wie schon befürchtet hat A. doch nicht die Thermoskanne dabei. Zuhause in Saudi-Arabien trinkt er, wie er behauptet, keinen Alkohol, aber wenn er in Beirut ist, wo er eine schöne große Dachgeschosswohnung hat, wird schon mal eine Ausnahme gemacht. Wenn seine Familie dabei ist, befindet sich der Alkohol allerdings aus Sicherheitsgründen in einer Thermoskanne. Bei dem Spiel ist A. auch dabei. Das ist keine gute Neuigkeit. L. wird deswegen nicht kommen und ein paar andere haben auch schon abgesagt. Nicht jeder will mit einem reichen Ex-General aus Saudi-Arabien Deutschland gegen Ghana schauen. Außerdem hat A. keine Ahnung vom Fußball. Er behauptet zum Beispiel, dass nur diejenigen Spieler verschiedenfarbige Schuhe tragen, die auch Mannschaftskapitäne sind. Er trinkt den teuren Whisky, den er am Flughafen gekauft hat, und wir essen Käse aus Paris. Unser Gastgeber behauptet, A. habe schon vor dem Iran-Spiel sechs Gläser Weißwein getrunken. Bis zum Spielende sind es dann gefühlt noch zehn Gläser Whisky, mit Wasser und Eis verdünnt, den A. mit dem Ringfinger lässig verrührt. Nichts gegen Saudi-Arabien, aber irgendwie denkt man, so jemand könne von Saudi Arabien aus gut und gerne in aller Bequemlichkeit ISIS unterstützen, und die 12 Männer, die am frühen Morgen im Hotel Napoleon in der Innenstadt von Beirut festgenommen worden sind, sind auch mit seinem Geld hergeflogen. Einem Gerücht zufolge wollten sie Nabih Berri, den schiitischen Parlamentspräsidenten, töten. Aber über Politik sprechen wir besser nicht. Allein schon deswegen, weil wir das Spiel sehen. Und ich denke auch lieber nicht an den roten Mercedes, der ein paar Tage später am Stadtrand von Beirut in die Luft fliegt, wobei einige der Körperteile des Selbstmordattentäters im vierten Stock auf einem Balkon gefunden werden. Lieber Götze dabei zuschauen, wie er nach seinem Freak-Tor, als er sich den Ball selbst aufs Knie köpft, wie eine geschrumpfte griechische Statue im Torjubel erstarrt und dann wieder so aussieht, als habe er ein Geschenk von den höheren Mächten erhalten.


Es ist kompliziert. Deswegen kann Deutschland auch nicht gewinnen. So nicht. So muss es zwangsläufig unentschieden ausgehen, was unser Gastgeber auch okay findet, während A. mich fragt, ob man vom Schreiben eigentlich leben kann. Vielleicht gehe ich deswegen auch am nächsten Tag mit meiner Verabredung in die Mensa der Amerikanischen Universität zu Mittag essen, was billiger ist. Das gefüllte Huhn schmeckt ganz gut, und wir rekapitulieren die Neuigkeiten des Tages, während die AUB-Katzen, um uns herumstreichen, in der Hoffnung, dass wir schwach werden und ihnen was abgeben. Die Neuigkeiten sind: Die USA hat unentschieden gespielt, und jetzt kommt es zum großen Showdown am Donnerstag. L. hat im Internet über ISIS recherchiert. Einige der Verdächtigen aus dem Napoleon Hotel sind schon wieder frei und vielleicht doch keine ISIS-Leute, und überhaupt, sagt mein Begleiter, sei das, was in Irak passiert, eine »pluralistische urbane Rebellion«, bei der die Sunniten sich gegen Maliki auflehnen, und kein mittelalterlicher Religionskrieg. Ob L. bei seiner Internetrecherche zu dem gleichen Ergebnis gekommen ist? Am nächsten Tag gibt es einen Bombenanschlag in Tayouneh, am Südende von Beirut. Ein Mann, in einem schönen alten Mercedes aus den 60er Jahren, in Deutschland wäre so etwas ein wohlgepflegter Oldtimer mit nachträglich eingebautem Katalysator, sprengt sich vor einem Café in die Luft, in dem die Leute gerade Brasilien gegen Kamerun schauen. Zum Glück gibt es nur Verletzte, aber für eine Weile spielt es keine Rolle mehr, wieviel Gläser Whisky A. jetzt nun getrunken hat und ob so jemand wie er ISIS unterstützt und in Beirut Party macht, während seine Frau in Saudi-Arabien auf das Haus aufpasst. Die vier Katzen, die unseren Tisch belagern, werden schließlich auch noch beschenkt.

Liebe Grüße
Rainer
Lieber Oliver,
L. findet es kläglich, in einem Hotel zu sterben. Aber dann findet er es auch wieder interessant. (Es hat etwas Verschwenderisches, man zahlt für das Zimmer, in dem man stirbt.) Aber vielleicht nicht gerade im Duroy in Raouche, auch wenn das in der Nähe der Corniche ist. Wenn dann schon wenigstens im Bristoloder besser noch imPhoenicia (wo sich im Mai der Berater von Berlusconi versteckt hat, der angeblich der Gemayel Familie helfen sollte, die Präsidentenwahl zu gewinnen, die jetzt schon zum achten Mal verschoben worden ist. Acht minus acht gleich null, steht in der Zeitung). »Aber doch nicht das Duroy«, sagt L. Vielleicht ist es deswegen gar keine schlechte Idee, nach Hazmieh zu fahren und das Spiel USA gegen Deutschland auf einer Großbild-Leinwand zu schauen, statt in der Innenstadt zu bleiben, die jetzt die Aura der Unverletzlichkeit langsam zu verlieren beginnt.
