gewertet. Der begeisterte Autor deutet das Ergebnis nicht allein als ein Wähler-Ja zu Europa, sondern gar als den möglichen Neubeginn eines paneuropäischen Selbstverständnisses. Wenn er nur Recht hätte.
Drei Tage nach der Wahl, am internationalen Tag gegen Rassismus, wurde in Amsterdam eine vom »Comité 21 maart« organisierte Demonstration gegen Rassismus und Diskriminierung ausgerichtet. Unter den etwa 2000 Teilnehmern liefen Organisationen wie Greenpeace, der Gewerkschaftsbund FNV und der Meldpunt Islamofobie mit. Nach Ansicht der Organisatoren haben die Niederlande ein Rassismusproblem; davon zeuge der Zugewinn von Parteien, die sich einer rechtspopulistischen, gegen Muslime und Flüchtlinge gerichteten Sündenbockpolitik bedienten. »Der Wahlkampf«, so heißt es in einer Verlautbarung, »wurde von Rassismus, Islamophobie und Wir-Ihr-Denken dominiert. Dessen haben sich Wilders, Rutte und Buma schuldig gemacht. Dagegen demonstrieren wir heute. « (Meine Übersetzung.)
Nicht nur Wilders, sondern auch Rutte? Als Wahlslogan von Mark Ruttes marktliberaler Partei VVD diente ein Imperativ: »Doe. Normaal.« Dieses Normaltun lässt sich nicht allein als ein Aufruf zur sprichwörtlichen Bodenständigkeit der Niederländer begreifen, sondern durchaus auch als Aufruf an alle Bürger, sich gefälligst an die Werte und Normen einer niederländischen Leitkultur zu halten. Am 22. Januar veröffentlichte Rutte einen offenen Brief an alle Niederländer, in dem er gegen all jene Asozialen Position bezieht, die sich nicht an das »Doe normaal«, die Verhaltensregeln des guten Niederländers halten. Ausdrücklich ist dabei die Rede von jenen Menschen, die ins Land gekommen seien und sich nicht anpassen wollten. Nachdem Rutte ein Bild des Immigranten als pöbelnden Belästiger skizziert hat, heißt es in seinem Brief: »Doe normaal of ga weg.« (»Benimm dich oder hau ab.«). Schon ein halbes Jahr zuvor richtete Rutte in der Interviewsendung Zomergasten an die Adresse von türkisch-niederländischen Demonstranten: »Wenn es dir hier nicht gefällt, verpiss dich!« (»als het je niet bevalt, rot je maar op!«)
Die Strategie ist deutlich: Während Rutte in einer Fernsehdebatte jede Koalition mit Geert Wilders‘ PVV kategorisch ausschloss und Wilders‘ politische Signatur als »Chaos« bezeichnete, sollten solche Auslassungen den potenziellen Wilders-Wählern suggerieren, dass sie bei der regierungserfahrenen VVD besser aufgehoben sein würden. Dabei ist die VVD nicht die einzige konservative Partei, die sich bei Geert Wilders‘ Erfolgsthemen bedient hat. Um ein Beispiel zu nennen: Rund anderthalb Wochen vor der Wahl verkündete der Parteichef der Christdemokraten (CDA), Sybrand Buma, die Absicht, das Singen der Nationalhymne in den Schulen wieder einzuführen. Damit hat Buma eine PVV-Forderung vom letzten November übernommen.
Der Niederländische Anwaltsverband (Nederlandse Orde van Advocaten) untersuchte vor der Wahl 13 Parteiprogramme zu ihrem Verhältnis zum Grundgesetz und kam zu dem Ergebnis, dass 40 Prozent der Programme gegen das Grundgesetz verstießen. Das betreffe vor allem das Recht auf freie Meinungsäußerung, die Glaubensfreiheit sowie die Freiheit und Gleichstellung aller Bürger. Dass das Programm von Wilders‘ PVV in der Analyse im roten Bereich liegt, dürfte kaum verwundern; aber auch die Programme der VVD, VNL, SGP und CDA werden zumindest in Teilen als bedenklich eingestuft. Die genannten Beispiele der Studie zielen durchweg auf eine Diskriminierung von Emigranten ab, vor allem von solchen aus islamisch geprägten Ländern, die den Programmen zufolge den Stempel einer Gefährdung der Niederlande tragen: ob dies nun den Entzug der niederländischen Staatsbürgerschaft betrifft oder den Stopp der ausländischen Finanzierung von Moscheen.
