Oliver Vogel: Dahinter steckt, scheint mir, der Wunsch, schlauer zu sein als der Text. Was William Gass sagt, stimmt – und ist doch ein arg formalistischer Versuch der Aufteilung des Textes in seine Bestandteile, irgendwie eine Trennung von Körper und Geist (von Seele gar nicht zu reden). Ich frage mich, wie lose der Traum des Textes über seine Materie, die Zeichen, gestülpt ist, wie gradlinig, direkt, gefesselt die Wirkung des Textes, sein Phantasma an seine Zeichen gebunden sind. Um mit Robert Musil zu sprechen: Wie kriegt man »Genauigkeit und Seele« zusammen?
Ina Hartwig: Genauigkeit und Seele, das gefällt mir! Ich bin auch sehr für die Analyse, aber als Kritikerin sage ich: Die Kritik darf nicht zur reinen philologischen, strukturellen Analyse werden. Dennoch ist damit ein wunder Punkt gegenwärtiger Kritik erfasst: Denn so unendlich viele Kritiken kommen tatsächlich ohne Analyse aus und schreien das sogenannte Bauchgefühl direkt heraus, begleitet von einem Schwarmvokabular, das dann begierig von den Verlagen auf dem Umschlag, in der Werbung oder auf den Homepages platziert wird.
CM: Vielleicht fühlt die Literaturwissenschaft sich gerade deshalb berufen, sich jetzt auch der Gegenwartsliteratur anzunehmen. Was nicht ohne Gefahr für die Literaturwissenschaft selbst ist, und den technischen Aspekt der Textanalyse vielleicht zu sehr in den Vordergrund rückt. William Gass behauptet, dass Mr. Cashmore »kein Gegenstand der Wahrnehmung sei und man korrekterweise nichts über ihn sagen könne, was auf Personen zutrifft«. Ich widerspreche ihm hier vehement. Denn der Zauber der Literatur besteht ja gerade darin, dass sie aus den sprachlichen Zeichen das Phantasma nicht nur von Stimmen, sondern von Personen generiert. Und mit dieser fiktiven Person können und müssen wir umgehen. Wer wissen will, wie die literarischen Personen, die Handlungsorte, entworfenen Welten oder Gedankengänge spezifisch jetzt in unserer Zeit aussehen, wenn man also über Literatur in ihrer Eigenart sprechen will, muss der Blick die Strategien und Verfahren einschließen.
OV: Ich will ja hier jetzt auch nicht einfach die Seele beschwören, als hätte es so Ergriffenheitsreaktionäre wie Emil Staiger nicht gegeben. Und mit dem Logozentrismus-Vorwurf bin ich selbst akademisch sozialisiert worden. Trotzdem muss ich mich bei so einem Literaturtheoretiker wie Gass sofort auf die Gegenseite des Dualismus schlagen, also zu »Geist« und »Seele«. Und vielleicht ist das ja genau unser Problem: Wie gelingt es, wenn schon nicht aus solchen Dualismen rauszukommen, so doch anders damit umzugehen.
IH: Wichtig ist jedenfalls, den Text in seiner Genauigkeit zu erfassen, was manchmal schlicht heißt: zu spüren. Was aber »spürt« man lesend? Geist und Seele des Textes. Die Melodie der Textur. Die Dringlichkeit eines Stoffs. Andere Werke. Frühere Lektüren. Thesen, Spielereien, Provokationen. Schreibweise und Stil doch wohl auch?
OV: Und Haltung! Ich kann in einer bestimmten Literatur – die sich etwas traut, die entschieden ist, die Rücksichten nicht kennt und Ansichten auch formal vertritt, die die »zentrifugale Kraft«, die aus ihr hervorgeht (wie Italo Calvino schreibt), nicht in einer harmonischen Figur verschließt – durchaus eine grundsätzliche Gegenposition zu den herrschenden Zuständen sehen. Walter Boehlich sagte in seinem Autodafé, die Kritik sei tot und fragt dann: welche? »Die bürgerliche, die herrschende ...« Was herrscht im Moment? In einer Zeit, in der Pragmatismus die höchste Tugend und Ökonomie eine Religion ist, wird alles, was nicht beruhigt oder unterhält, zum Aufruhr (ein Streeruwitz-Wort). Mir scheint, es herrscht oft die Angst im Moment, Angst vor Veränderung, Angst davor, rauszufallen aus einem fest installierten System. Wenn man dann konfrontiert wird (oder sich konfrontiert) mit Büchern, die mehr als nur eine einfache Wahrheit wagen, dann ist das doch schon ein Ereignis, das ich Kritik nennen und den Texten zugutehalten würde.