Der Mann im Hotel Duroy ist tot. Er hat einen Tipp bekommen und seinen Sprengstoffgürtel angezogen, und seine Trauer darüber, dass sein Plan, irgendjemanden mit in den Tod zu reißen, nicht aufgegangen ist, muss grenzenlos gewesen sein. Es ist kläglich, so zu sterben. In einem Hotel, in dem man sich nur versteckt hat, um einen anderen Ort in eine Hölle zu verwandeln. Und zu unserem Glück ist das nicht die Corniche, Gemmayze, Ashrafieh, Hamra oder Hazmieh. Und natürlich springe ich nicht auf, als das Tor fällt. Die libanesischen Deutschland-Fans, drei Özils und ein Schweinsteiger, die vor mir sitzen, springen sofort auf. Sie hissen die Flagge. Ich bleibe sitzen, freue mich noch nicht mal richtig. Bin ich erschüttert über den Toten im Hotel Duroy? Und die Verletzten in der Nähe der Corniche? Es gibt ein neues Video von Fairuz. Es ist im Libanon gefilmt, auf dem Land, unter freiem Himmel. Man sieht sie hinauf in den Himmel blicken, in ihrem türkisfarbenen Kleid, das die Farbe des Himmels leicht verdunkelt, während sie Ave Maria von Franz Schubert singt. »Ave Maria/Oh beginning of Peace/Oh Peace the highest of my joys/My refuge from the days.« Im deutschen Original hört es sich natürlich anders an, aber so steht es im Daily Star, an dem Tag, als Thomas Müller, der so ein komisches Augenbrauen-Pflaster trägt, das einzige Tor schießt. Aber das ist doch Quatsch, dass die Deutschen so gut »organisiert« sind, würde ich am liebsten zu Jeffrey sagen, dem jungen Arzt, der vor mir sitzt. Der Reporter verfällt in ein stammelndes Raunen, berauscht von der Eleganz und Selbstverständlichkeit, mit der sich die deutsche Mannschaft im Kollektiv »verschiebt« und gegen den Ball arbeitet, mit welcher kunstvollen Dominanz sie den Gegner beherrscht, als sei sie eine Maschine aus gut geölten Armen und Beinen.
Die Hotels sind jetzt nicht mehr sicher. Die Hotels in der Nähe der Corniche werden erst mal geräumt, das Gepäck der Reisenden aus den Golfstaaten ganz genau durchsucht. »Ich bin seit meiner frühen Jugend Deutschland-Fan«, sagt Jeffrey, der deswegen kein Özil-Shirt trägt, weil er direkt von der Arbeit aus dem Krankenhaus kommt.
»Und warum?«, frage ich.Warum nicht den Libanon? Liebe doch dein Land, liebe den Libanon. Aber der Libanon hat sich nicht qualifiziert, Teile der Mannschaft sind wegen Spielmanipulation aus dem Verkehr gezogen worden.
»Es war immer schon so«, erklärt Jeffrey und er erzählt mir, wie sein Vater, der auch schon Orthopäde war, mal einen Mitarbeiter der deutschen Botschaft operiert hat, und dann haben sie zusammen das Endspiel 1996 gesehen. So ist es vielleicht auch gekommen, dass das Public Viewing unter dem Titel »Wir sind bereit« auch von der Botschaft mitorganisiert wird und zwar von dem Büroleiter des Militärattachés, der sich für ein Podolski-Trikot entschieden hat. Er nimmt es ganz gelassen, dass an diesem Tag wegen der Sicherheitslage kaum jemand kommt. Die wenigen Deutschland-Fans, die da sind, sind aber mit großer Leidenschaft dabei. Jeffrey sagt, sie seien alle »Glory Hunters«, sie wären also nur deswegen Fans, weil sie es mit den Siegern halten. Er sagt das in der typischen, etwas zynischen und autoaggressiven Weise, mit der die jungen Libanesen über ihr Land sprechen, so als hätte es nach dem langen Bürgerkrieg nicht etwas mehr Nachsicht verdient. Etwas mehr Geduld. So wie es Fairuz anzudeuten scheint, deren entrückte Gestalt mit der Landschaft zu verschmelzen scheint, dort draußen in der freien Natur, in den Bergen, unter freiem Himmel, vielleicht sogar irgendwo im Qadisha Valley, wo sich in alter Vorzeit die Mönche in winzigen Höhlen vor ihren Feinden versteckt haben und dann angeblich Weihrauchschwaden aus dem Tal aufstiegen. Ave Maria. Die Amerikaner verlieren. Sie haben keine Chance. Aber es ist eben nur Fußball. Und für Anti-Amerikanismus bleibt jetzt keine Zeit. Es geht um ISIS und SISI, wie Thomas L. Friedman in der New York Times schreibt. Oder es geht darum, dass sich die arabische Welt zwischen ISIS und SISI entscheiden muss, zwischen dem Hyper-Islamismus und dem Hyper-Nationalismus oder wie Friedman in seinem typischen Hang zur Vereinfachung sagt, zwischen dem militärischen und dem islamischen Staat. Hört sich gut an. ISIS oder SISI. Und dann schließt Müller das eins zu null.