Handelt es sich um ein bloßes Säbelrasseln zu Wahlkampfzeiten? Nach der Wahl sorgte eine Äußerung des Eurogruppenchefs und noch amtierenden niederländischen Finanzministers Dijsselbloem (PvdA) für Wirbel. Nicht vor, sondern nach der Parlamentswahl unterstellte er den Südeuropäern, ihr Geld für Schnaps und Frauen auf den Kopf zu hauen. Solche Ansichten könnten auch von Thierry Baudet stammen, dessen unverblümt rassistische, jede Art von ethnisch-multikultureller Mischung ablehnende Partei Forum voor Democratie es immerhin zu zwei Parlamentssitzen gebracht hat. Bei einer Anhörung im EU-Parlament verweigerte Dijsselbloem jede Entschuldigung; er führte den Aufruhr um seine Äußerung auf ein mangelndes Verständnis für seine »niederländische Direktheit« zurück.
Sind all die scharfen Auseinandersetzungen im Parlament oder die Bedrohungen öffentlicher Personen der niederländischen Direktheit zuzurechnen? Jüngstes Beispiel: Die junge Bloggerin und GrünLinke Fraktionsmitarbeiterin Anne-Fleur Dekker ist untergetaucht, nachdem sie infolge einer von Geert Wilders über Facebook verbreiteten Fehlinformation – in entstellender Verkürzung behauptete Wilders, sie habe zu seiner Steinigung aufgerufen – konkrete Morddrohungen erhalten hatte. Spreche ich das Thema in meinem Freundes- und Bekanntenkreis an, fragt man mich verwundert, ob denn in Deutschland Politiker etwa nicht bedroht würden. Das seien die Taten gestörter Einzelgänger, für die man nicht viel mehr als ein Kopfschütteln übrig haben müsse. Ich frage mich, ob Anne-Fleur Dekker das ähnlich sieht.
Ganz ähnlich begegne ich als ein über den Rechtsruck besorgter Deutscher einer Relativierung des Wahlausgangs, die sich am besten mit dem Ausdruck »Het valt mee« zusammenfassen lässt: Alles halb so schlimm. Die Niederländer, so höre ich, seien Weltmeister der Relativierung. Die in die Koalitionsbildung involvierten Parteien rückten schon jetzt von ihren diskriminierenden Programmpunkten ab; selbst Thierry Baudet bekunde nun, da er im Parlament sitzt, offiziell seine Reue über rassistische Auslassungen. Mein Befremden darüber, dass der Extremist Baudet im Fernsehen von einem konservativen Kommentator als politisches Talent gelobt wird, wird mit einem »valt mee« beantwortet: Anders als in Deutschland werden politische Extreme nicht mit einem Ächtungsbann belegt, weil sich immer die niederländische Bodenständigkeit und die dem Land tief eingeprägte Konsenspolitik durchsetze, für die sich der Begriff »Poldermodell« eingebürgert hat: Schlussendlich müssten alle zusammenarbeiten und miteinander auskommen.
Also alles halb so schlimm? Mir fallen die erfolglosen Pegida-Märsche in Utrecht ein, an denen auch im wiederholten Versuch kaum jemand teilnimmt. Oder der Erfolg von GrünLinks (GroenLinks) unter ihrem jungen, charismatischen Parteichef Jesse Klaver, der sich für eine Umweltpolitik der Nachhaltigkeit, für eine Nivellierung der Einkommensschere und eine bedingungslose Aufnahme von Kriegsflüchtlingen einsetzt. Seine Partei konnte eine Vervierfachung der Parlamentssitze (von 4 auf 16) verbuchen und ist gegenwärtig als vierte Partei bei der Koalitionsbildung (neben der VVD, CDA und D66) im Gespräch. Allerdings wird Klaver von der eigenen Jugendorganisation vor einer Regierungsbeteiligung gewarnt; nicht nur sind die inhaltlichen Differenzen groß, man hat sicher auch den noch amtierenden Koalitionspartner der VVD als warnendes Beispiel vor Augen, die sozialdemokratische PvdA (Partij van de Arbeid).
