Zweite Einstellung: Frau mit Niqab am Steuer eines BMW. Klar: Schnaps.
Dritte Einstellung: Brandanschlag. Schnaps. Auf den Boden gesprüht: »Kill all Nazis«. Auch Schnaps, aber schon ein ungutes Gefühl. Vielleicht wegen des Schnapses. Vielleicht, weil ich nicht mehr genau weiß, was ein Klischee ist. Vielleicht weil ich nicht mehr weiß, was ein Klischee ist, weil ich drei Schnaps getrunken habe.
Auf der Wikipedia-Seite der Situationistischen Internationale steht: »Jeder ist ein Kind vieler Väter. Es gibt den Vater, den wir hassten, den Surrealismus, und es gab den Vater, den wir liebten: DADA.« Michèle Bernstein steht da, es gibt einen Link zu Bernstein. Auch zu Lettristen, Tristan Tzara, Paris, Lynchmord, Dominikaner.
Die Kommissare verfolgen einen dunklen Mann mit Bart, eine alte deutsche Frau bringt ihn mit ihrem Hackenporsche zu Fall. Ich weiß nicht mehr, ob der Tatort um Flüchtlinge und Nazis geht. Ich glaube nicht.
Der dritte Schnaps war unser letzter Schnaps für Klischees. Die Kommissarin sitzt irgendwann vor dem Computerbildschirm und fasst zusammen, was sie gerade auf dem Bildschirm gelesen hat: »Das sind keine Nazis. Sondern Ethnopluralisten. Sie wollen, dass alle Kulturen erhalten bleiben.« Und vielleicht könnte man einen Schnaps trinken. Dann kommt einer rein und alle drei fangen an ›Auf der Mauer auf der Lauer sitzt ´ne kleine Wanze‹ zu singen. Sie kommen bis »sitzt ne kleine w«. Sie singen einige Minuten. Dann nimmt der Kommissar einen Stapel Akten und wirft die Akten hinter sich. Ich weiß nicht, warum.
Wir trinken einen Schnaps und gleich noch einen. Nicht, weil es ein Klischee wäre. Sondern, weil wir finden, dass das einen Schnaps wert ist.
Der Kommissar gibt dem verdächtigen Marokkaner eine Flasche Kakao: Wir trinken. Die Kommissarin sagt: »So ein Chor, ich meine, das ist doch so ein Chor, da lernt man sich doch kennen, in so einem Chor, also ein Chor, waren Sie denn nie in einem Chor?« Wir trinken. Der neue Chef lässt für einen Moment den Jandl Jandl sein und redet über die Probleme, die der unterdrückten deutschen Polizei die Arbeit erschweren: »Das reicht nicht für einen Haftbefehl – den müssen wir wieder freilassen – bringen Sie mir was Konkretes!«. Der Kommissar schläft im Stehen ein. Wir trinken!
Der neue Chef schenkt allen ein Reclam Heft mit Jandl Gedichten. Kommissare sitzen um einen Tisch und lesen Gedichte vor. Gleichzeitig werden alle Figuren gezeigt: Frau mit Niqab. Flüchtlinge, der Chor, die melancholische Nazibraut, der Kiosk.
Wir trinken und staunen.
Die politische Diskurstiefe einer Facebook-Timeline. Aber eine volle Minute einen Laurel und Hardy Witz, in dem sich der Kommissar und zwei Flüchtlinge im Dreieck vorstellen.
Wir haben auch eine Pizza bestellt. Mit Pilzen, Mais, Zwiebeln. Wir haben einen Fenchelsalat gemacht. Wir sitzen auf dem Sofa, unter Decken, weil es kalt ist. Wir haben eine Kerze angezündet. Im Fernsehen wird ein Kiosk angezündet. Who cares?
Wikipedia. Die Situationistische Internationale: »Die Surrealisten wollten das Kunstwerk zerstören, die Dadaisten den Künstler.« Mag sein, dass es Wikipedia war.
Wichtig ist auch: dass man Bier trinkt. Und dass man erstaunt ist über die Raumfahrt. Und dass es eine Quallenart gibt, die so lange unsterblich ist, bis man sie mit dem Stiefel am Strand zertritt oder sie von einem Hai gefressen wird. Nicht ganz so wichtig ist es zu wissen, ob Haie Quallen essen. Nicht so wichtig ist auch, ob Geflüchtete keinen Fahrschein kaufen müssen. Wichtig zu wissen ist, dass Geflüchtete in Ostdeutschen Vorstädten in kärglicher Armut vor sich hinvegetieren müssen, weil der Rest der Gesellschaft damit beschäftigt ist, sich über die Flüchtlinge Gedanken zu machen. Wichtig ist, dass man die Arbeit schwänzt, wenn man keine Lust auf seinen Kackjob hat. Und dass man Kopfschmerzen hat. Und dass man die Kopfschmerzen hat, weil der Abend gestern zu langging und man viel zu viel Geld ausgegeben hat. Weil der Abend in Wirklichkeit eben nicht zu langging und man gar nicht genug Geld ausgegeben kann.
