Von Anfang an ging es mir darum, eine Welt zu entwerfen, in der es eine Insel gibt, auf der Meisen leben, die plötzlich nicht mehr singen. Diese Welt sollte sich in greifbarer Nähe befinden und sich, ausgelöst oder nur sichtbar gemacht durch dieses randständige Phänomen der verstummten Inselvögel, immer weiter von unserer Wirklichkeit entfernen, um schließlich an einem Punkt anzugelangen, an dem sich eine Vielzahl an Möglichkeiten eröffnet. Wichtig war mir dabei, dass diese Wandlungsprozesse nachvollziehbar bleiben. Das Schreiben war dann der Versuch, dieser Vorstellung von einer anderen Wirklichkeit gerecht zu werden. Zunächst erschien es mir, als könne dies am besten mit einem Erzählband gelingen, in dem unterschiedliche Figuren verschiedene Perspektiven einnehmen. Beim Schreiben hat sich das dann mehr und mehr zu einem zusammenhängenden Bild verdichtet. Andererseits wollte ich aber auch das Material und die verschiedenen Zeitebenen nicht zu eng miteinander verknüpfen, wodurch sich die offene Form des Romans erklärt.
An mehreren Stellen taucht ein Chor auf, es kommt das finnische Nationalepos, die Kalevala, vor, und natürlich der Film, den Susanne Sendler auf Uusimaa dreht. Welche Rolle haben die verschiedenen Kunstformen für dich beim Schreiben gespielt?
Beim Schreiben kommen für mich sehr viele Kunstformen zusammen – das wollte ich auch in dem Roman nicht ausklammern und einen Weg finden, all diese Einflüsse zuzulassen. Dabei ging es mir weniger um die Kunstformen an sich, sondern um spezifische Materialien, Fotografien, Filme, Bilder, die für die Protagonisten eine große Bedeutung haben und ihnen einen Zugang zu anderen Zeiten und Vorstellungswelten eröffnen, sozusagen einen physischen Zugang bieten. Das kann durch Berührungen geschehen, durch ein genaues Betrachten oder auch die Wahrnehmung eines bestimmten Geruchs. Das Betrachten und Versinken in etwas, das Schweifenlassen der Gedanken und das plötzliche Umschlagen zu einem Moment der Klarheit war etwas, das mich interessiert hat.
Susanne Sendler, die Dokumentarfilmerin auf Uusimaa, sagt an einer Stelle über ihre Arbeit: »Das Authentische, das ein Filmemacher einzufangen versucht, hinkt der Realität schon im Moment der Aufnahme hinterher und verkommt so zu einem normativen Zerrbild der Wirklichkeit.« Wie beurteilst du das literarische Schreiben im Vergleich zum Film?
Natürlich kann man im Dokumentarfilm auch schöpferisch arbeiten, Susanne Sendler gelingt es in meinem Buch ja letztlich auch. Aber es gibt im Dokumentarfilm genauso wie in der Literatur nun einmal diese Haltung, die mir unaufrichtig erscheint: die Annahme, dass man etwas einfach bloß abbilden kann, ohne dass darin auch gleich eine ganze (politische) Welt erzählt wird, oder besser eine Vorstellung von einer Welt, die eben ausgedacht ist. Diese Vorstellung kann öde sein oder gemein, oder eben auch hoffnungsvoll und schön. Besonders im Dokumentarfilm hat ja ein Bild, das man zeigt, eine unglaubliche Aussagekraft, gegen die man schwer ankommt, und die unter Umständen auch propagandistisch ausgenutzt werden kann. Bei der Literatur gibt es das zwar auch, aber es ist zumindest deutlicher, dass hinter dem Werk ein Autor steht.
›Die Meisen von Uusimaa singen nicht mehr‹ spielt mit Fiktion und Wirklichkeit und führt den Leser auch auf falsche Fährten – eine Insel namens Uusimaa findet man zum Beispiel nicht auf der Landkarte. Bist du gegen ein realistisches Schreiben?
Ich weiß gar nicht so recht, was das sein soll, realistisches Schreiben. Mich hat es stärker interessiert, schöpferisch mit meinem Material umzugehen und es mir auf diese Weise anzueignen. Das verlässt dann unter Umständen auch einmal den Boden der Tatsachen – manchmal aber auch nicht. Es gibt zum Beispiel immer wieder Versuche, die Insel in der Wirklichkeit festzumachen und über Atlanten zu lokalisieren. Im Verlauf des Romans wird auch eine Tür zu einem eher sciencefictionartigen Szenario aufgemacht, das aber mehr im Hintergrund abläuft.
Gibt es bestimmte Autoren, die dich beim Schreiben beeinflusst haben?
Ich habe während der Zeit, als ich den Roman geschrieben habe, viel gelesen. Dazu gehören Autorinnen und Autoren, die mit außerliterarischem Material arbeiten, wie W.G. Sebald, oder Naturwissenschaftler wie Carl von Linné und einige Film- und Medientheoretiker, aber auch Autorinnen und Autoren, die man nicht unbedingt zusammenbringt, wie Henry David Thoreau, Stanisław Lem, Astrid Lindgren und Warlam Schalamow.
Wie kommt es zu der Verlockung, die die finnische Insel Uusimaa in deinen Figuren auslöst? Geht es um eine Flucht aus dem Alltag, die Suche nach dem richtigen Leben?
Ich glaube, beides spielt eine Rolle: Der Eskapismus und der Suchreflex. Die Suche nach dem richtigen Leben im Falschen, wenn man das so ausdrücken möchte, ist etwas, das auf eine gewisse Weise alle Figuren im Buch umtreibt, auf unterschiedliche Wege führt und unterschiedliche Pläne entwerfen lässt, die manchmal auch vergeblich sind. Die evakuierte Insel Uusimaa steht dabei für eine neue Möglichkeit, nachdem ein Unglück geschehen ist. Das war mein Ziel: Alternativen zu formulieren, oder zumindest wieder den Wunsch zu entwickeln, eine Alternative zu entwerfen.
Am Beginn und auch am Schluss deines Romans steht ein Aufbruch: Die Meisen singen wieder, die Inselbewohner kehren zurück nach Uusimaa: Ein Ende, das Hoffnung macht?
Ich würde sagen, ja. Natürlich weiß man nicht, wie es weitergeht, sobald die Inselbewohner zurückgekehrt sind. Aber man steht an einem Punkt, von dem aus viele Entscheidungen getroffen werden können und die Alternativlosigkeit für einen Moment aussetzt – das hat natürlich schon etwas Hoffnungsvolles.

Eine Dokumentarfilmerin dreht auf Uusimaa ihren einzigen Naturfilm. Im heißesten Februar seit Menschengedenken trifft eine amerikanische Studentin in Berlin auf eine rätselhafte Chorgruppe. In Brüssel verlässt ein junger Filmemacher Frau und Kind. Franz Friedrich nimmt uns mit in eine einsame Waldhütte, auf einen finnischen Eisbrecher und in das Innere eines abstürzenden Flugzeugs. Und plötzlich, nach zwei Jahrzehnten unerklärbarer Stille, fangen die Meisen auf der Insel Uusimaa wieder an zu singen. Die Konturen einer Zukunft blitzen auf und die Zerwürfnisse unserer Zeit werden sichtbar. Dieser Debütroman legt vorsichtig eine neue Wirklichkeit über unsere alternativlos erscheinende Gegenwart.