Müller, den man doch wegen seiner leicht anarchischen Art so mag, hat sich gegen Portugal nicht gerade korrekt verhalten. Er hat simuliert, er hat manipuliert, er hat betrogen. Zumindest ein bisschen. Die Fußballer, denen ich dieser Tage wie auf einem steinigen Pilgerweg folge, von Hamra (Uruguay) nach Hazmieh (Deutschland), von Byblos (die Niederlage von Mexiko) nach Gemayze (der Sieg von Kolumbien) sind alle Betrüger, Darwinisten und Karrieristen, die vor nichts zurückschrecken. Kaltherzige Söldner, deren gestählte oder aufgepumpte Körper im Nahkampf auf die Kameras zufliegen. ISIS gegen SISI. Ein Spiel, das nicht existiert oder umso mehr Realität ist, aber kein Spiel zu sein scheint, obwohl Thomas L. Friedman, der Macho unter den Nahost-Experten, es vielleicht annimmt. Aber die Idee stammt ohnehin von einem israelischen Analysten und gar nicht von Friedman selbst. Den Glory Hunters ist es egal. Sie ziehen einsam ihre Runden um Sassine. In ihren schwarzen Cabrios schwenken sie große deutsche Fahnen durch die Nacht. Es sind Edel-Fans, Mittelklasse-Hooligans. Aber man fühlt sich auch nicht besser, wenn man selbst Deutscher ist. Immerhin ist jetzt L. nach dem Ausscheiden von Ghana auch auf unserer Seite. Er hat ein Hotel in München gebucht, nur ein paar Meter von der Firma entfernt, wo er übernächste Woche sein Interview hat. Dann ist die Entscheidung darüber, wer Weltmeister wird, schon gefallen. Das Hotel heißt nicht Napoelon, Embassy oder Phoenicia. Es hat irgendeinen »technischen« Namen, wie er sagt, und ich kann seine Sorge verstehen, und dass er ein bisschen Angst vor Deutschland hat, dass er fürchtet, es könnte ihm in der Seele wehtun. »Was befürchtest du denn?«, frage ich ihn, als ich ihn einen Tag später am Strand bei einer Party treffe, nicht unweit des »Lazy Beach«, wo er gerade den Nachmittag verbracht hat, um ein bisschen Farbe zu bekommen, von der er aber eigentlich schon genug hat. Im Hintergrund läuft ein Brasilienspiel. »Na ja, ich hab halt Angst, dass sie so schlecht angezogen sind, dass die so furchtbar aussehen. Kann das sein? Ich hab das mal gehört. Die Deutschen sollen furchtbar aussehen.« L. fährt sich kurz über die Haare. Er ist unzufrieden mit seiner Frisur. Wir haben ihm extra einen kleinen Reiseföhn mitgebracht, damit er bei der Abschiedsfeier von M., die für die UN nach New York geht, auch halbwegs gut aussieht.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, lüge ich ihn an. »In München sehen sie alle ganz klasse aus. Du wirst schon sehen, es wird dir gefallen.« Und dann schaue ich mir weiter das Spiel von Brasilien an. Auch hier geht es irgendwie nicht mit rechten Dingen zu. Es ist ein typischer libenesischer Gedanke, eine Verschwörungsphantasie, dass der Mann im Hotel Duroy A. gewesen sein könnte, der Ex-General aus Saudi-Arabien, den ich vor ein paar Tagen kennengelernt habe und der behauptet hat, die Deutschen könnten nicht kochen, weil sie eben einfach keine Zeit zum Essen haben. Die kroatische UN-Mitarbeiterin aus der HR-Abteilung will unbedingt noch einen Schnappschuss für ihren täglichen »Happy Moment« machen, den sie dann später auf Facebook postet. »Einmal am Tag glücklich sein, das ist doch das mindeste.« Kurze Zeit später ist L. weg. Er ist wieder mal einfach so abgehauen, ohne Verabschiedung. Ob er gedanklich schon in München ist? In dem Land, das so Fußball spielt wie eine schöne elegante Maschine, in dem die Hotels teuer aber sicher sind und in dem man sich nicht in die Luft sprengt, sondern Schubert-Lieder im Original singt. Den Föhn nehmen wir wieder mit. Es heißt, L. habe an diesem Tag die leise Kritik an seinem ungewohnt laschen Auftritt (was sein Outfit angeht) ganz gut weggesteckt. Aber so ganz genau weiß man das natürlich nicht. Die Reise nach Deutschland steht ihm ja noch bevor.