CM: Boehlich sprach damals, im ›Kursbuch 15‹ von 1968, vom »Tod der Kritik«, was für ihn das Ende aller bürgerlichen Maßstäbe und Anforderungen an die »schöne Kunst« bedeutete. Für ihn war klar: Die Poetik ist unbedeutend. Es zählt einzig das politische Potential der Literatur. Inwiefern ist dieser Anspruch ein Ausdruck des veränderten Zeitgeistes und des Verständnisses der Literatur?
IH: Heute sehe ich in dieser radikalen Geste von Boehlich vor allem eine untergegangene Mode, die uns Nachgeborene in Zugzwang bringt. Entweder ergibt man sich schlapp oder, positiver gesagt, entspannt einer Anything-goes-Attitüde – nach dem Motto: was unsere Lehrer wollten, verweigern wir gerade –, oder man versucht, die Möglichkeiten des radical chic für die zeitgenössische Situation auszuloten. Allerdings sollte man sich entscheiden, ja, um der Erkennbarkeit einer Haltung willen.
OV: Meine Arbeit im Verlag sehe ich genau an dieser Schnittstelle, wo die Haltung erkennbar wird, also zwischen dem »Aufruhr«, der die Literatur ist, und der Ware, zu der das Buch im Verlag gemacht wird. Da wird es manchmal eng, denn ich will ja gerade den Aufruhr, die Kritik, die »zentrifugalen Kräfte« transportieren. Und doch darf der Briefumschlag, mit dem ich sie auf den Weg bringe (also der Umschlag, der Klappentext), nicht lügen. Mir scheint: Das Lob im Klappentext ist noch der unauffälligste, weil unterschätzte Schmugglerweg.
CM: Kann die Literatur der Gegenwart sich denn noch in der kritischen Position befinden? Was heißt es, wenn Marlene Streeruwitz’ jüngste Heldin für sich proklamiert: »Ich kritisiere nicht, ich lehne ab.« Stirbt die Kritik jetzt ihren zweiten Tod?
IH: Keineswegs. Bei der Literatur als »Gegenposition zu den herrschenden Zuständen«, da würde ich allerdings halblang machen wollen. Ich glaube: Kritik sells! Was natürlich Adorno auch schon wusste, das wunderbare Stichwort von der Kulturindustrie kreist weiterhin über uns; zugleich sein Credo des ganz Anderen, der Kunst als »negative Ästhetik«, als dialektische Verneinung des Bürgerlichen. Bei aller Verehrung für diese schöne Tradition, wir stehen heute woanders. Das Bürgerliche als Schreckgespenst – das mache ich nicht mit. Poetik soll politisches Engagement praktischerweise gleich mitliefern? Für mich artikuliert sich da die Sehnsucht nach einem Gegner. Das ist es, was mich misstrauisch macht. Muss ich mich erst zur Anti-Kapitalistin erklären, um als Literaturkritikerin glaubwürdig zu sein? Ich möchte die Literatur nicht mit diesem ideologischen Gewicht befrachtet sehen. Konkret: Wenn ich Streeruwitz’ Bücher interessant finde, dann trotz, nicht wegen ihres »kritischen« Gehaltes.
CM: Eine ganz andere Warte wäre: Literarische Texte können ebenso wenig wie Autoren eine souveräne Position der Kritik für sich beanspruchen. Sie sind Teil der gesellschaftlichen Strukturen. Adorno tut es also nicht mehr. Wie wollte man, wie Adorno noch in »Musik und Gesellschaft«, sauber zwei Sphären voneinander trennen? Dort die Kunst, unberührt, rein, mit kritischem Blick, da der böse Kapitalismus. Zugegeben: So einfach ist das bei Adorno ja nun auch nicht; Kunst ist autonom und fait social zugleich …
IH: Politisch betrachtet, möchte ich mich von der Souveränität nicht verabschieden. Vielleicht war es Peter Handke, der mich lernen ließ, dass man an die Politik nicht die Erwartungen der Poesie herantragen darf. Da bin nun wieder ich altmodisch: Die Politik hat ihre eigenen Gesetze. Schriftsteller und Dichter kennen diese Gesetze erfahrungsgemäß schlecht bis gar nicht. Ihre politischen Visionen, siehe Streeruwitz, siehe Peltzer, tendieren daher zum Theoretischen; was ich keineswegs ablehne. Deshalb muss ich die Theorie aber nicht gleich kaufen. Sie bleibt (politische) Theorie mit ästhetischem, poetischem Korsett. Rainald Goetz ist mit seinen Studien der Managerkaste einen anderen Weg gegangen. Mir kommt Goetz weniger wie ein Revolutionär vor, eher wie ein Bürger, dessen Sehnsucht nach Souveränität zutiefst enttäuscht wurde und der sich aus der Sprachlosigkeit herausschreibt.