Aber auch der Stimmenzuwachs von GrünLinks kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Parlament insgesamt nach rechts rückt. Nicht allein wird Wilders‘ PVV zweitstärkste Fraktion; bemerkenswert ist auch, dass die Regierungskoalition von VVD und der PvdA abgestraft wurde und 37 von 79 Sitzen verliert. Das geht vor allem aufs Konto der Sozialdemokraten, die ein Debakel historischen Ausmaßes erlebt haben und nur noch neun der bisher 38 Parlamentssitze halten können. Die drei linken Parteien – GrünLinks, PvdA und die Sozialisten SP – stellen zusammen weniger Sitze als nur die PvdA vor der Wahl.
Da darf es durchaus seltsam anmuten, dass die deutsche SPD den niederländischen Wahlausgang feierte, als hätte es keinen Untergang der niederländischen Schwesterpartei gegeben. Seit der Regierungskoalitionsbeteiligung hat die PvdA in Gemeinde- und Provinzwahlen an Stimmen verloren. Hat sich die Partei ein Glaubwürdigkeitsproblem eingehandelt, indem sie die Einsparungen der marktliberalen VVD, beispielsweise im Krankenkassensystem, als Maßnahmen gegen die Wirtschaftskrise mitgetragen hat? Sicher half es auch nicht, dass noch im Dezember der bisherige Spitzenkandidat Diederik Samson trotz seiner Aufholjagd in den Umfragewerten parteiintern abgewählt wurde. Sein Nachfolger, Lodewijk Asscher, verkündet nun, zu sozialdemokratischen Grundtugenden zurückkehren zu wollen.
Vieles spricht dafür, dass die europäische Krise der Sozialdemokratie – man darf auf Programm und Erfolg der SPD unter Schulz gespannt sein – mit dem Erfolg der Rechtspopulisten verknüpft ist. Deren Anziehungskraft ist nicht allein mit der inszenierten Drohkulisse einer islamischen Invasion zurückzuführen, welche ein Europa mit offenen Grenzen heimsuche, sondern auch auf eine Absage der Wähler an die neoliberale Marktkonformisierung von Politik überhaupt. Sie hat zur Angleichung der großen Volksparteien geführt und dem Rechtspopulismus politische Räume geschaffen.
Muss es nicht eigentlich zu denken geben, dass sich die Parolen der Rechtspopulisten Westeuropas bis in die Rhetorik mit den dezisionistischen Machthabern in Mitteleuropa decken? In Victor Orbáns ungarischer Fidesz-Partei, der PiS in Polen, der aus linken Nationalisten und Neofaschisten gebildeten Regierung der Slowakei und dem aggressiv-nationalistisch regierten Kroatien findet sich jenes populistisch orientierte, nationalistische und antiliberale Demokratieverständnis an der Macht, das sich auf Parteibasis über ganz Europa ausbreitet. In den genannten Ländern lässt sich beobachten, wie im Namen des Volkes gegen die heraufbeschworenen Bedrohungen des Terrorismus, der Migration, der Globalisierung und des kulturellen Kosmopolitismus der Rechtsstaat demontiert wird. Und muss es nicht auch zu denken geben, dass von den hiesigen wie dortigen Rechtspopulisten eine Spaltung der Gesellschaft in elitäre Gewinner und eine Mehrzahl von Abgehängten konstatiert wird? Man denke an Orbáns und Kaczynskis Absage an die Mantras der neoliberalen Marktkonformität von Politik. Ökonomisch sind diese Parteien links; sie betonen ihre Aufmerksamkeit für die sozial Abgehängten. Kulturell argumentieren sie rechts, nationalistisch und hegemonial. Die westliche Sozialdemokratie hat demgegenüber eine umgekehrte Entwicklung genommen und das Sozialwesen dem ökonomischen Liberalismus untergeordnet, während sie kulturell nach wie vor für Pluralismus und Offenheit steht. Der alte Gegensatz von Links und Rechts wurde abgelöst vom Widerstreit zwischen europhilen Liberalen und nationalistischen Sozialkonservativen.
Hoffen wir, dass man auch am Ende des politischen Jahres 2017 sagen kann: Het valt alles mee.
