Aktueller olympischer Boden und historischer Grund
Eine »Gegend für den Wintersport« sei dies hier gewiss nicht, ärgerte sich ein deutscher Biathlet bei der Generalprobe, ein Jahr vor der Eröffnung der Fünf-Ringe-Sause im südkoreanischen Pyeongchang. Aber für die Athleten werden die Spiele ohnehin nicht gemacht, fügte er hinzu. Es klang reichlich desillusioniert.
Die richtigen Gegebenheiten für den Wintersport boten die Gastgeber zuvor auch nicht wirklich, weder Sotschi 2014 mit seinen Palmen, noch Vancouver 2010 und Turin 2006 mit ihrem Großstadtgigantismus und den ausgelagerten Skigebieten, noch Salt Lake City 2002 mit George W. Bushs politischer Instrumentalisierung nach Nine-Eleven. Wahre Sportfans mögen sich immerhin trösten, dass die olympischen Herrschaften kaum eine groteskere Vergabe zustande bringen könnten als ihre Entscheidung für Peking 2022. Die Winterspiele in der Megacity – weiter entfernt von Chamonix, St. Moritz, Garmisch-Partenkirchen, Cortina d’Ampezzo vermögen die fünf Ringe nicht mehr zu fallen. Ein zweiter deutscher Biathlet kommentierte ironisch, nachdem das Internationale Olympische Komitee (IOC) aus dem Munde seines Präsidenten Thomas Bach von einer »exzellenten Kandidatur« geschwärmt und der chinesischen Smogmetropole den Zuschlag erteilt hatte: »Schön zu sehen, dass die Winterspiele wieder an einen traditionsreichen Ort vergeben wurden.«
Tradition hatte in Pyeongchang nur der Wald. Für ein paar Tage Skirennen mussten jedoch große naturgeschützte Teile weichen, dem Massaker mit der Kettensäge fielen 50.000 Bäume, darunter viele jahrhundertealte, zum Opfer. Die Nachhaltigkeit und die ökologischen Feinfühligkeiten, vom IOC mit Werbegetöse hinausposaunt, waren schon früher und zuletzt in Sotschi kaum mehr als Lippenbekenntnisse zur Simulation globaler Verantwortung. In Pyeongchang kostete allein der Bau des Stadions, das nur für Eröffnungs- sowie Schlussfeier genützt und danach abgerissen wird, achtzig Millionen Euro.
Ja, Chamonix ist weit weg. Dort begann 1924 die Geschichte der Olympischen Winterspiele – unter Pseudonym. Da die damaligen Herren der Ringe unter der Führung ihres Begründers Baron Pierre de Coubertin vom Hellenismus auf Eis und Schnee wenig hielten, stimmten sie nur einer »Wintersportwoche« unter ihrer Patronanz und als Vorläufer der Spiele von Paris zu.
Die skandinavischen Vertreter hatten sich stets gegen eine Konkurrenz ihrer, ab 1901 durchgeführten, »Nordischen Spiele« gewehrt; den meisten ihrer Kollegen erschienen dezidiert winterliche Sportarten geographisch zu eingeschränkt. Nur den Eislauf, seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mondänes Vergnügen der Moderne, sahen sie als Teil ihrer Stadionwelt. 1908 war er in London olympisch (die Nennung der Jahreszeit der Spiele erübrigte sich, stand doch alle vier Jahre nur eine einzige Ausgabe auf dem Programm).
Zum Alpinismus, Skilauf und Schlittenfahren zogen immer mehr Menschen der gebildeten urbanen Schichten sowie der reichen Gesellschaft hinaus, auf den Arlberg und wie Ernest Hemingway ins vorarlbergische Montafon, in kleine Orte oder größere Dörfer wie Davos und St. Moritz. Dorthin folgte ihnen Olympia.
Die ersten Gastgeber, Chamonix und St. Moritz, hatten im übersichtlichen Rahmen Platz für Mondänes und Populäres. Ins französische Bergdorf unter dem Mont Blanc führte seit 1901 die Eisenbahn, von Paris aus war es fast eine Tagesreise. Zur Eröffnung der Spiele zogen die Teams aus sechzehn Nationen in den Gassen durch das Publikumsspalier. Ihre Sportgeräte hatten sie mit, als müssten sie Anschauungsunterricht erteilen: Skier geschultert, Curlingbesen in der Hand, der besetzte Bob von einem Pferd gezogen. Die »Wintersportwoche« verbuchten Organisatoren und Presse als Erfolg, ein Jahr später erklärten sie die Olympier nachträglich zu ihren ersten Winterspielen.