CM: Das Interessante und Irritierende bei Johann Holtrop ist doch, dass er eine Figur geschaffen hat, die ohne jedes Begehren auskommt. Damit bricht er mit der auch in der Postmoderne gültigen Prämisse, dass jede Form von Kultur und Subjektbildung immer auf Begehrensstrukturen beruht. Ist nicht genau dieser Bruch eine souveräne literarische Geste?
OV: Worüber die Figur Johann Holtrop nicht hinauskommt, ist, was Luc Boltanski und Ève Chiapello als »Geist des Kapitalismus« bezeichnen: die Rechtfertigungen, die die Menschen an den Sinn ihres Tuns im kapitalistischen Prozess glauben lassen. Zu diesem »Geist« zählen sie auch die Kunst – und zwar dezidiert das, was sie als »Kunstkritik« bezeichnen: So einer wie Holtrop fühlt sich doch als Künstler. Der Künstler steht gegen eine Uniformierung und für Autonomie und Freiheit, Einzigartigkeit und Authentizität. Das ist der neue Kapitalismus, er erwartet ein künstlerisches Dasein. Aber so sehr ich Boltanskis und Chiapellos Kritik an den Anforderungen des Arbeitsmarktes schätze, so wenig verstehe ich ihre Kritik an der Kunstkritik, die mir fast schon antiquiert vorkommt: Ist nicht diese Kunstkritik im Zeichen von Pop, Punk und Boheme bei den heutigen Künstlern genauso historisch und entzaubert wie die alte bürgerliche Vorstellung von Kunst? Und welcher Schriftsteller hat denn heute noch den (künstlerischen) Wunsch, einzigartig und authentisch zu sein? Von den Autoren, mit denen ich arbeite, kenne ich diese Vorstellung nicht. Während die ganze Gesellschaft vom Kreativitätsdispositiv beherrscht wird – der bittere Triumph einer alten Avantgarde-Idee, die Verschmelzung von Kunst und Leben –, glauben, so scheint mir, gerade die Künstler heute am allerwenigsten an diese Sache mit der Kreativität.
IH: Dem würde ich eine meinetwegen radikal romantische These entgegensetzen, und die lautet: Die Künstler wissen am besten, dass ihre Kreativität unverfügbar ist; bis zu dem Moment, in dem sie sie – als Werk – zur Verfügung stellen und eben verkaufen. Ihre Einfälle sind und bleiben aber einzigartig; daher die Abhängigkeit derer, die diese Einfälle nicht haben. Dies gilt unabhängig vom politischen System. Es war in der mäzenatischen Monarchie genauso; die Form der Abhängigkeit der Künstler vom Auftraggeber mag sich wandeln, die Abhängigkeit des Auftraggebers vom Künstler bleibt konstant. Ich glaube an das im Kern der künstlerischen Arbeit Unverfügbare. Dass dieser Kern in ein Produkt übergeht, das dann Ware wird: geschenkt.
OV: Felicitas Hoppe zitiert den Satz: »Der Schriftsteller ist ein blindes Huhn.« Der Schriftsteller ist einer, der sich von seinem Text überraschen lässt; der, statt »authentisch und einzigartig« zu sein, ehrlich ist; der sich in seiner Arbeit nicht erst fragt, was er tut, und gerade deshalb das richtige tut: nicht pragmatisch, nicht zielstrebig, nicht erfolgsorientiert. Es ist eine Kunst der Erinnerung und der Beobachtung, deren Ergebnis aber fragmentarisch ist und idiosynkratisch, die die Wirklichkeit nur partiell und verzerrt wiedergibt. Also eine Erinnerung und Beobachtung, die der Wirklichkeit nicht dient, sondern sie – in den Augen des Lesers – verändert. Das kann Widerstand sein und Kritik. Ist nicht diese Vorstellung, wie auch immer man sie genauer fassen müsste, eine wirkliche Kritik, eine Kunstkritik, die sich dem »Geist des Kapitalismus« mit (mag sein: unbeholfenen, mag sein: seltsamen) Barrikaden in den Weg stellt?