Liebe Grüße
Rainer
Lieber Oliver,L. ist zurück. Seitdem geht es nur noch bergab. L. hat sich am Flughafen in einem Duty Free Shop ›The Devil Wears Prada‹, Teil 2 gekauft. Seiner eigenen Zeitrechnung zufolge beginnt jetzt »ein neues Schema«. Ein deutsches Schema, zumindest für die paar Tage, die er sich zu seinem Jobinterview in München aufgehalten hat. Es geht in Richtung Trance, wie er sagt und das heißt bei ihm: Lesen. Ein Buch kaufen, nach München fahren, uns im Stich lassen. Ob es deswegen so schlecht aussieht und bergab geht? Oder liegt es an Gaza? Liegt es an dem Krieg, dem Krieg in Gaza, für den es in der aktuellen Landkarte der Kriege eigentlich gar keinen Platz mehr gibt? Aber der Gaza-Krieg schafft sich Platz, er verdrängt einfach die anderen Kriege, verdrängt sie aus unserem Bewusstsein. Obwohl wir alles tun, um den Krieg zu ignorieren. Roman steigt aufs Dach, um unseren Wassertank zu reparieren, und obwohl wir im fünften Stock wohnen, fühlt es sich zunehmend so an, als seien wir irgendwo unter der Erde gefangen. In einem heißen, engen, stickigen Raum und um uns herum dröhnen die frisierten Motorräder, die die Gemayze Main Road hoch- und runterrasen. An Schlaf ist nicht zu denken. Aber das Schlimmste ist: Unsere Gemeinschaft zerfällt. Unsere kleine Hausgemeinschaft, die aus einem Rumänen, einer Russin, einer Holländerin, einem Palästinenser, einer Amerikanerin und wechselnden Gästen besteht. (Und natürlich A., unsere Vermieterin, die aber meist nicht da ist.) Roman hat sich mit ein paar syrischen Bauarbeitern angefreundet, die nebenan einen luxuriösen Appartementblock aus dem Boden gestampft haben und deren Arbeit jetzt allmählich zum Abschluss kommt. Sie gehören zu seinem immer größer werdenden Netzwerk, das sich scheinbar konzentrisch von unserem Haus aus in Gemayze ausbreitet. Roman, der aus Bukarest stammt, ist erst seit vier oder fünf Wochen hier, aber es scheint so, als würde er schon den ganzen Stadtteil kennen. Er vermittelt einem den Eindruck, dass er immer und überall alles im Griff hat. Und dass ihn sein sonniges Gemüt niemals im Stich lässt. Also kümmert er sich um das Wasserproblem und hält unsere Vermieterin in Schach. Wir vertrauen ihm und seinem Improvisationstalent, einem Überbleibsel aus der realsozialistischen Mangelwirtschaft. Seinen vagen unausgesprochenen »Businessplänen« und seiner schönen, aber auch launischen Freundin Janina, die zuvor als Model in Indien gearbeitet hat, aber eigentlich aus Russland stammt. Schon am frühen Morgen können wir ihn sehen, wie er im dunklen Wohnzimmer sitzt und Arabisch lernt. (Das Wohnzimmer ist so dunkel, weil alle Fenster und Türen zugemauert worden sind. Die Vermieterin hat den Balkon in kleinere oder größere Räume unterteilt, die sie zu günstigeren Konditionen vermietet, zum Beispiel an den palästinensischen UNICEF-Mitarbeiter, der auf der Durchreise von Syrien nach Ägypten ist. So jemand kann schon mal gut auf dem Balkon untergebracht werden.) A. ist unsere Transformatorin, in vielerlei Hinsicht. Sie pendelt zwischen dem Libanon und Syrien, reist ein und aus, schaut vorbei und verschwindet wieder, verschickt unglaubliche E-Mails »an alle« oder auch an einzelne, die sie ermahnt im »Interesse aller« mit dem Wasser sparsam umzugehen und keine »Cleopatra-Bäder« zu nehmen. Aber wer wollte im Angesicht des Gaza-Krieges schon ein Cleopatra-Bad nehmen? Der Einzige, der mit ihr klarkommt, ist Roman. Es ist ein Wunder. Nicht nur, dass Roman mittlerweile alle in Gemayze kennt, er lässt sich auch durch unsere Vermieterin nicht aus der Ruhe bringen. Im Gegenteil, er beruhigt sie sogar noch. Manchmal klopft sie nachts an, bittet um ein Gespräch, trauert zusammen mit uns über den Tod ihrer Mutter in Griechenland, sie ist halb Syrerin, halb Griechin, und sie bittet ihren Mieter, ihr mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, wohin der Körper ihrer Mutter überführt werden könnte. In den Libanon, nach Syrien oder von einer gottverlassenen griechischen Insel zurück nach Athen? Roman macht das nichts aus. Er ist auf dem Dach, füllt mit seinen syrischen Bauarbeiter-Freunden unseren Tank mit gestohlenem Wasser und verbreitet gute Laune.
