In tiefer Trauer nehmen wir Abschied von unserem lieben Freund Liu Xiaobo, dem früheren Vorsitzenden und dann Ehrenpräsidenten des Unabhängigen Chinesischen PEN-Zentrums. Xiaobo, ein Pazifist, trat in China für Menschenrechte, Demokratie und Redefreiheit ein. Nach acht Jahren Haft war seine Gesundheit ruiniert, denn die Behörden hatten seine schwere Erkrankung verheimlicht. Weil es jedoch dem Image der Kommunistischen Partei geschadet hätte, wenn ein Nobelpreisträger im Gefängnis starb, wurde Xiaobo schließlich doch noch in ein Krankenhaus überstellt. Seiner letzten Bitte aber, das Land gemeinsam mit seiner Frau verlassen zu dürfen, wurde nicht stattgegeben. Bis zuletzt war er von der Sicherheitspolizei umgeben, und selbst die Ärzte standen möglicherweise im Dienst der Partei. Ob Xiaobo jemals Gelegenheit hatte, außerhalb der Überwachung mit seiner geliebten Frau Liu Xia zu sprechen, ist ungewiss.
Xiaobo war seiner Zeit stets voraus gewesen. In den Achtzigerjahren – er war damals ein junger Mann Anfang dreißig – erregten seine kritischen Schriften über die traditionelle chinesische Kultur und Denkweise großes Aufsehen in intellektuellen Kreisen. Auch die Mitglieder des Promotionskomitees wusste er zu überzeugen, und so verliehen ihm die altehrwürdigen Professoren einhellig die Doktorwürde. Er wurde daraufhin ein beliebter Dozent an der Pädagogischen Universität Peking. Seine Rolle während der Demokratiebewegung des 4. Juni 1989 mag umstritten sein, doch steht außer Zweifel, dass dank seiner Vermittlung zwischen Studenten und Soldaten nicht noch mehr Opfer zu beklagen sind.
Als Gründungsmitglied des Unabhängigen Chinesischen PEN-Zentrums wollte Xiaobo eine Institution schaffen, die seinen schreibenden Kollegen in China Schutz bieten sollte. »Ich freue mich auf den Tag, an dem unser Land ein Ort der freien Meinungsäußerung sein wird; ein Land, in dem die Worte eines jeden Bürgers gleichermaßen respektiert werden.« Diesen Satz sagte er viele Jahre später, 2009, als er vor Gericht stand und sich zu seiner Verteidigung äußerte. Er wusste nur zu gut, dass Hunderte, ja Tausende Menschen vor ihm aufgrund ihrer Äußerungen bestraft worden waren. Er sagte: »In China gelten Worte als Verbrechen. Ich bin hoffentlich das letzte Opfer dieser langen Geschichte.« Dieser edle Wunsch war ein sanftes Flüstern in der Dunkelheit totalitärer Ödnis. Xiaobo bezahlte die offene Rede mit seiner Freiheit, seiner Gesundheit und schließlich seinem Leben.
In seinen letzten neun Jahren war Xiaobo von Gefängniswärtern, Mitgefangenen, Sicherheitspolizisten und Mitarbeitern der Justiz umgeben. Weder Freunde, noch Familienangehörige wurden zu ihm gelassen. Seine Frau durfte ihn einmal im Monat besuchen. Berührungen waren unmöglich, weil eine dicke Glaswand zwischen ihnen stand. Miteinander sprechen konnten sie nur über ein Telefon an der Wand, während von der Gefängnisaufsicht jedes einzelne Wort aufgezeichnet wurde. Die Gefängnisärzte hatten zu entscheiden, ob er krank war oder nicht. Dieses Mal stellten sie ihre Diagnose sehr spät: zu einem Zeitpunkt, da sein Lebertumor bereits Metastasen gebildet hatte. Erst jetzt gestanden sie ihm eine Behandlung im Krankenhaus zu. Zwei Wochen später war er tot. War es eine inszenierte Intrige oder ein kaltblütiger Mord?
