7. November 2018
Ich bin erkältet. Ich bin krank wie ein Hund. Ich fahre am Abend nach Tallinn. Ich trinke zu viel Whiskey und gehe ins Bett.
8. November
Früher Morgen. Draußen ist es dunkel. Ich fühle meine eigenen Zähne nicht. Ich schleppe mich die Treppe runter, Peeter ist schon mit dem Taxi da. Am Flughafen trinkt er Bier, ich esse ein belegtes Brot.
Im Flugzeug von Tallinn nach Riga ist eine Frau, die lautstark lacht, bis sie einschläft. Ihr Mann süffelt aus einem Flachmann dubiosen Likör. Als das Flugzeug landet, will die Frau als erste rausstürmen und schlägt mit einem lauten Bums gegen die Gepäckablage. Auf dem Flug Riga – Berlin passiert überhaupt nichts.
Vor um zehn sind Peeter und ich am Berliner Hauptbahnhof und vertreiben uns die Zeit. Berliner Weiße stellt sich als grün heraus. Eine Frau am Bahnhof sieht exakt so aus, als ginge sie zur Literaturveranstaltung. Rosa Dr. Martens, Kleidung mit Einflüssen aus Karl Marx’ Jahrhundert. Das ist die finnische Autorin Anu, wie sich später herausstellt.
Peeter sagt, dass Jägermeister ein Getränk für alte Leute ist. Ich kaufe eine kleine Flasche. Zusätzlich nehme ich zwei Sudafed. Im Minibus der Universität, der uns nach Greifswald bringt, trinken wir den Jägermeister aus. Sudafed kann Pseudoephedrin sein, aber es wirkt. Ich schwitze und frage Peeters Verleger, wie viele er von Peeters Büchern verkauft hat. Wir sprechen auch über E-Books.
In Greifswald überrascht mich der Karl-Marx-Platz. In Wirtschaftswissenschaft lernte ich, dass Marx’ Ideen im Kontext des 19. Jahrhunderts ziemlich originell waren. Aber wir haben das 21. Jahrhundert. In Greifswald läuft der Wendelstein 7-X. Im Grunde betreiben das Max-Planck-Institut für Plasmaphysik und die örtliche Universität einen Fusionsreaktor. Cool.
Vom Hotel gehen Peeter, die Tschechin Viktorie und ich essen. Peeter erzählt, dass es ihm gefällt, über die seltsamen Sexualpraktiken von Menschen nachzudenken. Viktorie ist überrascht. Ich bezahle für einen Grappa sieben Euro. Die Literaturseminarsitzungen sind lang, und ich kenne nur einzelne Wörter auf Deutsch. Ich verstehe mehr, als man hätte annehmen können. Trotzdem schlafe ich im Laufe der ersten Stunde fast ein. Bei Aldi kaufe ich französischen Pflaumenschnaps. Neun Euro und neunzig Cent. Ein edles Getränk. Besonders mit einer neuen Dosis Sudafed. Am Abend schaffe ich es sogar in die Kneipe. Die örtliche Jugend steht auf dem Kopf. Die Mädchen kreischen und drücken die Nacken der jungen Männer an die Schenkel.
Ich komme aus Tartu, einer kleinen Universitätsstadt mit dem Status einer UNESCO-Literaturstadt. Die kleinen europäischen Universitätsstädte sehen immer wie Tartu aus und umgekehrt. In Groningen, Holland, war ein starker Kuhgeruch in der Luft. In Greifswald ein Monument für die Befreier und ein Fusionsreaktor. In Tartu, in den Höhlen von Aruküla, befinden sich seltene Fossile der in der Zeit des Devons ausgestorbenen Panzerfische (placodermi).
9. November 2018
Ich wache gut ausgeruht auf. Peeter macht darauf Aufmerksam, dass auf dem Frühstückstisch Champagner fehlt. Das ist unser Tag. Besonders Peeters Tag, der Auszüge aus meinem Roman »Serafima und Bogdan« flüssig vorlesen und zu guter Letzt mich interviewen muss. Wir kommen gut zurecht. Es werden sachliche Fragen gestellt. Ob ich einen Verleger finde? Ich weiß nicht. Vielleicht hätte ich wie Jüri Ehlvest, der mit dem Schiff nach New York fuhr und dort starb, sagen sollen, dass ich ein Genie sei. Jemand, der weniger als ein Genie ist, wird im Westen nicht angehört. Ach, dumm nur, die polnische Grenze ist nah und zudem bin ich in Ostdeutschland, dort kann man sich heimisch fühlen. Vor dem Abend nicht mal ein Tröpfchen.
Am Nachmittag gibt es für Interessierte die Möglichkeit, die Insel Usedom zu besuchen. Ich mache aus den Materialien des Büfetts zwei Sandwiches und wickle sie in Servietten. Kleine Brote, die an benutze Windeln erinnern. Mir fällt ein, wie ich in den 1990er Jahren bei einem Schwedenbesuch mit meinen Eltern Wasserflaschen an einem Waschbecken in einer Toilette aufgefüllt habe. Wie die Schweden mich angeschaut haben. Jetzt schaut niemand.
