wie tokyo sich zum ersten mal mir zeigte: als ein anderer ort. als stadt aus einer zukunft. nach neunzehnhundertachtundachtzig. nach dem dritten weltkrieg. nach dieser atomaren vernichtung. die ausbreitung geräuschlosen lichts; der kreis wird größer: it was a dream that i saw. the city started to crumble apart. and lots of people died. we get to meet akira again. anfang der neunziger, im wohnzimmer, mit untertitel: neo tokyo, zweitausendneunzehn. ich wusste nicht, dass dieser ort das für mich bleiben würde – eine stadt nach und vor ihrer zerstörung. diese stadt nenne ich tokyo. ihr name ist ein denkmal: kanedas motorrad – die o sind reifen, das y der ständer.
b budamunk
c chor
hakata-ku, fukuoka: geometrie, abends (blick vom balkon; südseite).
wir aßen okonomiyaki zu mittag, in der nähe unseres appartements, bevor mein bruder und ich den shinkansen von hiroshima nach fukuoka nehmen; die anderen sind in kyoto geblieben. ich lege ein buch auf den sitz neben mir, das ich nicht aufschlagen werde. aus dem fenster: wälder, berge, wasser, regen. dazwischen: beton, asphalt, die innenseiten meiner lider. ich versuche zu schlafen. ich schlafe nicht.
ich höre einen chor aus den kopfhörern des mannes vor mir.
wir nehmen ein taxi zu unserem appartement. eine freundin holt uns ab. mein bruder wollte den hafen sehen und wir fahren zum hafen, der leer ist. wir stehen auf dem observation deck: ein kreuzfahrtschiff mit italienischem namen, laster, die mit containern beladen werden, regen. im hintergrund: graues meer, grauer himmel. wir wussten nicht, dass ein security guard uns beobachtete. die karaage, die ich in einem lawson gekauft hatte, sind kalt geworden.
ich stehe auf dem balkon. auf der höhe unseres apartments liegt eine bar. hinter den gebäuden müsste die brücke liegen, über die wir gekommen waren, und die ich ohne meine brille nicht sehe.
d dunkelheit
seit jeher haben die japanischen gespenster keine beine, während sie im westen, so heißt es, mit beinen versehen sind, dafür aber einen gänzlich durchsichtigen körper besitzen. selbst einem solchen geringfügigen detail kann man entnehmen, dass in unseren fantasien gewöhnlich lackschwarze dunkelheit herrscht, während man im westen sogar die gespenster mit einer gläsernen helligkeit ausstattet.
tanizaki, jun’ichiro: lob des schattens. zürich: manesse, zweitausendzehn, seite neunundfünfzig.
e entfernung
naka-ku, hiroshima: heimat eye clinic.
f fleisch
tokyo, abends: es ist warm. deine sonnenbrille steckt in deinen haaren, meine im kragen des shirts, das weiß ist. wir sind gelaufen über stunden, ziellos. du hast beton gesehen, glas, stahl, fleisch; pazifische hitze. wir sitzen auf dem balkon, siebter stock, und warten, bis die stadt dunkler geworden sein wird, bevor wir uns auf den weg nach ginza machen werden. du sagst, du wolltest noch einmal duschen, die hitze, diese hitze, ich betrachte dich aus dem augenwinkel, deinen kopf auf meiner rechten schulter. ich stehe auf und rauche über der brüstung. die metro ist beinahe leer. wir sitzen draußen, in einem restaurant, in einer seitenstraße, entlang gebogener schienen in bahnhofsnähe. das licht wird rot sein von den laternen, hell fällt es aus den innenräumen, ich habe dir davon erzählt, bevor wir ankamen, als wir ausgestiegen sind, ich habe dir erzählt von den leuchtreklamen und du sagtest, i know. du siehst schön aus und ich werde es dir über den tisch, auf dem yakitori und sapporo-bier stehen, sagen. ich sehe dein schlüsselbein und den schatten, den es wirft.
ginza, samstagnacht: zu hören: stimmen; autos; das geräusch einfahrender züge aus einem hintergrund.
g glas
bunkyo-ku, morgens, nach unserer ankunft: der schatten eines kabels, vom letzten zeichen ausgehend.