Die internationale Gemeinschaft, die politischen Führer weltweit sowie 154 Nobelpreisträger setzten sich für Liu Xiaobos Freilassung ein und appellierten an Chinas Führung, ihn seinem Wunsch gemäß mit seiner Frau und deren Bruder ins Ausland reisen zu lassen. Der Appell stieß bei den Machthabern nicht nur auf taube Ohren, sie gingen noch weiter und kappten sämtliche Verbindungen zwischen Lius Familie und der Außenwelt. Niemand durfte mit dem Kranken und seiner Frau kommunizieren. Wieder waren die beiden völlig isoliert. Warum hatte das Regime eine solch lähmende Angst vor einem Sterbenden? Als Gefangener erreichten Liu keinerlei Informationen von außen; neun Jahre lang durfte er ausschließlich die Parteizeitung lesen und Bücher, die von der Gefängnisleitung für ihn ausgesucht worden waren. Er hatte weder Zugang zum Internet,
noch Papier und Stift zum Schreiben – wie konnte er da gefährlich sein? Und doch stellte er für die Machthaber offenbar eine unmittelbare Bedrohung dar, da sie beschlossen, ihn zu eliminieren. Dank des kommunistischen Regimes ist Liu Xiaobo zum Helden geworden, zu einer Legende, einer Ikone. Sein Körper ist tot, doch sein Geist, diese Sehnsucht nach Freiheit, Demokratie und Menschenwürde wird niemals sterben, er wird über China schweben, genau wie das Gespenst des Kommunismus, von dem Marx und Engels 1848 verkündeten, es werde Europa heimsuchen. Xiaobos Gespenst wird für Chinas totalitäres Regime zum fortwährenden Albtraum werden.
»Viele Tropfen Wahrheit können zu einer Flut werden und die Tyrannei fortschwemmen«, schrieb Xiaobo in seinem Aufsatz ›Ein verlogenes System durch Wahrheit untergraben‹ (2003). Dass er die Mächtigen mit der Wahrheit konfrontierte, bezahlte er mit seinem Leben. Sie beide seien Narren, sagte er von sich selbst und seinem Freund Liao Yiwu. Doch sie sind keineswegs Narren. Xiaobo war der klügste und konsequenteste Mensch, dem ich je begegnet bin. In Xiaobos Heimat herrscht nach wie vor Tyrannei, eine Tyrannei, die es seiner geliebten Frau untersagt, ein Grab für ihn zu errichten. Die Angst des Regimes ist so überwältigend, dass es sich nicht einmal die Mühe macht, die eigenen Lügen zu vertuschen. In der offiziellen Sprache Chinas wird Xiaobo noch immer als »Krimineller« verunglimpft, als »übler Bursche«, der andere »zum Sturz der Staatsmacht anstiftet«. Aber wir wollen die Hässlichkeit der kommunistischen Parteipropaganda ignorieren und lieber etwas in Ehren halten, von dem Xiaobo so fest überzeugt war: »Die Sprache erlangt ihre Schönheit, indem sie die Wahrheit im Dunkeln zum Leuchten bringt. Schönheit ist geballte Wahrheit.«
Leb wohl, Xiaobo, dein Leben war so vielfältig und erhaben wie eine symphonische Dichtung. Noch gibt es in China kein Grab für dich, aber Menschen, die dich lieben, werden dir in ihren Herzen einen Altar errichten.
Aus dem Englischen übersetzt von Irmengard Gabler

Liu Xiaobo ist nicht nur der prominenteste Systemkritiker Chinas, sondern einer der einflussreichsten Schriftsteller und Denker des Landes. Er ist eine Schlüsselfigur für die chinesische Demokratiebewegung. Umso erstaunlicher ist, dass bislang kaum etwas von ihm in einer westlichen Sprache zu lesen war.
Mit dieser Auswahl seiner wichtigsten Texte ist Liu Xiaobo als ein herausragender Autor, Denker und Lyriker für das deutsche Publikum zu entdecken. Seine Essays zur chinesischen Politik der Gegenwart, zu Kultur und Gesellschaft und zur Demokratiebewegung sowie seine Gedichte bestechen nicht nur durch Mut und Weitsicht, sondern auch durch glasklare Gedankenführung und geschliffene Sprache. Sie eröffnen uns einen neuen, bislang unbekannten Kosmos. Mit einem Vorwort von Václav Havel.
»Freiheitskämpfer kann man, glaube ich, in zwei Grundtypen einteilen: den Typus des Selbstüberschätzers und den Typus des Selbstzweiflers … Bei Liu Xiaobo aber haben wir beides in einer Person. Und das macht ihn so wahrhaftig.« (Herta Müller)