Das Seminar in Greifswald beginnt auf der Autofahrt. Zerbrochene Schoko-Reiswaffeln fallen mir in den Schoß – die ganz gebliebenen teile ich an die aus, die sich mit mir das Auto teilen. Dann beginne ich meine Befragung zum Thema Essays. Was ist damit? Sind die hier auch beliebt?
Im Hotel habe ich ein Eckzimmer. An weiß gedeckten Tischen im bürgerlichen Frühstücksraum sitzen die Esten, die das Gefühl einer kleinen Sprache mit mir teilen. Richten ihren kalten Aufschnitt an. Aber das kommt alles erst morgen.
Nach der runden Feierlichkeit des Seminarraums steht ein historischer Büfetttisch unter den Deckengemälden im oberen Stockwerk. Mit den Zähnen zupfen wir die Käsewürfel und Weintrauben von den Cocktailspießen. Der Wein macht den Mund zum violetten Abgrund.
Als Einsprachige muss man sich in die Hilfsbedürftigkeit fügen. Normalerweise kläre ich alles selbst, aber jetzt spiele ich die Rolle der Fragenden, vergewissere mich immer wieder der vereinbarten Zeiten und Treffpunkte. Ich beschließe, mich dafür nicht zu schämen – das würde nichts nützen –, auch wenn Scham in meinem Heimatland Nationaltradition ist. Als sich die Diskussion im Seminarraum sprachlich in zu große Höhen aufschwingt, stehle ich den Menschen ihre Gesichter. In meinem Notizbuch ist bald eine große Sammlung, und ich staune, wie interessant sie sind. Gemälde, die sich bewegen.
Wegen ihrer Texte möchte man meinen, dass Schreibende interessanter sind, aber vielleicht hat die Öffentlichkeitskultur mich verdorben. Vielleicht bin ich selbst diese Kultur: Ich betrachte die Menschen und ihre Schönheit und ihre Gesten, ohne die Nuancen ihrer Worte zu verstehen. Obwohl ich doch die Begrenztheit meines Verstandes verstehe. In der Kaffeepause stecke ich mir Marzipanpralinen in die Tasche.
Am ersten Abend fällt mir wieder ein, warum wir eigentlich hier sind. Peer-Beratung. Die gemeinsam geleerten Gläschen. Die sinnlosen Gespräche, die wichtig sind, weil sie sinnlos sind. Das Gelächter.
Mein Auftritt am nächsten Morgen macht mich nervös, doch im Mund eines anderen, in einer anderen Sprache erwacht der Text zum Leben. Wir haben gesehen, wie du deinen Fächer bereithieltst, aber du hast ihn nur benutzt, um das Buch offen zu halten, sagen sie später. Im Zimmer war es aber auch kühl, antworte ich. Anscheinend führt noch jemand ein Notizbuch über seine Beobachtungen. So sind wir: eine Gruppe aufmerksamer Betrachter, die sich gegenseitig beim Betrachten beobachten. Auf die wievielte Metaebene muss man gehen, um für sich sein zu dürfen? Will man das denn, für sich sein?
Beim Prosaslam kringelt sich mein Vorleser über den Text, auch das Publikum lacht. Handelte der Text von dir? Ach, die Beziehung zu einem Menschen, der Kreisel als Analplugs benutzen will? Aber nein, auch wenn es interessanter wäre, ja zu sagen. Vielleicht glauben sie ja, dass ich lüge!
Beim Abendessen wendet sich das Gespräch den ekelhaftesten Traditionsgerichten zu. Estland vs. Tschechien. Die lebhaften Beschreibungen bringen mich schließlich dazu, den Tisch zu wechseln. In einer Ecke sitzen die Coolen aus Berlin, die eine Verbundenheit untereinander und ihre Berliner Art haben. Sie nehmen mich bei sich auf, in diese Vergänglichkeit, und wir lachen gemeinsam. Eine Bar, über deren Türöffnung ein gemalter Tintenfisch seine Tentakeln ausstreckt, flößt uns die letzten Gin Tonic des Abends ein.
Auf der Rückreise fliegen wechselnde Waldlandschaften vorbei, in die Schlünder die Pommes von der Tankstelle, im Radio läuft I Want to Break Free. Kaum zwei oder drei Tage sind vergangen und schon hänge ich an diesen Menschen, die in Worten wohnen. Jetzt aber trennen wir uns und ihre Bilder verschwinden wieder hinter den Buchstaben. Während des Seminars wächst die Zahl meiner Freunde auf Facebook auf 666 an. Ich halte das für ein gutes Zeichen.
Aus dem Finnischen von Claudia Nierste
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