Abbildungen © S. Fischer Verlagsarchiv/ DLA
Brief von Rainer Maria Rilke an Hedwig Fischer
Paris, am 22. Dezember 1913
17 Rue Campagne Première, XIVe.
Liebe Frau Fischer,
im Herbst, in meinen letzten münchner Tagen war es, daß meine Frau einen Brief von Ihnen bekam: diesen Brief sollte ich lesen dürfen, aber ich reiste, und es wurde nichts daraus. So daß ich seit Ihren Zeilen vom Sommer, die noch vor jenem unfaßlich grausamen Ereignis, das dann bald über Sie muß hereingebrochen sein, geschrieben waren, nicht nur kein unmittelbares (sondern auch mittelbar) kein Wort von Ihnen sehen konnte. Und doch war mein Gedenken, an Sie sowohl, als an den guten Herrn Fischer, oft so voll von besorgten, bekümmerten Fragen, daß eine Antwort ein rechtes Wohlthun gewesen wäre. Hervorrufen wollte ich Sie nicht, denn es schien mir wahrscheinlich, daß Ihnen alles Schreiben zuwider, ja unmöglich sei. – Nun aber, unter der Annäherung des alten, trotz allem lieben Festes, zu dem wir uns immer ein paar Grüße hin- und widersandten, kann ich mirs nicht verwehren, mich mit einer Briefseite (auf die Sie gar nicht weiter erwiedern sollen) bei Ihnen einzustellen, mich in Ihrer freundschaftlichen Erinnerung an den gewohnten Platz verfügend und immerhin wünschend, daß Ihnen Christfeier und Jahreseinfang milde und herzlich sein mögen: um Tutti’s Willen, in deren Herzen allein ja auch schon wieder Leben und Zukunft ganz und unerschöpflich sind, so daß es kaum denkbar ist, sich, noch mehr vorzustellen, als das liebe Mädchen Ihnen entgegenbringt und entgegenlächelt.
Um kurz von mir zu berichten, so war ich noch über die hellerauer Claudel-Aufführungen hinaus, (die mich vielfältig interessierten) in Deutschland; erst seit der zweiten Hälfte Oktober find ich mich wieder in meiner pariser Einsamkeit, der ich für den Sommer ganz unerwartet und (wenn man sich vorstellt, was ich hier hätte arbeiten können) sehr mit Unrecht abtrünnig geworden war. Dafür habe ich nun alle Möglichkeiten und sogar Verlockungen, fortzugehen, blindlings ausgeschlagen, sitze, nicht ohne Unbehaglichkeit, in meinem unzulänglich erheizten Arbeitsraum und erwarte von einem, mit der Zeit hoffentlich unbändig guten Gewissen, daß es mir solche Standhaftigkeit, Absage und Einkehr reichlich entgelten werde.
Da ich gar nichts Neues abgeschlossen habe, so weiß ich Ihnen heuer rein nichts auf den Weihnachtstisch zu legen. Wollen Sie mit der endlich zustandegekommenen Neuausgabe meines ›Rodin‹ vorlieb nehmen?; der Text ist freilich der alte (nun schon wie alte, – was die Zeit vergeht!) aber die Bilderauswahl, an der Rodin selbst entscheidend betheiligt war, macht sein erneutes Auftreten und Dableiben halb und halb entschuldbar.
In alter Freundschaft
Ihrer Beider
ergebener Rilke.
Paris: 18.10.1913-25.2.1914
Brief von Ihnen: Nicht eruiert. – In München war Rilke vom 7.9. – 4.10.1913
Zeilen vom Sommer: Brief vom 15.7.1913. Darin hatte Hedwig Fischer Rilke für dessen jüngsten Gedichtband gedankt, der als Band 43 in der ›Insel-Bücherei‹ Anfang Juni 1913 erschienen war: ›Das Marien-Leben‹.
unfaßlich grausamen Ereignis: Tod Gerhart Fischers. Gerhart Fischer (geb. 27.8.1894) war das älteste der drei Kinder von Hedwig und Samuel Fischer. Er starb am 9.9.1913 an den Folgen einer Typhusinfektion.
hellerauer Claudel-Aufführungen: Am 5.10.1913 hatte Rilke, zusammen mit Lou Andreas-Salomé und Sidonie Nádherný von Borutin, die Premiere von Paul Claudels ›L’Annonce faite à Marie‹ in der Übersetzung Jakob Hegners besucht (Buchausgabe, erstmals 1912: ›Verkündigung. Ein geistliches Stück in vier Ereignissen und einem Vorspiel‹).
Neuausgabe meines ›Rodin‹: ›Auguste Rodin. Mit 96 Vollbildern‹, Leipzig, Insel-Verlag 1913. Erstmals war das Buch in der von Richard Muther herausgegebenen Reihe ›Die Kunst‹ mit 8 Abbildungen bei Julius Bard, Berlin, erschienen; gedruckte Widmung: »Einer jungen Bildhauerin. Paris, im Dezember 1902«.
Aus: Samuel Fischer und Hedwig Fischer: Briefwechsel mit Autoren. Herausgegeben von Dierk Rodewald und Corinna Fiedler. S. Fischer Verlag 1989.
Rainer Maria Rilke wurde am 4. Dezember 1875 in Prag geboren. Nach dem Abbruch des Studiums lebte er als freier Schriftsteller, reiste nach Florenz und Russland und hielt sich 1900/01 in der Künstlerkolonie Worpswede auf. 1902 trennte sich Rilke von seiner Familie und zog nach Paris, das in seinem unsteten ›Wanderleben‹ zeitweilig sein Hauptwohnsitz war. Dort war er 1905/06 auch Privatsekretär Auguste Rodins. Nach mehrfachen Sanatoriumsaufenthalten starb Rilke am 29. Dezember 1926 in der Klinik Val-Mont am Genfer See. Er gilt als der bedeutendste und einflussreichste deutschsprachige Dichter des frühen 20. Jahrhunderts.