Eröffnungsfeier und Kult – und dahinter die Geschäfte des IOC
»Neue Horizonte« ist das von einem amerikanischen Marketingexperten ausgesuchte Motto der Winterspiele von Pyeongchang. Bei der Eröffnungsshow war davon wenig zu bemerken; sie ging nach hinten los, als bestehe die Vergangenheit nur aus romantischen Geschichten, die zum Leitmotiv »Harmonie« tendieren würden.
Seit dem Beginn der umfassenden Mediatisierung und Kommerzialisierung – Ende der 1980er Jahre unter dem IOC-Präsidenten Juan Antonio Samaranch (von Adidas unter den fünf Ringen protegiert wie auch sein aktueller Nachfolger Thomas Bach) – setzt man auf Historienschlaglichter in einer sich von Mal zu Mal kitschig steigernden Aufführung. Die Steigerung entspricht der steten Superlativierung in den Medien und dem Wachstumsgebot im Kommerz.
Die Sportliturgie mit Prozession und heiligem Feuer wird zu einem neobarocken Technospektakel ausgeweitet. Einfache Sinnbilder geben Gemeinschaft vor, sie stellen Klischees der Gastgeber auf den Formelboden der Olympier: Völkerverständigung, Friede, Jugend, Freude, Fairness, Traum. Das ist die Fassade. Die Realität dahinter ist eine andere.
»Neue Horizonte« meint Absatzgebiete. Die Spiele von Pyeongchang, dann Tokio 2020 und Peking 2022 zeigen an, auf welche Weltgegend die kommerziellen Strategien ausgerichtet sind, jene der Top-Sponsoren, der Sportindustrie und des IOC selbst. Olympia ist ein Produkt, die fünf Ringe sind die global bekannteste Marke. Was Sportverbände interessiert, betonte kürzlich der Spiegel, »sind Wachstum, Fernseheinnahmen, Sponsorengelder«.
Für die TV-Rechte bis 2032 hat NBC dem IOC 7,75 Milliarden Dollar gezahlt. In Europa verkauften die Herren der Ringe ihre Spiele bis 2024 an Discovery für seine Bezahl-Sender und Eurosport für 1,3 Milliarden Euro. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen musste Sublizenzen erwerben, ihnen und dem Steuervolk ist nicht das ganze Weltkulturerbe frei zugänglich: Liveberichte von Eiskunstlauf, Snowboard, Short Track und Eishockey sind ARD und ZDF ebenso untersagt wie zwischen 19 und 22 Uhr Zusammenfassungen der Wettkämpfe; zudem dürfen die Beiträge in den Nachrichten zwei Minuten nicht übersteigen.
Vermarktet wird der schöne Schein. Dabei ist es sehr hilfreich, dass das IOC, vom schweizerischen Recht als Non-Profit-Organisation akzeptiert, sich seines Monopols völlig sicher sein kann, wenig besteuert und von außen kaum kontrolliert ist. Ende 2013 hat es Rücklagen von fast 700 Millionen Euro verkündet. Inwiefern derartige Reserven »gemeinnützig« sind, mag man die Olympier in Lausanne und die Behörden in Bern fragen. Wem nützt das Geld, wenn es in dieser Höhe gebunkert ist?
De facto kann sich das IOC wie ein autoritärer Staat verhalten, mit eigener Flagge und eigener Hymne. Die Spiele vergibt es in Lizenz; seine Charta lässt keinen Zweifel, wer einerseits das Sagen hat und wer andererseits das Risiko trägt. »Die Beschlüsse des IOC sind endgültig«, heißt es, und Regel 40 bestimmt: »Das IOC übernimmt keinerlei finanzielle Haftung.«
Unsere Gesellschaft verleiht dem Sport eine Sonderstellung, »die es ihm in der Praxis ermöglicht, sein Geschäft außerhalb der Rechtsstaatlichkeit zu führen«, bilanziert Thomas Kistner von der Süddeutschen Zeitung.
Bei der Eröffnungsshow sind es in Pyeongchang wieder die Kleinen, die ins märchenhaft Olympische ziehen. In Albertville sang 1992 eine Neunjährige die Marseillaise mit dem Vers von der blutrünstig erhobenen Standarte. Zwei Jahre später las Liv Ullmann in Lillehammer Kindern eine nordische Sage vor. In Nagano zogen 1998 »Schneekinder« in die Arena ein; und 2002 übermittelte in Salt Lake City ein »Lichtkind« die Survivor-Botschaft nach 9/11.
Pyeongchang folgt den putzig emotionstreibenden Vorbildern. Es treten fünf Kinder auf, die vorgeblich durch die Geschichte Koreas begleiten und mittels der immensen Choreographie in eine traumhafte Zukunft. Die Techno-Show spielt alle Stückeln, Lichtdome und Feuerwerk, Ornament am Boden und in der Luft. Aus aufflirrenden Glühwürmchen ersteht ein Sternenzelt. Beim „Kulturerbe der Menschheit“, unter den fünf Ringen, tendiert schließlich alles ins Große und Kosmische. Entsprechend wissen TV-Kommentatoren, es seien »die größten Winterspiele aller Zeiten«. Man beschwört »alle Zeiten«, die Geschichte Koreas aber bleibt hinter der Fassade. Man feiert ahistorisch.