mein jüngerer bruder und ich stehen in einer kleinen seitenstraße in bunkyo-ku, tokyo, er mit dem ausgedruckten plan in der hand, den unsere host uns geschickt hatte; unsere koffer stehen daneben. es ist sieben uhr morgens. drei bauarbeiter sitzen im schatten eines carports und rauchen. ein mann öffnet ein fenster. eine ältere frau fegt drei stufen. wir sind die straße zweimal bereits abgelaufen. sie läuft auf uns zu und nimmt meinem bruder das blatt aus der hand: chotto matte kudasai. der asphalt ist warm. mit einer handbewegung gibt sie uns zu verstehen, dass wir ihr folgen sollen, und wir folgen ihr, bis wir, begleitet von einer gruppe älterer frauen, die sie hinzugerufen hatte, sie schien die adresse nicht zu kennen, und dem geräusch der rollen, davorstanden, schwarze gardinen, zugezogen hinter glas.
mein bruder setzt sich an sein macbook. wir warten, dass freunde, die aus toronto, chicago und hong kong anreisen werden, ankommen.
h haut
unser appartement ist ein einfamilienhaus. eine glasfront trennt das erdgeschoss von der straße. tageslicht: indirekt, über die geflieste wand gegenüber und zurückgeworfen vom asphalt. wenn wir unten sitzen, schieben wir die gardine und scheibe zur seite, rechts. es ist samstag. die passanten, die vorbeilaufen, schauen zweimal:
erstens: weil es möglich ist
zweitens: weil sie menschen mit dunkler haut
in dieser gegend nicht erwarten
wir lassen die scheibe geöffnet.
i inseln
an meinem geburtstag fahren wir zurück nach tokyo. mein bruder und ich essen mit freunden in shibuya zu abend. wir warten vor einem seven eleven auf die anderen, die die letzten tage in einem dorf in den bergen kyotos verbracht hatten. in einem schmalen gebäude, im vierten oder fünften stock, nachdem wir einen aufzug, der nach alkohol und blut roch, benutzt hatten, zahlen wir zweitausend yen, pro person, für zwei stunden karaoke, all you can drink, quit playing games with my heart, umbrella, bye bye bye. wir sind zu neunt in einem raum von vielleicht vier quadratmetern größe; die wände waren dunkelrot. es gibt kein licht außer dem, das aus dem flur durch die milchglastür und vom fernseher in den vorderen bereich der kabine fällt. auf dem tisch: ascheklumpen, wie inseln in flüssigkeit, in der sich die bilder des monitors spiegeln; blau, in bewegung; diese hitze. der boden ist klebrig. ich spüre kippen unter meinen schuhen. aus dem fenster, das ich öffne, höre ich regen und die kabine neben uns, leiser als die geräusche von der straße.
j jagen
eine warme wasserflasche in meiner hand, und ein kind jagt ein anderes. das auto, das sie fast überfährt, ist silber.shibuya, tokyo: glas ohne reflektion.
k kabel
seoul, zwei uhr morgens, ortszeit. die gardinen sind zugezogen. das licht der klimaanlage ist blau; zwei blaue punkte, augen an der wand gegenüber; kühlere luft. ich liege im bett und versuche zu schlafen. ich schlafe nicht. ich nehme das iphone in die hand und lese noch einmal die nachricht, die eine freundin vor einigen stunden mir über whatsapp geschickt hatte: in jeder stadt, in der du bist, kann man den himmel nur durch kabel sehen.
ich denke daran, dass ich früher, als ich noch ein kind war, dachte, kabel und vokabel würden miteinander zusammenhängen. ich dachte, am ende der kabel, die, zwischen masten gespannt, die landschaft einer kindheit durchkreuzten, dort, wo sie anfingen und endeten, würden vokabel liegen wie ein schatz am ende eines regenbogens vielleicht. und ich begann zu laufen.
mapo-gu, seoul.
bunkyo-ku, tokyo.
bunkyo-ku, tokyo.
harajuku, tokyo.
shimogyo-ku, kyoto.
naka-ku, hiroshima.
© alle Fotos: Senthuran Varatharajah

Durch Zufall beginnen Senthil Vasuthevan und Valmira Surroi ein Gespräch auf Facebook. Er lebt als Doktorand der Philosophie in Berlin, sie studiert Kunstgeschichte in Marburg. Sieben Tage lang erzählen sie sich von ihrem Leben, ohne sich zu begegnen. Ihre Nachrichten handeln von ihren Familien und ihrer Flucht aus Bürgerkriegsgebieten, von ihrer Kindheit im Asylbewerberheim und ihrer Schul- und Studienzeit. Hochreflektiert schreibt Senthuran Varatharajah in seinem Debütroman über Herkunft und Ankunft, über Erinnern und Vergessen und über die Brüche in Biographien, die erst nach einiger Zeit sichtbar werden.