CM: Interessant scheint mir die Aufgabe der Souveränität auf der Textebene zu sein. Albrecht Koschorke verortet die Literatur genau auf der Grenze zwischen Systemen. Während Systeme immer dafür sorgen, dass sie in sich geschlossen sind, fehlt diese Schließung auf der Grenzlinie, auf der er die Literatur ansiedelt. Der Zwischenraum ist also für diskrepante Codes und Narrative offen, und das zeichnet ihn aus. Das aufgenommene Material kombiniert der jeweilige literarische Text nach seinen eigenen, poetischen Verfahren. Das heißt, literarische Texte bilden weder eine soziale Realität noch ein anthropologisches Modell oder auch nur einen verbindlichen Code ab. Literatur ist also ausdrücklich in keiner Meta- oder Außenposition, von der aus sie die Gesellschaft beobachtet. Sie ist selbst Teil der Gesellschaft und funktioniert (nur) nach anderen Verknüpfungsregeln und hat eine andere Art von Material zur Verfügung. Die Position der Souveränität ist weg, aber die Literatur behält ihre Eigenart.
OV: Ich höre die Sorge heraus, die Dinge nicht kontrollieren zu können. Kombination statt Abenteuer, Archiv statt Rausch, Polycodifizierung statt Bewusstseinserweiterung. Das klingt nach einem schlechten Deal, den der literarische Text da eingeht. Eigentlich hört sich das an wie die Erfindung der Literaturtheorie – als Literatur.
IH: Nein, nein, das klingt nach einer überzeugenden Literaturtheorie, die zur Kenntnis zu nehmen Teilen der Literaturkritik gut bekäme. Mir gefällt Koschorkes Ansatz auch deshalb, weil er sich andocken lässt an den Realismus-Begriff, der seit einiger Zeit zum hysterisierten punching ball der Kritik geworden ist, oder zum angehimmelten Star. Beidem misstraue ich, wie ich umgekehrt einer wohlfeilen Kapitalismuskritik misstraue. Meine Thesen wären a) »der« Realismus im Sinne einer unvermittelten Wirklichkeit existiert nicht, so wie Lacan sagte, dass DIE Frau nicht existiert (in Lacans verwegener Schreibweise ist der Artikel durchgestrichen: la femme n’existe pas), und b): Der Realismus ist eine ehrenwerte literarische Tradition, an die angeknüpft werden kann, vorausgesetzt, man kann. Schließlich würde ich c) behaupten, dass bei den Gegnern des vermeintlichen Realismus auch wieder eine Sehnsucht schlummert: nach einer von der Realität befreiten Literatur.
CM: Offenbar sind wir uns einig darüber, dass das Reale immer semiotisch vermittelt ist. In einem literarischen Text erscheint zunächst immer eine Figur. Sehr gut erzählten realistischen Texten gelingt es eben doch, Personen vor Augen zu stellen. Und zwar absonderliche Personen, die Unvorhergesehenes tun. »Welthaltigkeit« ist eigentlich keine so schlechte Kategorie, sie darf nur nicht gegen das Semiotische ausgespielt werden. Vielleicht ist eine herausragende Qualität realistischer Verfahren, dass sie ein besonderes Gespür haben für die Unsicherheiten, das Unbestimmte, das sich zwischen die Dinge schleicht. Genau das lässt sich semiotisch inszenieren.
OV: Es ist dieses Gespür für das Unbestimmte, das die Literatur von anderen Darstellungsformen unterscheidet: Fernseher wie Computerbildschirme werden immer schärfer – aber das, was man sieht, bleibt so weit entfernt wie vorher auch. Apple wirbt für Retina-Bilder, die »noch realistischer wirken als die Realität«, und hat damit recht: diese Bilder auf dem Bildschirm »wirken« eben realistischer, sie sind aber nur genauer, was das Gegenstück ist zur Unbestimmtheit. Nirgends wird das Unbestimmte so exakt wahrgenommen wie in der Literatur – also die Unsicherheit, die Angst, die Verzweiflung, die Leidenschaft.
