
Eines Tages entdeckte ich im Gebüsch vor dem Spielplatz etwas, das aussah wie eine Papiertüte, die sich bewegte, obwohl es windstill war.

Als ich stehenblieb, um zu sehen, warum sich das Ding bewegte, hörte ich es rascheln.
Erst dachte ich, es sei ein Tier in einer Tüte oder eine Tüte auf zwei Beinen.
Dann dachte ich, weil ich mittelängstlich bin, es wäre der Tod (der Tod mit zu kurzen Armen).
Auf jeden Fall war da etwas, das sich nicht zeigte und das sich trotzdem bewegte, ganz ohne Wind, weswegen es lebendig sein musste. Denn was sich von alleine bewegt, lebt, oder?
Die Wahrheit ist, das muss ich noch erzählen, dass ich eines Morgens – wie sonst auch saß auf dem Dach gegenüber eine Amsel – anders aufwachte als sonst …
… struwwelig und irgendwie falsch herum. Was ich verloren hatte, lässt sich schwer beschreiben. Ein bisschen – alles. Oder alles in einer ganz bestimmten Weise. Mir war, als wüsste ich nicht mehr, wie die Dinge ordentlich zusammengehören oder was genau was ist oder in welcher Reihenfolge man etwas tun sollte.
Es war nicht so, dass ich nichts mehr zustande brachte oder andauernd etwas zerbrach.
Ich schaute die Sachen an wie immer, ich wusste auch, was ich tun musste, aber dann vergaß ich es und ging in strömendem Regen mit dem geschlossenen Schirm in der Hand –.
Vielleicht habe ich, weil alles anders war, dieses Ding oder Wesen im Gebüsch am Spielplatz überhaupt gesehen. Es gibt Zeiten, da sieht man fast nichts. Es gibt Zeiten, da findet man alle Nase lang etwas auf der Straße, Geldstücke, Knöpfe.
Und dann ging ich wieder am Spielplatz vorbei. Es war ganz leise, viel zu leise dafür, dass ich mitten in der Stadt war. Und es raschelte wieder. Ich sah aber nichts. Dann sah ich eine Ratte davonrennen.
Es raschelte aber immer noch, und ich hörte auch etwas wie eine Stimme. Ein Stimmchen, genauer. Dann sah ich eine weiße Tüte, die mir bekannt vorkam. Und dann sah ich: eine Tüte mit Füßen und Flügeln!
Das Merkwürdigste war aber: Die Tüte mit Flügeln und Füßen hatte rotlackierte Fußnägel!
Na hör mal! – entfuhr es mir laut. Warum hast du denn rotlackierte Fußnägel? – Und ich beugte mich hinunter, um besser sehen zu können. Ksss! …
… sagte das Geschöpf und streckte mir ärgerlich einen Flügel hin. Siehst du nicht? Ich habe keine Hände! Nur Flügel! Wo soll ich den Nagellack denn sonst hinmachen?
Ich bückte mich fast bis zu den Füßen von dem Geschöpf – die Stimme kam mitten aus der Tüte. So weit ich erkennen konnte, gab es keinen Kopf.
Ksss!, machte das Wesen noch einmal. Was suchst du denn? Den Mund, wollte ich sagen, aber da hatte ich schon das Gesicht gefunden, zwei Augen, eine Nase, einen Mund.
Gerade wollte ich die Hand ausstrecken, um das Ding anzufassen – da war es plötzlich auf einmal verschwunden.
Ich sah es noch einmal rot aufblitzen aus dem Gebüsch, das war alles. Nichts bewegte sich mehr, und alles kam mir verlassen und leer vor.
Erst wusste ich nicht recht, wieso ich so enttäuscht war. Dann begriff ich, eigentlich hatte ich auf ein Wunder gewartet.
Auf was für ein Wunder?, fragten mich meine Kinder, als ich ihnen endlich von meiner Begegnung mit dem Tütenengel erzählte.
Sie packten mich bei der Hand, liefen mit mir zum Spielplatz, wollten wissen, wo er genau gestanden hatte und suchten lange im Gebüsch nach ihm. Ksss!, machte es einmal. Aber wir sahen nichts.
Müde und enttäuscht setzten wir uns nebeneinander auf das Mäuerchen des Sandkastens. Es war eh alles durcheinander, sagte ich zu meinen Töchtern. Warum?, fragten sie. Manchmal ist alles durcheinander, und manchmal sieht man Tütenengel, antwortete ich.
Philippa nickte und sagte: Ja, heute habe ich im Kinderladen mit Kira gestritten!
Und ich, rief Annabelle, ich bin beim Balancieren ausgerutscht, obwohl ich es schon so gut kann, und ich habe mir das Knie aufgeschlagen, blutig!
Philippa und ich guckten das schorfige Knie an. Dann saßen wir schweigend da und schauten über den leeren Spielplatz. Und plötzlich bewegte sich die Schaukel!
Verblüfft und ein bisschen erschreckt starrten wir zum Schaukelbrett. Der Tütenengel schaute zu uns herüber und flatterte mit seinen Flügeln, um nicht den Halt zu verlieren.
Der Tütenengel!, schrien die Kinder und rannten hin. Wartet doch!, rief ich, aber sie waren schon davon –
Und der Tütenengel flog auch davon, über den Zaun hinweg, mit einem empörten und spöttischen Ksss!
Hand in Hand kamen die beiden zurück. Wir haben noch, sagten sie, seine roten Fußnägel gesehen. Wirklich, rote Fußnägel!
Weg ist weg, sagte ich. Vielleicht war es ja auch doch nur eine Taube. Nein!, riefen die beiden empört. Es war ein riesengroßer Engel, sagte Annabelle. Mit roten Fußnägeln, rief Philippa.
Eines Abends, als der Mond riesig am Himmel stand – wir erzählten uns, wie Annabelle als kleines Kind, wenn wir um eine Straßenecke gebogen waren, ausgerufen hatte: Schau! Noch ein Mond! –, sahen wir über den Hausdächern den Tütenengel fliegen. Er schimmerte im Mondlicht. Man konnte deutlich erkennen, wo von der Tüte ein Stück abgerissen war.
Und wenn jemand den Tütenengel fängt und zusammenknüllt – ist er dann tot?, fragte Annabelle, ist er dann irgendwo im Gebüsch tot?
Wir haben ein bisschen Angst um ihn. Neulich dachten wir, wir hätten ihn gesehen. Aber er war nicht deutlich zu erkennen, und wahrscheinlich hat uns der Mond getäuscht.
15. Dezember 2011 – 20. Januar 2012

Ein Dorf im Odenwald, ein Kind, das mit seinen Brüdern, Eltern und Großeltern dort die Sommer verbringt. Doch diese äußerlich noch unversehrte Welt der Sicherheit und stillen Schönheit ist von feinen Rissen durchzogen, aus denen Ängste und Träume steigen. Unheimlich sind die Keller unter den Häusern, das »Teufelsgrab« am Ortsrand, der dunkle Wald, durch den der Jäger geht. Unverständlich sind die Gebräuche und Gespräche der Erwachsenen. Und auch die eigene Familiengeschichte führt tief in eine Zeit der Vertreibung und des Schreckens, wenn die Großmutter erzählt.
Katharina Hackers behutsame und eindringliche »Dorfgeschichte« hat ihren ganz eigenen Ton. In der dichten Darstellung der kleinen Welt des Dorfes stellt diese Autorin die Frage nach den großen Dingen – nach Geborgenheit und Einsamkeit, nach Liebe, dem Leben und dem Tod.