Über die zweiten, 1928 in St. Moritz, drehten Arnold Fanck und Othmar Gurtner den Film »Das weiße Stadion«. Von den ersten Sequenzen an illustrierten sie die Verbindung von kaum berührter Natur und technischer Moderne, Mondänem und Populärem. Ein Zug kommt im bukolischen Ambiente an, ein Stöckelschuh an einem elegant bestrumpften Bein steigt das Waggontreppchen herab, dann belebt sich der Perron mit Touristen und Athleten. In der Geschäftsstraße erfolgt die sportliche Verwandlung, ein gutgekleideter Herr betritt eine Boutique und kommt als Eishockeycrack heraus, die Stöckelschuhe der jungen Dame finden sich in Schlittschuhe übergeblendet. Der Sport, der sich mit den Phänomenen der Moderne, mit Urbanisierung und Motorisierung, mit Massenmedien und Tourismus entwickelt hatte, war in Winterolympia angekommen.
Und mit ihm die Politik. Die vorgeblich friedensbewegten Herren ließen 1924 die Deutschen nicht teilnehmen, denen sie die Schuld am Weltkrieg gaben. Neu war dies unter den fünf Ringen nicht. Zur Gründung des IOC hatte Coubertin 1894 keine Deutschen nach Paris geladen, da ihn die französische Niederlage von 1870/71 schmerzte. Die ersten Spiele, in Athen 1896, kritisierten die Türken als Organisation der griechischen Diaspora zur Vorbereitung des Waffengangs. Tatsächlich heizten sie den Patriotismus gehörig an; zehn Monate nach der Schlussfeier landeten griechische Truppen auf der unter türkischer Herrschaft stehenden Insel Kreta.
Die Geschichte des modernen Olympia erzählt von einer steten Reihe politischer Zugriffe. Franklin D. Roosevelt hat die Winterspiele benützt, Hitler hat sie instrumentalisiert, de Gaulle hat sie gebraucht, Putin hat sie ausgenützt und vorgeschoben.
Mit dem Fernsehen bemächtigte sich der Kommerz Olympias. Ab 1956 wurden Wettkämpfe übertragen, ab 1960 TV-Rechte bezahlt. Nach dem Ende des Amateurismus-Gebots stiegen ab den späten 1980er Jahren die TV- und Sponsor-Einnahmen des in Lausanne ansässigen IOC, einer Non-Profit-Vereinigung nach Schweizer Recht, in Milliardenhöhe.
Das Fernsehen simuliert nunmehr eine Nähe, als wäre Olympia noch ein Dorf. Sportstätten sind oft so weit voneinander entfernt, dass die Adepten verschiedener Disziplinen kaum miteinander Kontakte zu pflegen vermögen. Das TV vermittelt indes den Eindruck, es schalte gleich in die Nachbarschaft.
Mit dem Fernsehen kamen die Werbeeinschaltungen, mit ihnen die Konzerne und der Gigantismus. Waren es in Chamonix sechzehn Wettbewerbe, zu denen insgesamt dreihundert Athleten antraten, so sind es in Pyeongchang über hundert Konkurrenzen für mehr als dreitausend Sportlerinnen und Sportler (und mindestens dreimal so viel Begleitpersonal) aus fast hundert Ländern. Schon 1976 sah sich Innsbruck, das für das, ein finanzielles Desaster befürchtende Denver einsprang, zur Verkündung »einfacher Spiele« genötigt. Auch damals, wie seit Ende des Zweiten Weltkriegs oft, diskutierten die elitären alten Herren des IOC unter Avery Brundage, ob nicht die Winterspiele abzuschaffen seien: zu groß, zu viel Kommerz, zu wenig amateurhaft. Das einträgliche Geschäft wollten sie dann aber doch nicht sausen lassen.
Die Politik blieb, obwohl die Herren der Ringe als Meister des Fassadenschwindels andauernd das Gegenteil behaupteten. »Don’t mix sports and politics«, lautet der oberste Maximen-Stehsatz von olympischen und anderen Verbandsherren, die sich so ihrer Unabhängigkeit und der Herrschaft über ihre Sportsubjekte, die Athleten und Athletinnen, zu versichern trachten. Gilt es doch in ihrer neofeudalen, keiner demokratischen Kontrolle unterliegenden Runde das »Kulturerbe der Menschheit« als eifersüchtig geschütztes Monopol gewinnbringend zu betreiben.