IH: Wie verbindet sich denn dann die Frage einer interpretierten Wirklichkeit mit den Formen des Erzählens und der Dichtung? Oder gibt es womöglich gar keinen Link? Um auf die Möglichkeit eines gegenwärtigen poetischen Realismus zurückzukommen: Der scheint mir dann relevant und überzeugend zu sein, wenn er hindurchgegangen ist durch die Formerfahrung der Avantgarde und sie, bewusst und nicht aus Unkenntnis oder Naivität, hinter sich lässt. Das ist erst einmal unabhängig von den angesprochenen Oberflächendimensionen, die wir den digitalen Medien gern zuschreiben, die sich aber dennoch ständig mit psychischen Energien aufladen und insofern in die Tiefe der (Musilʼschen) Seele reichen.
CM: Die interpretierte Wirklichkeit ist immer abhängig von der Form. Man muss sie erst gar nicht wie einen Dualismus verhandeln. Ich sehe also eher zwei Formen von literarischen Innovationen. Die eine spielt sich dort ab, wo Texte sich streng dem Realismus verpflichten. Sie können aber Neues erzählen, wenn sie den Blick auf neue Konstellationen oder Figuren oder politische Situationen richten. Die anderen sind durch die avantgardistische Schule gegangen, und sie vereinen jetzt Versatzstücke sowohl des Realismus als auch der Avantgarde und des Pop. Und hier entsteht momentan ein komplett neuer literarischer Gestus.
IH: Die Subjekte wirken jetzt oft müde, erschöpft, leer – ohne dabei dumm zu sein, im Gegenteil. Komisch, in gewisser Weise kommt da ein altbekannter Topos zurück, der des Ennui. Man gibt sich unüberrascht, erlebt keinen Schock, kein Entsetzen, zeigt keine glühende Leidenschaft. Das ist, unter anderen Vorzeichen, wieder ganz aktuell. Eine neue Form, authentisch sein zu können?
CM: Man ist nie authentisch! Dennoch hören die Subjekte nicht auf, daran zu arbeiten. Wer verzichtet schon darauf authentisch zu wirken? Diese ständige Selbstkonstitution ist anstrengend. Wahrscheinlich lässt sich die Müdigkeit daraus ableiten. Aber das wäre zu einseitig: Denn das Schaffen von authentischer Wirkung, ohne auf fremde Autorität zu setzen, ist eben auch ein Spiel, ein ästhetisches, hedonistisches, gewitztes. Rafael Horzons ›Das weisse Buch‹ ist für mich das gewagteste und reizvollste Authentizitätsspiel der vergangenen Jahre. Der lässt einfach ein Projekt und eine Selbsterfindung auf die andere folgen, wie in einem wilden Reigen.
IH: Vorsicht, so ganz neu ist das nicht. Elfriede Jelinek hat schon vor Jahrzehnten die krasseste Authentizitätsverweigerung betrieben, indem sie das erzählende Subjekt zum Objekt gemacht hat. Eine Feier der Verdinglichung: Luft rauslassen aus den schweren Symbolen Politik, Nation, männlich/weiblich, Freiheit etc. Aber ihr Gestus ist aggressiver als der einer postmodernen Jeunesse dorée. Was man Jelinek (nicht ganz zu Unrecht) vorwirft, ist eine gewisse Paranoia des Weltbilds. Den Paranoia-Modellen kann man das Slackerum gegenüberstellen, all die genialen Verlierer, die nichts mehr wollen, die gescheitert sind und daraus kein Drama machen. Leider bedeutet Luftrauslassen noch lange nicht, dass man die Paranoia loswird.
