Dopinggeschichten als gesellschaftliches Kennzeichen
Eine Athletin am Start, neben ihrem Namen das Insert »OAR«. Quatar im Winter? fragt mein wenig sportbeflissener Freund. Er hat das O für ein Q gelesen. Welches Land sich denn hinter dem Kürzel verberge?
Die Herren der Ringe haben eine neue Bezeichnung geschaffen, um schließlich doch halbherzig das umfassende russische Staatsdoping zu sanktionieren. Die höchsten Stellen in Putins Reich haben den gewünschten Erfolgen systematisch nachgeholfen. Nationenwertung ist nicht nur ihnen ein höherer Wert als Fairness und Gesundheit. Vor vier Jahren in Sotschi hatten die Gastgeber die Situation als Bauherren genützt und durch ein Loch in der Wand des Labors die Urinproben ausgetauscht. Die Welt-Antidoping-Agentur, kurz WADA, konnte die ausgedehnte Trickserei nachweisen, ihr McLaren-Report lässt keine Zweifel. Das Internationale Olympische Komitee, dessen Kürzel IOC allbekannt ist, sprach zwar von skrupelloser Aufklärung und strengen Strafen, sein Präsident Thomas Bach jedoch lavierte. Einträchtig war er mit Wladimir Putin in Sotschi auf der Ehrentribüne gesessen, bei der Schlussfeier hatte er den heimischen Olympioniken ernsthaft für ihre »kraftvolle Botschaft« einer Gesellschaft von »Frieden, Toleranz und Respekt« gedankt (am selben Morgen hatte der Kremlherr Soldaten auf die – noch ukrainische – Krim beordert).
Die Olympier wollten eine der großen Nationen nicht ganz aussperren. Wird ein Einzelner erwischt, droht der lebenslange Ausschluss; günstiger, da milder bewertet, ist es, wenn gleich ein mächtiger Staat das Doping organisiert. Das russische Olympiakomitee, das sich als Opfer einer Verschwörung gebärdet, wurde bis zur Schlusszeremonie von Pyeongchang suspendiert. Einem Team von 168 ausgesuchten Teilnehmern verpasste das IOC eine neue Identität, die Kriterien der Einladung kommunizierten die Herren der Ringe nicht. Die »Olympischen Athleten aus Russland«, OAR, treten nicht unter eigener Flagge an. Die Sanktion, dass bei Siegerehrungen nicht ihre Hymne ertönt, blieb bislang folgenlos, denn nach neun Wettkampftagen haben die OAR keine Goldenen, während Norwegen und Deutschland je neun verbuchen. 2014 hatte Russland im heimischen Medikamentenparadies die Nationenwertung mit elf Goldenen, neun Silbernen und neun Bronzenen gewonnen.
Die Hoffnung ist nun die Eishockeymannschaft. Sie gilt als Favorit des Turniers, dem die besten, in der nordamerikanischen NHL engagierten Profis fehlen; zum Einzug ins Viertelfinale bezwang die »Sburnaja« in einem an Tor- und Fausttreffern reichen Match die USA mit 4:0.
Aber selbst unter olympischer Identität läuft nicht alles korrekt. Am achten Tag der Spiele steht der russische Bronzemedaillengewinner im Curling unter Dopingverdacht. Ein überführter japanischer Shorttracker musste bereits abreisen – in gewohnter Manier der Medikamenten-Trickser bestreitet er alles, die Ergebnisse von A- und B-Test findet er »unerklärlich«.
Spektakulärer die Reaktion der deutschen Eisschnellläuferin Claudia Pechstein. Von 1994 bis 2006 hatte sie fünf Goldene geholt, 2009 war sie wegen einer verbotenen Substanz mit einer Sperre von zwei Jahren belegt worden, gegen die sie vor einige Gerichte zog. In Pyeongchang strebte sie den Erfolg als älteste Medaillengewinnerin bei Winterspielen an. Sie landete auf Platz 8. Und da ein Offizieller sie alsbald nach ihrem Lauf zur Kontrolle aufforderte, zerriss sie das Formular für den Dopingtest.