Längst sind die rund dreihundert Journalisten wieder abgereist, die das Ausland nach Den Haag entsandt hatte, um vor Ort entweder vom Durchmarsch oder der vorläufigen Niederlage des europäischen Rechtspopulismus zu berichten. Der Grundtenor scheint überall der gleiche: Geert Wilders sei gestoppt, mit Mark Rutte habe nach Trump und dem Brexit die Vernunft gesiegt. In der ZEIT etwa wird allein schon die hohe Wahlbeteiligung als ein Zeichen der bürgerlichen Gegenwehr gegen das Gespenst des europafeindlichen Rechtspopulismus Drei Tage nach der Wahl, am internationalen Tag gegen Rassismus, wurde in Amsterdam eine vom »Comité 21 maart« organisierte Demonstration gegen Rassismus und Diskriminierung ausgerichtet. Unter den etwa 2000 Teilnehmern liefen Organisationen wie Greenpeace, der Gewerkschaftsbund FNV und der Meldpunt Islamofobie mit. Nach Ansicht der Organisatoren haben die Niederlande ein Rassismusproblem; davon zeuge der Zugewinn von Parteien, die sich einer rechtspopulistischen, gegen Muslime und Flüchtlinge gerichteten Sündenbockpolitik bedienten. »Der Wahlkampf«, so heißt es in einer Verlautbarung, »wurde von Rassismus, Islamophobie und Wir-Ihr-Denken dominiert. Dessen haben sich Wilders, Rutte und Buma schuldig gemacht. Dagegen demonstrieren wir heute. « (Meine Übersetzung.)
Nicht nur Wilders, sondern auch Rutte? Als Wahlslogan von Mark Ruttes marktliberaler Partei VVD diente ein Imperativ: »Doe. Normaal.« Dieses Normaltun lässt sich nicht allein als ein Aufruf zur sprichwörtlichen Bodenständigkeit der Niederländer begreifen, sondern durchaus auch als Aufruf an alle Bürger, sich gefälligst an die Werte und Normen einer niederländischen Leitkultur zu halten. Am 22. Januar veröffentlichte Rutte einen offenen Brief an alle Niederländer, in dem er gegen all jene Asozialen Position bezieht, die sich nicht an das »Doe normaal«, die Verhaltensregeln des guten Niederländers halten. Ausdrücklich ist dabei die Rede von jenen Menschen, die ins Land gekommen seien und sich nicht anpassen wollten. Nachdem Rutte ein Bild des Immigranten als pöbelnden Belästiger skizziert hat, heißt es in seinem Brief: »Doe normaal of ga weg.« (»Benimm dich oder hau ab.«). Schon ein halbes Jahr zuvor richtete Rutte in der Interviewsendung Zomergasten an die Adresse von türkisch-niederländischen Demonstranten: »Wenn es dir hier nicht gefällt, verpiss dich!« (»als het je niet bevalt, rot je maar op!«)
Die Strategie ist deutlich: Während Rutte in einer Fernsehdebatte jede Koalition mit Geert Wilders‘ PVV kategorisch ausschloss und Wilders‘ politische Signatur als »Chaos« bezeichnete, sollten solche Auslassungen den potenziellen Wilders-Wählern suggerieren, dass sie bei der regierungserfahrenen VVD besser aufgehoben sein würden. Dabei ist die VVD nicht die einzige konservative Partei, die sich bei Geert Wilders‘ Erfolgsthemen bedient hat. Um ein Beispiel zu nennen: Rund anderthalb Wochen vor der Wahl verkündete der Parteichef der Christdemokraten (CDA), Sybrand Buma, die Absicht, das Singen der Nationalhymne in den Schulen wieder einzuführen. Damit hat Buma eine PVV-Forderung vom letzten November übernommen.
Der Niederländische Anwaltsverband (Nederlandse Orde van Advocaten) untersuchte vor der Wahl 13 Parteiprogramme zu ihrem Verhältnis zum Grundgesetz und kam zu dem Ergebnis, dass 40 Prozent der Programme gegen das Grundgesetz verstießen. Das betreffe vor allem das Recht auf freie Meinungsäußerung, die Glaubensfreiheit sowie die Freiheit und Gleichstellung aller Bürger. Dass das Programm von Wilders‘ PVV in der Analyse im roten Bereich liegt, dürfte kaum verwundern; aber auch die Programme der VVD, VNL, SGP und CDA werden zumindest in Teilen als bedenklich eingestuft. Die genannten Beispiele der Studie zielen durchweg auf eine Diskriminierung von Emigranten ab, vor allem von solchen aus islamisch geprägten Ländern, die den Programmen zufolge den Stempel einer Gefährdung der Niederlande tragen: ob dies nun den Entzug der niederländischen Staatsbürgerschaft betrifft oder den Stopp der ausländischen Finanzierung von Moscheen.