Die Politik hat auch diesmal bei der Bewerbung mitgemischt. Als sich die Südkoreaner 2011 gegen München und das französische Annecy durchsetzten, war ihr gewichtigster Betreiber Kun Hee Lee, IOC-Mitglied und Chef von Samsung, der reichste Mann des Landes. Wegen enormer Steuerhinterziehung war er 2008 zu drei Jahren Gefängnis mit Bewährung verurteilt worden; im Konzern war er zurückgetreten, die Olympier hatten ihn ausgeschlossen – um kurz danach den Betrüger wieder aufzunehmen, denn die Regierung hatte ihn begnadigt. Als Begründung hatte Südkoreas Präsident im Fernsehen erklärt, man habe sich nicht gegen die Forderungen von Wirtschaft und Sport stellen können, denn die IOC-Mitgliedschaft von Kun Hee Lee sei von entscheidender Bedeutung für die Bewerbung von Pyeongchang. Aber auch dem Ethikkodex der Olympier entsprach sie nicht: Als einer der Top-Sponsoren des IOC hätte sich Samsung nicht für eine Kandidatur einsetzen dürfen.
Zum Sittengemälde passt, dass 2016 Pyeonchangs Organisationpräsident zurücktrat, da sein Transportkonzern in finanziellen Schwierigkeiten steckte, und dass ein Jahr vor den Spielen die Regierungschefin wegen Korruption verhaftet wurde. Zur Zeit sei die politische Lage im Land »verrückt«, sagte vor einem Jahr der Direktor des südkoreanischen Skiverbands.
Nun spielt also die Politik wieder mit den fünf Ringen: Der nordkoreanische Diktator öffnete kürzlich das Tor der Beziehungen zum Süden und lässt seine Sportler, Athletinnen und Funktionäre in Pyeongchang mitmachen. Sehr zur Freude der Olympier, die es ihrer völkerverbindenden Mission gutschreiben und ohnehin seit langem den Friedensnobelpreis anstreben. Zur Spiele-Entspannungspolitik schieben sie die eigenen Regeln beiseite, denn qualifiziert hat sich einzig ein Eislaufpaar aus dem Norden. Und sie lassen ihre Maxime der behaupteten politischen Abstinenz fallen, eine der gewichtigen Stützen ihrer Fassade. »Don’t mix sports and politics«, dieser Klassiker aus der Funktionärs-Trickkiste sei »von der olympischen Realpolitik so weit entfernt wie die Erde vom Mond«, schrieb kürzlich Thomas Kistner in der Süddeutschen Zeitung. »Hauptsache«, schließt er, »es lässt sich politisch ein bisschen Frieden simulieren.«
Die Beweggründe des plötzlichen Einlenkens sind womöglich nicht einmal Korea-Experten ganz klar – außer dass der Diktator im Norden zur Gelegenheit der Welt ein freundliches Gesicht zeigen und die Sanktionen gegen sein Regime gelockert haben will. Inzwischen hat Nordkorea die geplante gemeinsame Kulturveranstaltung zur Feier der Spiele wieder abgesagt. Beleidigende Berichterstattung im Süden sei der Grund.
Zur Erinnerung: Die Schlussfeier in Sotschi stieg am 23. Februar 2014, IOC-Präsident Thomas Bach fand die Spiele und offenbar auch Putin toll. Am selben Morgen erklärte Putin, die Krim müsse von der Ukraine zu Russland »zurückgeholt« werden, und setzte seine Truppen in Bewegung. Vier Tage später übernahm eine schwer bewaffnete Einheit die Kontrolle über das Regionalparlament der Halbinsel Krim.

Zur Winterolympiade 2018 in Pyeongchang – die große Kulturgeschichte der Winterspiele.
Rund ein Vierteljahrhundert hat es gedauert, bis sich neben den olympischen Sommer- auch Winterspiele etablieren konnten. Von dem anfänglichen Widerstand der Skandinavier, von Sportarten wie »Spezialfiguren« aufs Eis zu zeichnen, von den politischen Ersatzkämpfen im Kalten Krieg und der zunehmenden Rolle der Medien erzählt Klaus Zeyringer so kurzweilig wie anekdotenreich. Die Welt des Wintersports mit ihren Helden wie Toni Sailer oder Rosi Mittermaier und ihren tragischen Figuren wie »Eddy the Eagle«, ihren »Eishexen« wie Tony Harding und ihren »Eisprinzessinen« wie Nancy Kerrigan rückt Klaus Zeyringer in ihren kulturellen, sozialen und politischen Kontext. Ob Sportler wegen des Tragens von Reklame ausgeschlossen werden, ob neue Techniken eine Sportart revolutionieren, eines bleibt konstant: das Wetter, das Probleme macht.