Ist nicht in Pierre de Coubertins »schneller, höher, stärker« die Aufforderung enthalten, die Leistungen stets zu steigern, auch wenn man an den Grenzen des menschlich Machbaren angelangt ist? Mit dem Doping trifft das Motto des Begründers der modernen Olympischen Spiele auf einen alten Traum der Menschheit: die künstliche Verbesserung des Körpers.
Zu Coubertins Lebzeiten kannte man unter den fünf Ringen das Wort »Doping« nicht. Damals nahmen die Athleten einiges zu sich, das heute seltsam anmutet. Beim Marathon 1904 in St. Louis schluckte der spätere Sieger auf halber Strecke Strychnin mit Eiklar, danach Brandy. Kommentar der Offiziellen: Der Wettbewerb »zeigte vom medizinischen Standpunkt deutlich, dass Drogen für den Athleten bei einem Straßenlauf von großem Nutzen sind«.
Als Problem begann die Sportwelt das Doping erst zu betrachten, als das Fernsehen Olympia in die Wohnzimmer brachte, die Kalten Krieger Medaillen als Erfolge ihres politischen Systems verkündeten und die pharmazeutische Industrie enorm zulegte. Bei den Sommerspielen 1960 in Rom waren erstmals die TV-Kameras und auch die Geheimdienste aus Ost und West omnipräsent – und der Dopingtod eines dänischen Radfahrers zeitigte Debatten und Sensibilisierung unter den fünf Ringen.
Ab 1968 trat die DDR mit einem eigenen Team an. Alsbald mochte man sich wundern, wie viele Medaillen das 17-Millionen-Land erringen konnte, sodass es in der Nationenwertung mitunter die Großen, die USA und die UdSSR, hinter sich ließ. Die Herrschaften in Berlin-Ost waren die Erfinder des konsequenten, staatlich gelenkten Dopings. Im zuständigen »Sportmedizinischen Dienst« arbeiteten fast 2.000 Personen, bis zur deutschen Wiedervereinigung versorgten sie 10.000 Athleten und Athletinnen (mitunter ohne deren Wissen) mit Medikamenten. Der dafür verantwortliche höchste Sportfunktionär, zugleich Mitglied des Zentralkomitees der SED, erhielt wie auch Erich Honegger einen Orden vom IOC: Er übe »einen außergewöhnlichen Einfluss auf die Sportler und Sportlerinnen seines Landes aus«.
Die World-Anti-Doping-Agency WADA wurde von den Herren der Ringe erst 1999 gegründet, nicht zuletzt um das ramponierte Image des IOC aufzubessern, das im Korruptionsskandal um die Vergabe der Winterspiele 2002 an Salt Lake City gelitten hatte. Dort in Utah errang Johann Mühlegg aus dem Allgäu im Langlauf drei Goldene für Spanien, wurde dann aber des Dopings überführt und aus den Ergebnislisten gestrichen. Mit dem deutschen Bundestrainer hatte er sich zerstritten, eine Putzfrau in München-Untersendling hatte dem Spiritismusjünger geweihtes Wasser verschrieben: »Sakro-Doping« belustigten sich Kommentatoren. Nachgewiesen wurde bei Olympia ein Medikament zur Vermehrung roter Blutkörperchen. Als Ausrede nannte Juan Mühlegg seine Diät, den Durchfall und die Höhenlage. Eine Norwegerin erklärte die Sonnencreme auf ihren Lippen zur Schuldigen. Die schrägste Erklärung aber bot 2006 in Turin der Präsident des Österreichischen Skiverbands, nachdem eine Polizeirazzia bei den Langläufern und Biathleten Spritzen und verbotene Substanzen gefunden hatte: »Austria is a too small country to make good doping.«
Seit 2004 bewahrt das IOC alle Blut- und Urinproben auf. Da die Methoden der Aufdeckung stets den neuen Präparaten und Verfahren hintennach sind, dauert es bis zu Suspendierungen und Medaillenverlusten oft einige Jahre. Folglich sind Ergebnislisten und Nationenwertungen immer wieder zu ändern. Wer Vierter oder Fünfter war, kann womöglich im Nachhinein auf das (nun nur noch virtuelle) Siegerpodest steigen. Mehr als 120 Medaillen wurden bislang aberkannt.