Die Insel Usedom sieht reicher aus als die Umgebung. Ich bin ein praktischer Mann, ich weiß, was ein neues Steindach und modische Fenster mit niedrigem U-Wert wert sind. Pinienwälder. Grauer Himmel. 1630 eroberte der schwedische König Gustav Adolf das ganze Gebiet, mit dessen Genehmigung 1632 die Universität Tartu gegründet wurde. So gehörten Greifswald und Tartu einige Jahre zum schwedischen Imperium.
Auf der Insel Usedom in der Nähe von Peenemünde wurden die berühmten V1- und V2-Raketen gebaut. Die V2 war das erste von Menschen geschaffene Objekt, das die Kármán-Linie überschritt, d.h. es in den freien Weltraum schaffte. Vom Komplex zur Entwicklung und Produktion von Raketen ist wenig übrig geblieben. Ich lese im Bus Wikipedia. Der gesamte Luftangriff der Alliierten war kein Zufall. Cherchez le polonais. Zwangsarbeiter zeichneten eine Karte des Komplexes, die erreichte London. Sie mussten doch wissen, dass die Bomben der Royal Air Force auch sie töten würden. Später zogen die Kämpfer der Armeja Krajowa aus dem Bug eine nicht explodierte V2 und schickten diese den Alliierten. Heldentum! Hoffen wir, dass die Zukunft etwas Derartiges nicht von uns verlangt. Ich möchte darüber schreiben, aber wie ist das elegant zu machen?
Der zweite Tag des Literaturseminars ist eigentlich sehr interessant. Peeter übersetzt die wesentlichen Momente. Ich verstehe selbst ziemlich viel – drei Jahre Deutsch an der Mittelschule ist immerhin kein Pillepalle. Die Teilnehmer wollen wirklich verstehen, wie man besser schreibt. Und wie man die Zustimmung der Verleger erhält. Oder scheint es mir nur so?
Das Leben von estnischen Schriftstellern ist unverschämt leichter als das von deutschen. Oder von Autoren der größeren Staaten generell. Oft geben unsere Bestsellerautoren ihre Bücher selbst heraus. »Eesti Kultuurkapital« unterstützt finanziell. Buchläden nehmen diese in den Verkauf. Der Druckerei zahlen sie 20% Mehrwertsteuer, den Buchläden verkaufen sie sie mit 9% Mehrwertsteuer. Von »Serafima ja Bogdan« wurden in Estland über 6000 Exemplare verkauft, ich habe gerade 2000 bestellt. Nicht schlecht in einem Land mit 1,5 Millionen Einwohnern. Aber wie schafft man es auf den Weltmarkt? Die estnische Außenhandelsbilanz liegt mit zwei Milliarden Euro im Minus. Meine Pflicht dem Vaterland gegenüber ist es, den Export zu steigern.
Wenn die Vorträge enden, sollte ein fröhliches Abendessen stattfinden. Es wird schon gegessen, aber die gesamte Schar ist ausgelaugt. Wenige schaffen es, in die Kneipe zu gehen. Ganz nüchtern bleibe ich trotzdem nicht, das kann man aus dem Fakt schließen, dass ich mit Marko, dem Organisator, Finnisch spreche. Wenn du Männer verstehst, bedeutet das nicht automatisch, dass du Frauen verstehst. Genauso ist es mit dem Estnischen und Finnischen, auch wenn sie verwandte Sprachen sind.
10. November 2018
Am Morgen noch eine Sitzung. Und dann ist Zeit für den Abschied. Es werden Hände und Küsse gegeben. Ich flüchte in den Minibus, weil ich mich vor Abschieden fürchte. Das Seminar hat die Tschakras geöffnet. Ich will mich in eine Ecke verkriechen und schreiben. Aber Peeter und ich haben noch einige Auftritte in Berlin vor uns – im estnischen Leseverein, wo nur literarische Stars auftreten, und im nicht mit dem Leseverein verbundenen Estnisch-Deutschen Klub.
Berlin, genauso wie Greifswald, erweist sich als kleine Stadt – fast überallhin, wohin es nötig ist, gehen wir zu Fuß. Den gesamten Herbst schnitt ich mit einer Motorsäge Wald und Gebüsch, einige dutzende Kilometer zu laufen, ist für mich ein Klacks.
13. November 2018
Von Frau von E.s Wohnung, in der wir freundlich aufgenommen wurden, schaffen wir es in einer Viertelstunde zum Flughafen. Diesmal mit dem Bus. Und wir hängen den halben Tag am Flughafen herum, bis im Flugzeug die Dampfkesselventile ausgewechselt werden. Okay, nicht gerade von einem Dampfkessel, aber wir können halt nicht sagen, was das Problem ist. Riga erreichen wir so spät, dass es für mich am klügsten ist, mit dem Bus nach Tartu zu fahren. Vier Stunden im Bus, eine Kleinigkeit.
Ich bin so gesund wie ein Hecht.
Aus dem Estnischen von Martin Schönemann
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