Und kultisch. Mythen binden Profanes an Sakrales. Die älteste Bronzeglocke Koreas läutet das Event ein, im ganzen Land bimmelt es für Olympia. Zahm tritt der weiße Tiger der heimischen Mythologie auf, ein Papiertiger von einem halben Dutzend Statisten getragen. Daraufhin sieht man die fünf Kinder leuchtenden Gesichts in eine geheimnisvolle Höhle schreiten und die Verbindung mit der Natur signalisieren (als seien nicht zigtausende alte Bäume in einem Naturschutzgebiet für die Skiabfahrt gefällt worden).
Rhythmisiert von traditionellen Trommeln schafft das riesige Ballett im Stadionrund ein Abbild der koreanischen Flagge. Es folgt der Einzug der Nationen, eine Parade im Fähnchenschwingen. Am meisten Beachtung findet selbstverständlich das vereint getragene Banner der Nord- und Südkoreaner.
Nachdem alle Delegationen auf der Tribüne Platz genommen haben, stechen viele freie Plätze rot hervor. Von den 153 deutschen Athletinnen und Athleten sind nur 90 ins Stadion eingezogen. »Was einen an das falsche Versprechen erinnert, die solche Eröffnungsfeiern nun mal sind«, kommentiert die Süddeutsche Zeitung. Die Idee, dass alle in der Arena mit Gleichgesinnten feiern, sei eben nicht mehr als eine Idee.
Dann spielt die Show in ihrer neobarocken Sinnbild-Üppigkeit der Vereinfachung den »Fluss der Zeit« vor, wie auch das beliebteste Volkslied des Landes heißt. Ein Achtzigjähriger im traditionellen Kostüm singt es. Nach der Tradition die Zukunft, in deren Traumwelt sich die fünf Kinder aufmachen: ein Technologiemärchen vom choreographierten Menschen.
»Im Sport sind wir alle gleich«, ruft IOC-Präsident Thomas Bach, Gleichster unter Gleichen, in seiner Rede.
Das Spektakel ist eröffnet. Wie bei fast allen Winterspielen seit 1924 meldet sich das Wetter mit Gewalt. Auf den Wettkampfstätten bläst der kalte Wind. Alpinrennen werden verschoben, Skispringer verweht. Einige Konkurrenzen finden zu später Stunde statt und nicht zur sonnigen Tageszeit, wenn es für den Sport und die Athleten besser wäre. Die aber sind nicht die Priorität des IOC – das sind vielmehr Vermarktung und TV-Quoten.
Simon Ammann, Doppelolympiasieger von 2002 und 2010, muss so lange im Anlauf sitzen, dass er fast auf dem Balken festgefroren wäre, wie er sagt. Fünfmal wartet er bei minus 11 Grad vergeblich auf grünes Licht. Die Konkurrenz endet nach Mitternacht, beim Jubel um den deutschen Sieger Andreas Wellinger (bei der Eröffnungsfeier nicht dabei, sondern im Warmen) sind die Publikumsränge nur noch schütter besetzt. Auch die Biathletin Laura Dahlmeier (ebenfalls bei der Eröffnung im Warmen) feiert ihr zweifaches Gold innerhalb von drei Tagen nicht gerade vor einer üppigen Zuschauerkulisse, wie sie es vom Weltcup gewöhnt ist.
Für Deutschland lässt sich die Nationenwertung sehen. In den Medien der traditionellen Wintersportländer zieht der Patriotismus gehörig an.
Man ist auf dem Boden olympischer Tatsachen angekommen.
Olympia ist Geschäft, Olympia ist Kult.
In Asien die neuen Absatzmärkte, im Kult die üblichen Fassaden.
Als Thomas Bach vor vier Jahren die »Agenda 2020« des IOC vorstellte, rief er: »Coubertin ist mitten unter uns!« Dieser Heiland würde allerdings den heutigen Gigantismus und den Kommerz wenig schätzen.
Kult funktioniert toll. Er wendet sich an die Sinne, nicht an den Intellekt. Das Konservative im Menschen sind die Sinne, nicht der Intellekt. Kult lässt sich nicht kritisieren, Kult bewegt sich in einer abgehobenen Sphäre, Kult lässt sich gut verkaufen. Die Rückbindung an die Antike und an Coubertin bedeutet: Wir sind die Priester dieses Erbes.
Im Olympischen Museum in Lausanne gibt es kein einziges kritisches Wort. Der Kult schreibt sich seine eigene Geschichte schön.

Zur Winterolympiade 2018 in Pyeongchang – die große Kulturgeschichte der Winterspiele.
Rund ein Vierteljahrhundert hat es gedauert, bis sich neben den olympischen Sommer- auch Winterspiele etablieren konnten. Von dem anfänglichen Widerstand der Skandinavier, von Sportarten wie »Spezialfiguren« aufs Eis zu zeichnen, von den politischen Ersatzkämpfen im Kalten Krieg und der zunehmenden Rolle der Medien erzählt Klaus Zeyringer so kurzweilig wie anekdotenreich. Die Welt des Wintersports mit ihren Helden wie Toni Sailer oder Rosi Mittermaier und ihren tragischen Figuren wie »Eddy the Eagle«, ihren »Eishexen« wie Tony Harding und ihren »Eisprinzessinen« wie Nancy Kerrigan rückt Klaus Zeyringer in ihren kulturellen, sozialen und politischen Kontext. Ob Sportler wegen des Tragens von Reklame ausgeschlossen werden, ob neue Techniken eine Sportart revolutionieren, eines bleibt konstant: das Wetter, das Probleme macht.