So überholte Norwegen 2003, ein Jahr nach der Schlussfeier von Salt Lake City, Deutschland in der Nationenwertung. So gewannen zwei Schweizer im November 2017 die Goldene im Zweierbob – der Winterspiele 2014. Der Sieger von Sotschi war des Dopings überführt und lebenslang gesperrt worden; Präsident des russischen Bobverbandes blieb er dennoch. Es freue sie schon, sagten die Schweizer, aber »der Moment, wenn man die Nationalhymne hört, kommt nicht mehr zurück«. Um den für Sportler so wichtigen »Augenblick des Sieges« (und um jahrelanges Training) betrügen die Doper ihre Konkurrenten. Einer der beiden eidgenössischen Bobfahrer erfuhr von seinem Olympiasieg frühmorgens vor einem Rennen in Kanada. Er werde die Goldene mit seinem Kompagnon bei einem Bier feiern, sagte er. Schwieriger gestaltete sich eine Neuvergabe, nachdem die Russin, die 2008 in Peking im Weit- und Dreisprung jeweils den zweiten Platz belegt hatte disqualifiziert wurde – neun Jahre später. Die nunmehrigen Silbernen mussten per Internet gesucht werden, im Dreisprung ist es die ehemalige Vierte.
Wie lange wohl die Resultate von Pyeongchang halten werden? Jene, die hinter den Goldenen auf den Plätzen landen, hören jedenfalls dieser Tage die Hymne der Sieger. Die russische freilich nicht. Sollte eine Athletin im Team OAR den obersten Podestplatz einnehmen, dürfte ihr die Ode an die Freude auch recht sein. Ihren Augenblick des Sieges hätte sie, allerdings nach vielen Wettkämpfen in Pyeongchang vor schütterem Publikum. »Es ist schon ernüchternd«, sagte Marcel Hirscher, »wenn du im Ziel vor einer leeren Tribüne stehst und dann jubeln sollst«. Allemal besser, als Jahre später die Goldene beim Bier in einer Kneipe im Irgendwo zu feiern.
Die Bedeutung der ganzen Geschichte geht über den Sport hinaus. Die Steigerung um jeden Preis und sei er illegal, die oft halbherzigen Kontrollen und Sanktionen, während man den Helden der Leistung scheinbar unbegrenzt huldigt – das sind Kennzeichen der gesellschaftlichen und kulturellen Lage unserer heutigen Welt.

Zur Winterolympiade 2018 in Pyeongchang – die große Kulturgeschichte der Winterspiele.
Rund ein Vierteljahrhundert hat es gedauert, bis sich neben den olympischen Sommer- auch Winterspiele etablieren konnten. Von dem anfänglichen Widerstand der Skandinavier, von Sportarten wie »Spezialfiguren« aufs Eis zu zeichnen, von den politischen Ersatzkämpfen im Kalten Krieg und der zunehmenden Rolle der Medien erzählt Klaus Zeyringer so kurzweilig wie anekdotenreich. Die Welt des Wintersports mit ihren Helden wie Toni Sailer oder Rosi Mittermaier und ihren tragischen Figuren wie »Eddy the Eagle«, ihren »Eishexen« wie Tony Harding und ihren »Eisprinzessinen« wie Nancy Kerrigan rückt Klaus Zeyringer in ihren kulturellen, sozialen und politischen Kontext. Ob Sportler wegen des Tragens von Reklame ausgeschlossen werden, ob neue Techniken eine Sportart revolutionieren, eines bleibt konstant: das Wetter, das Probleme macht.