Einmal fahren wir sonntags mit ihm und Janina zu einer berühmten Tropfsteinhöhle, der Jetta Grotte, um der Hitze zu entkommen und mal ein paar Stunden auszuprobieren, wie es ist, außerhalb der Wohnung zu sein. Während wir vom höchsten Punkt der Grotte auf den unterwasserbeleuchteten unterirdischen Fluss in die Tiefe schauen, um uns die bizarr verformten zehntausend Jahre alten Stalaktiten und Stalagmiten anzuschauen, erzählt Romans Freundin, dass sie sich die Haare hat abschneiden lassen, weil sie ihr Dasein als Model irgendwie nicht mehr erträgt. Die Grotte ist ein ferner Mythos, ein Ort, in dem wir mitten im Libanon auf einmal außerhalb von Zeit und Raum sind. Es hilft, nach unten zu schauen und uns gegenseitig auf den »Fluss« aufmerksam zu machen, der grünlich schimmernd in unglaublichen Tiefen stillzustehen scheint. »Was würde passieren, wenn wir jetzt da runterfallen würden«, sagt K., unsere einzige Mitbewohnerin, die aus dem Libanon stammt. Sie beugt sich etwas nach vorne und jagt uns einen großen Schreck ein. Dann lacht sie. Sie ist die einzige Libanesin, die wirklich weiß, was hier eigentlich vor sich geht. (Es ist, als könnte sie auch in die Zukunft sehen. Jedenfalls ist das unsere Phantasie.) Später fahren wir in einem Boot den Fluss runter, Roman lässt sich vom Bootsführer an eine Stelle fahren, wo er Wasser in seine kleine Thermoskanne abfüllen kann. Kristallklares, vielleicht heilsames unterirdisches Wasser aus dem Gebirge. Jetzt ist er mit den Syrern auf dem Dach, dort oben, wo außerdem unser Internet zirkuliert, wie Roman erzählt hat. Das Internet kommt in einer kühlen Brise aus Haifa. Das ist zumindest die Theorie. Aus Haifa? »Ist es deswegen so langsam?«, frage ich. Aber Roman, der selbst was Israel angeht, vollkommen gelassen und positiv bleibt, verneint das. »Das könnte ein Akt der Sabotage sein«, gebe ich zu bedenken. »Kann das nicht sein?« Aber das ist nur so eine Idee. Roman untersucht sein Telefon und sieht seine These bestätigt. »Aus Haifa«, sagt er. »Das kannst du hier sehen.« Er benutzt mehrere »technische« Fachbegriffe, die seine Behauptung, das Internet käme aus Haifa, bestätigen. (Ein Windstoß aus widersprechenden Informationen, Gerüchten und Verdächtigungen erfasst den Raum. Roman steht auf, schließt das Fenster und räumt die Waschmaschine aus.) Der Ausflug in die Grotte bleibt die einzige gemeinschaftliche Exkursion. Ein kurzer Augenblick der Harmonie. Wir tauchen in das uralte imaginäre Bergwerk ein, das halb wie eine künstliche Tropfsteinhöhle und halb wie ein Filmset aus dem letzten Alien-Film aussieht, bevor wir uns dann ganz A. ausliefern und ihren Bestrebungen, den Krieg, der uns von fast allen Seiten umgibt, endlich auch in unsere kleine multinationale WG im Herzen von Beirut zu tragen. A. braucht den Krieg, sie braucht die Zerstörung. Teils, weil sie nicht anders leben kann und teils, weil es besser ist, wenn ihre Mieter kommen und gehen, denn so, hat sie wohl ausgerechnet, macht sie das meiste Geld.
Liebe Grüße
Rainer
Lieber Oliver,
irgendwann, da bin ich mir sicher, münden Romans Anstrengungen in etwas Großem, auch wenn es vielleicht nur ein Restaurant ist. Mit billigen syrischen Kellnern, hübschen äthiopischen Klofrauen und solventen und gut gebräunten libanesischen Gästen, die Roman bereitwillig das zurückzahlen, was er investiert hat. Jetzt geht es erstmal um das Fundament, die Techniker, die Alleskönner, die potentiellen Kunden oder was einem sonst noch in die Hände fällt, wenn man den ganzen Tag draußen rumhängt, von dem morgendlichen Arabisch-Studium abgesehen. Ob seine Freundin sich in dieser Vision wiederfindet? Ob sie überhaupt etwas von dieser Vision weiß? Ausgerechnet jetzt, wo die Region sich in Auflösung befindet und Robert Fisk schreibt »Sykes-Picot is dead«. Was nichts anderes heißt: Dass ein Rumäne kommen wird, ein Sohn des Sohnes der Sonne, des Sohnes des Titanen der Titanen, des Genies der Karpaten, des großen Kommandanten. Das sind die ausgestanzten rumänischen Bilder, die sich über die libanesische Wirklichkeit legen und mit ihnen zu solchen Phantasien verschmelzen. Kein Wunder, dass die Augen der russischen Freundin von Roman graugrün funkeln und in den letzten Tagen vor der Katastrophe etwas Tiefes, Ernstes und Zerstörerisches bekommen. Denn Janina hat sich auf die Seite von A. geschlagen. Damit war nicht zu rechnen. Es fängt mit der Wasserrechnung an. Mit den Vorwürfen gegen uns, dass wir maßlos und undiszipliniert seien. A. »erfindet« eine Wasserrechnung von 140.000 libanesischen Pfund, während die syrischen Bauarbeiter-Freunde von Roman gerade mal 50.000 verlangen. A. manipuliert uns. Sie legt Patschuli-Stäbchen auf die Kopfkissen, als sie aus Syrien zurückgekehrt ist und treibt einen Keil in unsere Gemeinschaft, sucht nach Schwachstellen und findet Janina. Sie überschüttet sie mit Komplimenten, wie schön sie sei, wie