
Allerdings auch, daß er Exzesse gut verstand, aber auch verstand, ihnen zu entgehen, gerade wenn sie ihn betrafen. Möglich, daß er stärker schien, als er sich fühlte, aber auch das war angemessen. Während der Tagungen der Gruppe konnte er bei ärgerlichen Texten rasch auffahren, aber autark, nicht im Rudel wie die Berufskritiker, die sich immer lauter in die Treffen hineinmischten.
Hier in Floridsdorf, in einer Klinik für Knochenbrüche, gibt es keinen leichten Horizont, keine Ostsee, keine Hansestadt. Nur weg. Vielleicht ist nur aus dem nördlichen Himmel heraus die Gelassenheit eines Grass möglich. Dabei wirkte er damals auf mich gar nicht hanseatisch, sondern eher wie aus dem Midi. Was wäre gewesen, wenn fünfzehn Jahre davor sein Oskar Matzerath aus Danzig die verfolgte Gruppe um meine Ellen in Wien getroffen hätte? Hätte der Rhythmus seiner Trommel den Rhythmus der Transporte über die Schwedenbrücke wenigstens ein wenig aus dem Gleichmaß bringen können? Matzerath kam von der Ostsee. Er kann seine Angst nach außen werfen, Ellen nicht.
Einmal schenkte mir Günter Grass eine seiner Zeichnungen, entstanden in seiner Zeit in Kalkutta: gebückte Frauen, die Rüben oder Kartoffeln suchen. Die hoffen noch immer.
Sein Maß an Lebensfähigkeit, seine Unfähigkeit, Herdentrieben nachzugeben. Bei einer späten Tagung der Gruppe 47 erschienen ihm einige der Gedichte, die ich vorlas, düster. »Da muß etwas geschehen«, sagte er. Er hat es inzwischen geschehen lassen.
(18.10.2002)
Aus: ›Unglaubwürdige Reisen‹, Ilse Aichinger. 2005. S. 65 - 67

Mit der Zwillingsschwester in die Kapuzinergruft, mit dem nomadischen Urgroßvater durch den Kaukasus, mit Sigmund Freud ins Londoner Exil, mit der polnischen Putzfrau nach Oswiecim/Auschwitz: Während dreier Jahre – vom Attentat auf die New Yorker Zwillingstürme bis zum Literaturnobelpreis für Elfriede Jelinek – begibt sich Ilse Aichinger im Wiener Kaffeehaus »Demel« auf Reisen. Reiseutensilien sind Stift und Papier, auf Speisekarten, Rätselheften und Einkaufstüten entstehen abenteuerliche Manuskripte. Reisegefährten sind Menschen, die sich während über 80 Jahren als »kräftige Schattenrisse« in die Erinnerung eingeprägt haben. Die Routen führen, so direkt wie möglich und so »unglaubwürdig« wie nötig, in die Topografie der eigenen Biografie – das wechselvolle Leben einer der wichtigsten Autorinnen der deutschen Nachkriegsliteratur.