Ich lese die Rezensionen nochmal. Die erste: Positiv. Der Rezensent findet, dass der Tatort genau der richtige Kommentar zu den richtigen Verhältnissen ist. Weil es um Rassismus geht. Er zitiert: »Weil wir die weghaben wollen. Aber deswegen sind wir keine Nazis«. Er findet: Das ist doch der Zeitgeist. Vielleicht. Ich weiß. Wer nicht? Zitat: »Wie sieht der aus? Irgendein Schwarzer halt!«. Da sieht man die rassistische Mehrheitsgesellschaft die Zähne blecken, findet er.
In der FAZ: Negativ. Oliver Jungen findet »Der Frankfurter ›Tatort‹ will in Sachen Flüchtlingskrise und ›neue Rechte‹ so sehr Zeitkommentar sein, dass er dafür seine Seele verkauft.« Was die Seele des Tatorts bis dahin gewesen sein könnte, das bleibt freilich Jungens Geheimnis.
Wikipedia: »Die Surrealisten wollten das Kunstwerk zerstören, die Dadaisten den Künstler.« Mag sein, dass es Wikipedia war.
Na gut, Wikipedia halt.
Aber sagen wir für den Moment: Der Tatort zerstört das Gerede über Flüchtlinge. Die Facebook Timeline. Die Empörung, über rechte Gewalt. Die Empörung über freie Eintrittskarten für Flüchtlinge, über Waschmaschinen, racial profiling, Willkommenskultur, Multikulti, Grabscher, Diebe, Burkaverbot.
Vielleicht ist die Timeline auch schon DADA.
Sagen wir für den Moment, dass die Rezensenten darauf hereingefallen sind.
Es gab eine Chance, einen Moment, nicht mehr der deutschen Obsession anheim zu fallen, keifend und selbstgerecht irgendwem die Leviten zu lesen.
Für einen Moment einfach mal die Schnauze halten. Die verschobene Schamgrenze zurechtrücken, die Restempathie den Platz einnehmen lassen, den die Empörung eingenommen hat. Von mir aus nach der »Seele« des Tatorts zu suchen. Kopfschmerzen vom Saufen bekommen. Nicht von der Tagesschau.
Stattdessen soll es in diesem Tatort um Flüchtlinge gegangen sein. Oder um Nazis.
Die Deutschen haben in der Dichotomie, im Streit, in der Empörung zueinander gefunden. Da bleibt wenig Platz übrig. Nicht für Hilfesuchende, nicht für Leben, nicht mal für den Tatort. Und wenn der Tatort seine Seele verkauft, weil er sich lieber mit dem DADA der Diskursqualität deutscher Wutbürger beschäftigt, als kleinkarierte Lösungsansätze für das große Ganze zur Verfügung zu stellen, dann kann wohl kein Zuschauer mehr anders, als sich selbst persönlich verletzt zu sehen, eine persönliche Kränkung der bemühten und betroffenen Zuschauer, die alles tun, um der Situation gerecht zu werden, sogar den Handlungsanweisungen der Seele des Tatort Folge zu leisten.
Ein Polizist geht in einen Nazischuppen. An der Bar sagt einer der Gäste zu ihm: »Ich bin nicht Wikipedia. Ich kann dir in die Fresse hauen. Oder wir trinken einen. Deine Entscheidung.« Der Kommissar sagt »Heil Hitler« und wird von allen komisch angeschaut.
Matthias Dell findet in der ZEIT, dass das schlecht ist. Ich finde das gut.
Alles für eine Sekunde. Kontextlos. Und keinen interessiert’s.
Es gibt marokkanisches Essen. Die Kommissare sagen, dass das »so toll schmeckt, dass das so schön ist, mit diesen Gewürzen.«
1 Sekunde.
Eine Frau mit Kopftuch wird überfallen.
1 Sekunde.
Deutsches Liedgut im Chor.
1 Sekunde.
Der Flüchtling klaut das Auto des Kommissars.
1 Sekunde.
Doris Akrap sagt in der ZEIT: »neiiiiiiiin. Doch nicht sooooo.«
Stimmt. Wenn die Nazis die besseren Partys feiern, dann vielleicht lieber ohne Tatortseele.
Wir sind zwar vor dem Ende eingeschlafen. Weil wir besoffen waren. Aber uns bleibt die Timeline.