OV: Die Paranoia ist ein Wahn, der gegen den Verstand geht, der verrückt ist. Zur Zeit verändert sich ja weitaus mehr als nur die literarischen Gesten, und es wäre seltsam, denen, die auf diese Veränderungen reagieren, Paranoia zu unterstellen, denn diese Veränderungen sind real: Zum einen geht es natürlich um die digitale Revolution, über die alle sprechen, die aber in unserem Bereich bisher kaum entscheidenden Einfluss auf literarische Formen nimmt. Die Marktentwicklung hingegen zeigt eine einschneidende Veränderung mit Folgen, die jetzt schon deutlich spürbar sind: Die Absatzzahlen stagnieren seit Jahren; die Bedeutung der wenigen Top-Titel steigt wie die Remissionsquoten deutlich; etwa ein Fünftel des Umsatzes wird in den großen Buchhandlungen inzwischen mit dem Nebensortiment gemacht (Medien, Spielzeug, sog. Non-Books); wenige große Ketten teilen den Markt untereinander auf, den sie zugleich, was die Titelzahl angeht, verkleinern. Dazu kommt, dass im Sortimentsbuchhandel Bücher immerhin noch sichtbar sind, und es wird nur gekauft, was sichtbar ist. Im Internetbuchhandel ist das anders, denn hier muss man suchen, um zu sehen; wenn man nicht sucht, sieht man nur die wenigen Top-Titel. Diese Entwicklung bedeutet eine immer schmerzhaftere Zuspitzung und Beschleunigung, für Verlage also ein deutlich größeres Risiko, für Autoren eine massive ökonomische Einschränkung. Dass immer noch so viele und so interessante, selbstbewusste und, ja, verrückte literarische Texte entstehen und bei großen wie bei kleinen Verlagen erscheinen, ist erstaunlich und ein großes Glück. Es ist, als ließe sich die Literatur nicht einschüchtern. In einem Roman von Thomas Stangl heißt es: »Das ist nicht aus und vorbei. Das kommt erst.«
IH: Von dem Strukturwandel ist die Literaturkritik ebenfalls hart betroffen. Man wirft ihr in letzter Zeit vermehrt vor, sich zurückzuziehen. Faktisch stimmt das; die Zahl der Rezensionen in den Traditionsmedien nimmt ab. Dabei müsste gerade die Kritik der Gegenwartsliteratur antworten; sie müsste ihr alerter Interpret sein, über das Tagesgeschäft hinaus. Dem ist (nicht mehr) so, leider. Wo hier die »Schuldigen« zu suchen sind, steht auf einem anderen Blatt. Jedenfalls, was lange unser berechtigter Stolz war, das deutschsprachige Feuilleton mit seinem anspruchsvollen täglichen Rezensionswesen, erweist sich jetzt als Nachteil. Wir haben uns zu sehr auf dieses Forum verlassen, nach alternativen Orten für die Kritik nicht genug gesucht. Es fehlt so etwas wie die »New York Review of Books«; es fehlt die essayistische (auf die Werke wirklich eingehende und zugleich über sie hinausschauende) Literaturkritik von gutbezahlten, klugen Leuten. Das Dumme ist: Man kann im Netz großartige Sachen finden, das Potential ist absolut vorhanden. Aber solange sie sich nicht mit der Marke eines eingeführten Mediums verbindet, entfaltet die Kritik keine Autorität. Wie diese Autorität neu zu entwickeln wäre: Die Frage müssen wir uns um unserer selbst willen dringend stellen.
CM: Dann wäre die Kritik vielleicht irgendwann auch wieder offener. Im Moment sieht es noch so aus, dass die neue Avantgarde nicht öffentlichkeitstauglich ist, weil sie aus guten Gründen die Pauke verweigert. Deshalb sind ja auch noch die, mit Verlaub, alten Herren derart präsent in den Feuilletons. Da stehen die falschen, die es eben immer noch mit ihrer moralinsauren Beobachterethik halten. Umgekehrt macht es das natürlich auch enorm spannend. Denn eine solche Vielfalt an Generationen und Poetiken, die nebeneinander stehen, hat es in der deutschsprachigen Literatur wohl noch nicht gegeben.
OV: Vielfalt ist natürlich aus Verlagsperspektive nur zu begrüßen. Andererseits ist mir dieser Blick auf die Vielfalt zu sehr beruhigte Abwarter- und Teetrinkerperspektive. Letztlich geht es nur um den einzelnen Text. Und der sagt mir eher selten: Hallo, ich bin Teil einer wunderbaren Vielfalt und außerdem noch Avantgarde. Der sagt immer nur eins: Genau so geht’s – und nicht anders.
Frankfurt am Main im Januar 2015

Einmal galt die Literatur als kritisches Instrument, mit der die Gegenwart korrigiert wurde. Heute beruhigen wir uns gerne mit dem Glauben, sie wollte uns unterhalten. Aber will uns Literatur unterhalten? Und wünschen wir uns die Kritik zurück? Interessiert sich die Literatur für Gefühle? Für die Welt, die Gegenwart? Und was weiß sie davon? Was überhaupt weiß die Literatur von sich? Ist die Wahrnehmung der Realität schon Realismus? Benötigt die Erfindung noch Erfahrung? Gibt es in der Literatur noch Schönheit? Hat die Ironie ausgedient? Öffnen religiöse Denkweisen einem neuen Konservativismus das Tor? Engagiert sich die Literatur noch? Und sollte sie das? Wo steht die Literatur nach dem Ende der Kulturkritik? Die Herausgeber suchen Antworten im Innersten der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.