Handelt es sich um ein bloßes Säbelrasseln zu Wahlkampfzeiten? Nach der Wahl sorgte eine Äußerung des Eurogruppenchefs und noch amtierenden niederländischen Finanzministers Dijsselbloem (PvdA) für Wirbel. Nicht vor, sondern nach der Parlamentswahl unterstellte er den Südeuropäern, ihr Geld für Schnaps und Frauen auf den Kopf zu hauen. Solche Ansichten könnten auch von Thierry Baudet stammen, dessen unverblümt rassistische, jede Art von ethnisch-multikultureller Mischung ablehnende Partei Forum voor Democratie es immerhin zu zwei Parlamentssitzen gebracht hat. Bei einer Anhörung im EU-Parlament verweigerte Dijsselbloem jede Entschuldigung; er führte den Aufruhr um seine Äußerung auf ein mangelndes Verständnis für seine »niederländische Direktheit« zurück.
Sind all die scharfen Auseinandersetzungen im Parlament oder die Bedrohungen öffentlicher Personen der niederländischen Direktheit zuzurechnen? Jüngstes Beispiel: Die junge Bloggerin und GrünLinke Fraktionsmitarbeiterin Anne-Fleur Dekker ist untergetaucht, nachdem sie infolge einer von Geert Wilders über Facebook verbreiteten Fehlinformation – in entstellender Verkürzung behauptete Wilders, sie habe zu seiner Steinigung aufgerufen – konkrete Morddrohungen erhalten hatte. Spreche ich das Thema in meinem Freundes- und Bekanntenkreis an, fragt man mich verwundert, ob denn in Deutschland Politiker etwa nicht bedroht würden. Das seien die Taten gestörter Einzelgänger, für die man nicht viel mehr als ein Kopfschütteln übrig haben müsse. Ich frage mich, ob Anne-Fleur Dekker das ähnlich sieht.
Ganz ähnlich begegne ich als ein über den Rechtsruck besorgter Deutscher einer Relativierung des Wahlausgangs, die sich am besten mit dem Ausdruck »Het valt mee« zusammenfassen lässt: Alles halb so schlimm. Die Niederländer, so höre ich, seien Weltmeister der Relativierung. Die in die Koalitionsbildung involvierten Parteien rückten schon jetzt von ihren diskriminierenden Programmpunkten ab; selbst Thierry Baudet bekunde nun, da er im Parlament sitzt, offiziell seine Reue über rassistische Auslassungen. Mein Befremden darüber, dass der Extremist Baudet im Fernsehen von einem konservativen Kommentator als politisches Talent gelobt wird, wird mit einem »valt mee« beantwortet: Anders als in Deutschland werden politische Extreme nicht mit einem Ächtungsbann belegt, weil sich immer die niederländische Bodenständigkeit und die dem Land tief eingeprägte Konsenspolitik durchsetze, für die sich der Begriff »Poldermodell« eingebürgert hat: Schlussendlich müssten alle zusammenarbeiten und miteinander auskommen.
Also alles halb so schlimm? Mir fallen die erfolglosen Pegida-Märsche in Utrecht ein, an denen auch im wiederholten Versuch kaum jemand teilnimmt. Oder der Erfolg von GrünLinks (GroenLinks) unter ihrem jungen, charismatischen Parteichef Jesse Klaver, der sich für eine Umweltpolitik der Nachhaltigkeit, für eine Nivellierung der Einkommensschere und eine bedingungslose Aufnahme von Kriegsflüchtlingen einsetzt. Seine Partei konnte eine Vervierfachung der Parlamentssitze (von 4 auf 16) verbuchen und ist gegenwärtig als vierte Partei bei der Koalitionsbildung (neben der VVD, CDA und D66) im Gespräch. Allerdings wird Klaver von der eigenen Jugendorganisation vor einer Regierungsbeteiligung gewarnt; nicht nur sind die inhaltlichen Differenzen groß, man hat sicher auch den noch amtierenden Koalitionspartner der VVD als warnendes Beispiel vor Augen, die sozialdemokratische PvdA (Partij van de Arbeid).