unwiderstehlich. A. fragt sie, ob sie nicht die aus Syrien mitgebrachten Bademoden anprobieren wolle, sie habe die Figur ihrer Cousine. Und tatsächlich funktioniert es. (Der Ausflug zur Jetta Grotte ist jetzt nur noch eine schmerzliche ferne Erinnerung. Das Blumenbeet draußen vor der Grotte ist mit einem Warnschild versehen, dass man nicht auf die Idee kommt, sich dort selbst zu bedienen und niemand wagt sich den Blumen zu nähern. In der Hitze waren wir glücklich, müde und träge, aber zufrieden.) Jetzt geht alles den Bach runter. Die Region zerfällt. ISIS baut einen neuen Staat, die Levante bröckelt. A. pendelt zwischen Syrien und Libanon, weil sie, wie Assad, sich nicht entscheiden kann, welches Land oder welchen Teil ihrer Identität, sie in den Untergang reißen möchte. Aber erst sind wir dran. In den letzten Tagen vor der Katastrophe versuchen wir noch zu flüchten, die eine Hälfte der internationalen Gemeinschaft, könnte man sagen, die noch zusammenhält. Man müsste Walid Joumblatt fragen, den Drusenführer und intellektuellsten Politiker des Landes, der mit ein paar schlafenden Hunden ein relativ bescheidenes Appartement in Beirut bewohnt und jetzt darauf achtet, dass wenigstens die Drusen überleben, dass wenigstens eine Minderheit übrig bleibt. Ist es mit Sykes-Picot vorbei? Ist Sykes-Picot tot? Und was passiert dann mit dem Libanon?
»Ich weiß, wie man mit so einer Frau umgehen muss«, sagt Roman. »Ja und wie?«, frage ich. »Man muss ganz ruhig bleiben, und man muss den richtigen Weg einschlagen.« Welchen? Einen unterirdischen? Durch einen Tunnel? Zu Zeiten von Ceauşescu war Bukarest von einem Tunnelsystem durchzogen, das bestimmt größer und elaborierter war als das, was die Israelis jetzt im Gazastreifen zu zerstören versuchen. Aber das Tunnelsystem in Bukarest war ein autistisches Monument, ein geschlossenes System des Grauens, während Gaza etwas anderes ist. Gaza ist flüssig. Gaza ist Wasser. Jedenfalls ist Gaza Wasser aus der Perspektive der israelischen Armee. Am nächsten Tag verliere ich mein Telefon. Es ist mir in der ganzen Zeit in Beirut noch nie passiert, wo doch hier das eigene Telefon so wichtig ist. Es liegt jetzt in diesem Beachresort auf einem kleinen schicken Basttischchen mit Blick auf das Mittelmeer. Ich versuche mich selbst anzurufen. Das Display strahlt kurz auf, blinzelt den Sternen zu. Aber es geht niemand ran. Roman würde sagen: Ich muss doch jetzt nicht in Tränen ausbrechen, oder? Aber gegenüber seiner Freundin ist er machtlos. Da versagen seine Theorien. Janina giftet gegen uns. Sie hat sich mit A. gegen uns verschworen, zumindest gegen den Teil, der davon träumt, dass unsere WG in Gemayze gemeinsam auszieht und irgendwo eine andere Wohnung findet, in Ashrafieh oder meinetwegen Hamra, ohne A., ohne eine Machthaberin im Hintergrund, die zu unangekündigten Zeiten die Wohnung betritt, durch die Türspalten lugt oder plötzlich träge und übelgelaunt auf dem Sofa im heißen und dunklen Wohnzimmer liegt, umrundet von den zusätzlich eingebauten Balkonzimmern, die dem Wohnzimmer alles Licht rauben. Und was tut Janina? Sie verbündet sich mit ihr. (Ist das ihre gequälte russische Seele, deren Schönheit hier langsam verdorrt?) Als A. endlich in Erscheinung tritt, trägt sie einen Strohhut, den sie wahrscheinlich billig in Syrien gekauft hat, sie sondert parfümierte Schweißfontänen in die Luft ab, strömt Patschuligerüche aus und denkt wahrscheinlich schon an das Angebot eines aus Syrien stammenden UN-Mitarbeiters, der die gesamte Wohnung mieten, teilweise in eine Sprachschule verwandeln und dann wieder an uns untervermieten will. Eine Cleopatra-Phantasie: Doppelt verdienen mit doppelten Expat-Strukturen. Einer von uns versucht, A. die Tour zu vermasseln und warnt den Interessenten, als er ihn zufällig trifft, auf der Straße. Aber es ist nicht einfach, als Syrer in Beirut etwas zu mieten. Und dafür haben wir natürlich auch Verständnis. Wenn man aus Syrien kommt, dann heißt das mehr oder weniger, dass jetzt die große Zeit der Buße und der Bestrafung anfängt. »Das habe ich gleich gesehen«, sagt K. zu uns. »Das der aus Syrien kommt, das war doch sofort klar.«
Liebe Grüße
Rainer
Lieber Oliver,
