um meine Patienten besser zu verstehen. Darüber nachzudenken, wie ich mich mit einem Patienten fühle, ist ein wichtiger Teil der Psychoanalyse.
Ein Beispiel: In meinem Buch erzähle ich das Leben eines Patienten, nennen wir ihn Graham C., der langweilig war. Er kam zu mir, weil ihm seine Freundin gesagt hatte, er sei langweilig, sein Chef hatte ihm gesagt, er sei langweilig. Und er war langweilig. In der Geschichte beschreibe ich den Effekt, den Graham auf mich hatte: Ich empfand die Sitzungen mit ihm zunehmend als dröge und stumpf. Langeweile ist nicht mit Schläfrigkeit zu verwechseln. Für mich ist sie eine körperliche Reaktion, die viel eher mit Übelkeit verwandt ist.© Carla NagelLangeweile ist jedoch ein nützliches Werkzeug für den Analytiker. Sie kann ein Anzeichen dafür sein, dass der Patient ein bestimmtes Thema vermeidet; er oder sie ist nicht dazu fähig, direkt über etwas Intimes oder Beschämendes zu sprechen. Oder es kann bedeuten, dass sich Analytiker und Patient in einer Sackgasse befinden; der Patient kehrt wieder und wieder zu Dingen wie einer Sehnsucht oder einem Kummer zurück, die der Analytiker anzugehen versäumt. Eine langweilige Person könnte auch Neidgefühle haben und das Gespräch torpedieren – indem man ständig unterbricht oder die Konversation lähmt –, weil er oder sie es nicht ertragen kann, dass eine hilfreiche oder zwingende Idee nicht von sich, sondern von jemand anderem kommt. Oder der langweilige Patient spielt tote Maus – genauso wie es Tiere gibt, die in der Wildnis überleben, indem sie sich tot stellen, gibt es Menschen, die im Zustand der Angst schlicht und einfach abschalten.
Es zeigte sich, dass Grahams Langweiligsein ein Mittel für ihn war, um andere zu kontrollieren und auszuschließen: zu sehen, aber selbst nicht gesehen zu werden. Und es diente noch einem weiteren Zweck. Besonders im Rahmen seiner Psychoanalyse schützte ihn das Langweiligsein davor, präsent zu sein – anzuerkennen, was im Raum passierte. Graham war langweilig, weil er entweder in der Zukunft oder in der Vergangenheit lebte – er ließ gegenwärtiges nie wirklich an sich heran.
Um Graham zu verstehen musste ich mich selbst fragen: Warum hatte er es nötig, mich zu langweilen?
Eine der zentralen Thesen des Buchs ist, dass wir uns ändern müssen, um unser Leben zu leben – diese Veränderung aber für schwierig halten. Warum ist Veränderung so schwer, und wie kann die Psychoanalyse helfen?
Veränderung ist aus mehreren Gründen schwierig. »Ich will mich ändern, aber nicht wenn das Veränderung bedeutet«, sagte einmal ein Patient zu mir – in völliger Arglosigkeit. Manchmal fühlen wir uns in unseren eigenen Leben wie gefangen. Wir wollen uns verändern, stäuben uns aber dagegen. Ein Grund dafür, weshalb Menschen sich Veränderungen widersetzen ist, dass jede Veränderung einen Verlust beinhaltet. Es gibt schlicht und einfach keine Veränderung ohne Verlust. Es kann hart sein, das zu erkennen, und noch härter, es einzusehen.
In der Psychoanalyse geht es nicht darum, einen Patienten zur Veränderung zu überreden; es geht darum die richtigen Fragen zu stellen, um den Patienten dabei zu helfen, herauszufinden, was sie von Veränderung abhält. Ich versuche, meinen Patienten dabei unter die Arme zu greifen, auf eine neue Weise zu denken – damit sie auf eine neue Art handeln können.
Ist ›Die Frau, die nicht lieben wollte‹ ein Selbsthilfe-Buch?
Früher gab es kein Genre mit dem Namen ›Selbsthilfe‹. Um Geschichten darüber zu finden, wie andere Leute lebten, lasen wir Bücher.
Ein gutes Buch ist für mich eines, das die Fähigkeit besitzt, uns dabei zu helfen, Dinge neu zu sehen und damit auch neu zu denken – Bücher können uns helfen, die Dinge anders zu sehen, anders zu denken; zu hoffen. Das ist es, was auch in der Psychoanalyse geschehen kann. Ich hoffe, dass ›Die Frau, die nicht lieben wollte‹ den Leuten hilft, die Dinge anders zu sehen.
© 2014, Stephen Grosz
Aus dem Amerikanischen von Jacob Thomas

Wie wir uns verlieren und wiederfinden:
Einzigartige, wahre Fallgeschichten von der Couch.
Wenn Amanda nach Hause kommt, glaubt sie, dass ihre Wohnung in die Luft fliegt. Niemand hört Graham zu. Daniel verliert seinen Geldbeutel und will es nicht wahrhaben: In den Merkwürdigkeiten unseres Verhaltens zeigt sich das Unbewusste. Dort liegen unsere Probleme verborgen, aber auch ihre Lösungen.
Der Psychoanalytiker Stephen Grosz hat über 50 000 Stunden Therapiegespräche geführt und nun die Essenz daraus gezogen. Eine kostbare Sammlung von Geschichten, die Einblicke in die menschliche Natur gibt und uns gleichsam das Leben lehrt.