Aber auch der Stimmenzuwachs von GrünLinks kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Parlament insgesamt nach rechts rückt. Nicht allein wird Wilders‘ PVV zweitstärkste Fraktion; bemerkenswert ist auch, dass die Regierungskoalition von VVD und der PvdA abgestraft wurde und 37 von 79 Sitzen verliert. Das geht vor allem aufs Konto der Sozialdemokraten, die ein Debakel historischen Ausmaßes erlebt haben und nur noch neun der bisher 38 Parlamentssitze halten können. Die drei linken Parteien – GrünLinks, PvdA und die Sozialisten SP – stellen zusammen weniger Sitze als nur die PvdA vor der Wahl.
Da darf es durchaus seltsam anmuten, dass die deutsche SPD den niederländischen Wahlausgang feierte, als hätte es keinen Untergang der niederländischen Schwesterpartei gegeben. Seit der Regierungskoalitionsbeteiligung hat die PvdA in Gemeinde- und Provinzwahlen an Stimmen verloren. Hat sich die Partei ein Glaubwürdigkeitsproblem eingehandelt, indem sie die Einsparungen der marktliberalen VVD, beispielsweise im Krankenkassensystem, als Maßnahmen gegen die Wirtschaftskrise mitgetragen hat? Sicher half es auch nicht, dass noch im Dezember der bisherige Spitzenkandidat Diederik Samson trotz seiner Aufholjagd in den Umfragewerten parteiintern abgewählt wurde. Sein Nachfolger, Lodewijk Asscher, verkündet nun, zu sozialdemokratischen Grundtugenden zurückkehren zu wollen.
Vieles spricht dafür, dass die europäische Krise der Sozialdemokratie – man darf auf Programm und Erfolg der SPD unter Schulz gespannt sein – mit dem Erfolg der Rechtspopulisten verknüpft ist. Deren Anziehungskraft ist nicht allein mit der inszenierten Drohkulisse einer islamischen Invasion zurückzuführen, welche ein Europa mit offenen Grenzen heimsuche, sondern auch auf eine Absage der Wähler an die neoliberale Marktkonformisierung von Politik überhaupt. Sie hat zur Angleichung der großen Volksparteien geführt und dem Rechtspopulismus politische Räume geschaffen.
Muss es nicht eigentlich zu denken geben, dass sich die Parolen der Rechtspopulisten Westeuropas bis in die Rhetorik mit den dezisionistischen Machthabern in Mitteleuropa decken? In Victor Orbáns ungarischer Fidesz-Partei, der PiS in Polen, der aus linken Nationalisten und Neofaschisten gebildeten Regierung der Slowakei und dem aggressiv-nationalistisch regierten Kroatien findet sich jenes populistisch orientierte, nationalistische und antiliberale Demokratieverständnis an der Macht, das sich auf Parteibasis über ganz Europa ausbreitet. In den genannten Ländern lässt sich beobachten, wie im Namen des Volkes gegen die heraufbeschworenen Bedrohungen des Terrorismus, der Migration, der Globalisierung und des kulturellen Kosmopolitismus der Rechtsstaat demontiert wird. Und muss es nicht auch zu denken geben, dass von den hiesigen wie dortigen Rechtspopulisten eine Spaltung der Gesellschaft in elitäre Gewinner und eine Mehrzahl von Abgehängten konstatiert wird? Man denke an Orbáns und Kaczynskis Absage an die Mantras der neoliberalen Marktkonformität von Politik. Ökonomisch sind diese Parteien links; sie betonen ihre Aufmerksamkeit für die sozial Abgehängten. Kulturell argumentieren sie rechts, nationalistisch und hegemonial. Die westliche Sozialdemokratie hat demgegenüber eine umgekehrte Entwicklung genommen und das Sozialwesen dem ökonomischen Liberalismus untergeordnet, während sie kulturell nach wie vor für Pluralismus und Offenheit steht. Der alte Gegensatz von Links und Rechts wurde abgelöst vom Widerstreit zwischen europhilen Liberalen und nationalistischen Sozialkonservativen.
Hoffen wir, dass man auch am Ende des politischen Jahres 2017 sagen kann: Het valt alles mee.