wir warten jetzt darauf, dass L. zurückkehrt und sich unsere Stimmung wieder bessert. Er wird uns erzählen, wie er auf dem Rückflug von München zwei Libanesen im Flugzeug trifft, und einer von ihnen einen »wunderschönen« Satz sagt, der aber gleichzeitig unerträglich ist: »Der Libanon IST gar kein Land. Sondern er ist mehrere Länder in einem.« L. findet den Satz typisch, aber auch schrecklich. Ist das schon ein »Sykes-Picot-ist-tot«-Satz? Oder ist das immer schon so gewesen? Unsere WG ist nicht mehr zu retten. Sie bricht auseinander. Warum konnte das Roman nicht verhindern? Oder betreibt Roman ein doppeltes Spiel? Securitate, Geheimdienstaktivitäten. Ceauşescu, heißt es, habe niemals dasselbe Kleidungsstück zweimal getragen. Roman dagegen trägt scheinbar immer denselben verwaschenen Bademantel, wenn er in den frühen Morgenstunden mit seinen Arabischstudien beginnt. Es wäre schön, er würde L. mal kennenlernen. Vielleicht würde es L. mit seinem Charme schaffen, den heterosexuellen Roman umzupolen und zu manipulieren, so wie jetzt A. die Freundin von Roman manipuliert. Sie ist jetzt auf der Seite von A., sie hält mit A. zusammen. Und das erste Opfer mutmaßt man, ist die amerikanische Journalistin, die immer mit dem Mountain Bike unterwegs ist. Die Holländerin, die über Dragqueens forscht, hält sich raus, ihr amerikanischer Freund ist plötzlich aufgetaucht und jetzt will sie wieder zurück in den Westen. So sind die Kampflinien, die Verbindungen, die Verschwörungslinien. Das Wasser, das nachts aus dem Tank auf dem Dach ausdringt und im Badezimmer an der Kachelwand herunterrinnt, steht fußhoch in der Wohnung. Wir wachen mitten in der Nacht auf. Wachen auf aus unserem Expat-Traum. »Die israelischen Soldaten bewegen sich horizontal durch die Wände und vertikal durch die Löcher, die sie in Decken und Böden sprengen«, schreibt der israelische Architekt Eyal Weizman. Die Stadt ist ein flexibles, flüssiges Medium. Und die Soldaten müssen sich in überirdischen Tunneln in einer anarchistischen Bewegung gegen die Erwartung einfach durch die Wände hindurchfressen, wie Würmer, sonst sind sie dem Feind nicht mehr gewachsen. So wie das Wasser, das aus dem kaputten Tank nach unten fließt. Mitten in der Nacht. So müssen sich die Bewohner in Gaza fühlen, wenn eine israelische Einheit vor ihren Augen den gekerbten Raum in glatten Raum verwandelt.
Ich klopfe an Romans Tür, ich will nicht allein in der Katastrophe sein. Die halbe Nacht arbeiten wir gegen die Überflutung, schieben das Wasser zurück ins Badezimmer, wo die Abflüsse die Wassermassen nicht mehr aufhalten können, obwohl wir doch so wenig davon haben. Wo wir doch ein Wasserproblem haben. Wir sind Europäer in Beirut, aber wir kriegen es nicht hin. Liegt es wirklich nur an Janina, an einem russischen Model, das in Indien seine etwas obskure Karriere schon fast wieder beendet hat? »Ich würde gerne Schriftstellerin werden«, sagt Janina. Nein danke. Die israelischen Soldaten gehen durch die Wände. Inspiriert von Deleuze und Guattari, schreibt Weizmann. Es ist der reine Horror. Als A. am nächsten Morgen mit ihren billigen Arbeitskräften kommt, um den Schaden zu inspizieren, eskalieren die monatelang aufgeladenen Spannungen. Angeblich sind wir an der Katastrophe Schuld. Wir überlasten den Boiler, baden zu viel, baden zu viel warm, heiß oder kalt. Überhaupt machen wir ihr, A., das Leben zur Hölle. Roman macht es genau richtig, er sitzt mit dem Fleischermesser, mit dem er zuvor noch Zwiebeln kleingehackt hat, neben A., die hyperventilierend auf dem Sofa kauert und versucht, sie zu beruhigen. Aber es ist schon zu spät. Schließlich flüchtet A.. Sie rennt aus ihrer eigenen Wohnung. Sie stürmt am bereitstehenden Fahrstuhl die Treppe herunter mit ihren syrischen Bauarbeiter-Angestellten, die den kaputten Tank oder den explodierten Boiler reparieren sollen und stürzt dabei beinahe in die Tiefe. »Was ist mit ihr, was hat sie?«, fragt Janina aufgeregt. "Ist etwas mit ihr passiert?" Ihre so schönen kühlen russischen Augen blinzeln. Der Krieg ist schuld. Der in Syrien und der in Gaza, der Krieg ist überall. Wo will sie jetzt bloß hin? Nach Syrien, um mehr Patschulistäbchen und Bademoden zu kaufen? Und was ist überhaupt mit Israel? Welche Rolle spielt eigentlich Israel in dieser kleinen Gemayze-Komödie? Es hat sich bisher noch keiner gefunden, der diese Rolle übernimmt. Es ist eine undankbare Rolle. Man muss nur einmal an das mit Plastikdiamanten und Pfauenfedern geschmückte AK-47 im Beirut Exhibition Center denken, das eine palästinensische Künstlerin dort ausgestellt hat. Die Schmetterlinge stehen für die toten Seelen, die als Anklage zurückkehren und sich auf das todbringende Ausstellungsstück setzen, um es damit erst zu einem Kunstwerk werden zu lassen. Wie würde man das in Israel finden? Fashionista Terrorista, so heißt ein anderes Bild. Israel kommt in unserer Wohnung nicht vor. Außer den Internetsignalen aus Haifa, die Roman entdeckt hat. Aber es ist da, es ist trotzdem vorhanden. Es ist ein ständiges Hintergrundrauschen. Israel, sagt K., ist wie ein korrupter Anwalt der sich alles erlauben kann. Ein Anwalt, der alle Schliche kennt, kühl und rational vorgeht, während wir hier irrational und übertrieben gefühlsbetont sind. Israel, das ist eine Wirklichkeit, die ausgeblendet ist. So wie ich mein Telefon am Strand vergesse und mein ganzes persönliches Netzwerk, alle Freunde und Kontakte beinahe mit einem Schlag verliere. Auch das schöne Patience-Spiel, das ich manchmal auf dem Telefon spiele, wenn mal wieder das Bad besetzt ist oder es kein Wasser gibt.
Ich bekomme es zurück. Unglaublich. Mitten in der Nacht ruft ein Mitarbeiter des Lazy B., wo ich es verloren habe, an und sagt, dass es gefunden worden ist. So jemand KANN nur aus Syrien sein. Er übernachtet am Strand. Wahrscheinlich, weil das billiger ist. Schläft unter freiem Himmel, ein Flüchtling, der einen Job gefunden hat, bei dem man am Strand schlafen kann. (Das Beach Resort ist natürlich in dieser Zeit geschlossen.) Ich gebe ihm nachher 10.000. Es stimmt also nicht, was L. gesagt hat, dass die syrischen Mitarbeiter des Lazy B. rüde und unhöflich seien. Das stimmt nicht. Ob L. schon vom deutschen Anspruchsdenken verunreinigt ist, ob er schon abdriftet nach Europa? Wie schrecklich wäre denn das? ›The Devil Wears Prada‹, Teil 2. Er hat tatsächlich das ganze Buch gelesen, behauptet er zumindest. Die nächsten Tage über warten wir gespannt ab, ob er das Vertragsangebot unterschreiben und dann den Libanon verlassen wird. Bloß raus hier. Rein in den Fahrstuhl und die fünf Stockwerke nach unten. Man hat keinen Moment Ruhe, keine Sekunde. Die letzte Feuerpause in Gaza hat nur 90 Minuten gedauert, das ist gar nichts. Wahrscheinlich ist wieder jemand durch den Tunnel gekommen, obwohl die Tunnel vielleicht gar nicht existieren. Ob A. heil unten ankommt? Es sind schließlich fünf Stockwerke. Sie geht zu Fuß. »Was ist mit ihr. Ist sie okay?«, fragt Janina immer wieder. Es ist Verrat, es ist unerträglich. Wir haben keine Erklärung dafür, wir verstehen die Welt nicht mehr. Wir waren ein Kosmos, eine verschworene Gemeinschaft. Jetzt fällt alles auseinander. Kurze Zeit später ist das Zimmer, in dem ich einen halben Sommer verbracht habe, schon geräumt. Es wird ein paar Tage leer stehen, eine Weile wird hier niemand wohnen, aber dann wird sich schon wieder jemand finden, der auf A. reinfällt. »Warum kann man in dieser Wohnung nicht ganz normal zusammenleben?«, so etwas Ähnliches haben wir in dem Abschiedsbrief an A. geschrieben. »Warum geht das nicht?« (Die Miete haben wir korrekt gezahlt. Wir sind schließlich keine Betrüger.) Warum wir aber zu Feinden geworden sind und uns jetzt nur noch hassen. Dafür haben wir auch noch keine Antwort gefunden. »Hau so schnell wie möglich ab«, raune ich Roman zum Abschied zu. »Mach, dass du wegkommst. Mach dich aus dem Staub, solange noch Zeit ist.« Roman lächelt mir zu. Es ist das Lächeln, das er immer aufsetzt, wenn er zu einer großen Erklärung ansetzt und einem mitteilt, wie sich die ganze Sache verhält. Aber das höre ich mir natürlich nicht mehr an. Dafür habe ich jetzt keine Nerven mehr. Das wäre wirklich zu viel des Guten.
Liebe Grüße
Rainer

Eigentlich sollte Benjamin von seinem Vater abgeholt werden. Aber stattdessen steht der 12-Jährige mitten in der Nacht allein am Flughafen von Monrovia. Ohne Pass und Gepäck, aber mit einem fremden Mantel, in dessen Taschen dicke Geldbündel stecken. Auf dem Weg in die Stadt kann er einigen zwielichtigen Gestalten gerade noch entkommen und steht plötzlich vor dem gleichaltrigen Bo und der verwöhnten Brilliant. Haben die ihn schon erwartet?
Rainer Merkel, dessen letzter Roman auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand, erzählt uns mit waghalsiger Leichtigkeit eine Reise durch die afrikanische Welt und das Erwachsenwerden. Auf der Suche nach seinem Vater erlebt Benjamin ein mitreißendes Abenteuer fürs Leben.