Vor der Anreise hatte ich rausgefunden, dass es in Greifswald einen Verein namens Bloc gibt. Zu meiner Verwunderung konnte ich Leif u. Jakob überreden, am ersten Tagungsabend mit mir dort bouldern zu gehen; man könne doch, schlug ich vor, eine neue Rubrik bei Tegelmedia anstoßen: Tegel Active. Ich fragte noch ein paar andere, aber außer Elias K. wollte sich uns niemand anschließen. Die Halle lag ca. 20 min. entfernt. Jakob u. ich liefen vorne weg u. sprachen über seltene Motorräder sowie unsere Erwartungen für die kommenden Gespräche in Greifswald, ob sie friedlichen und handwerklich oder krisenhaft ablaufen würden. Leif u. Elias schlichen derweil hinter uns her, deutlich langsamer. Irgendwann drehten wir uns um u. die beiden waren nicht mehr da. Als wir sie nach einer Weile wiederfanden, meinten sie, sie wären den falschen Leuten gefolgt, bis sie gemerkt hätten, dass das nicht wir, sondern zwei Frauen mit Rucksäcken waren.
Laut Google Maps sollten wir in ein dunkles Industriegebiet, in dem es keine Straßenlaternen gab. Vor einem uns den Weg versperrenden Zaun angekommen, war ich mir relativ sicher, dass unsere Unternehmung scheitern würde. Meinerseits wollte ich schon aufgeben, aber Leif erzählte, dass Google Maps ihn in der Schweiz mal 90 min. lang um einen Berg schicken wollte, um zu einem Hotel zu gelangen, vor dem er bereits stand. Also machten wir uns auf die Suche nach einem alternativen Eingang u. fanden in der Tat schließlich eine alte Industriehalle, deren oberes Lichtband beleuchtet war. Wir werden klettern, dachte ich u. spürte die unausgesprochene Angst vor Sport in der Gruppe aufsteigen.
Es war ein ramponiertes Gebäude. Vor der grünen Stahltür standen Dutzende Räder, daneben eine Kerze. Ich ging als erster rein. Doch statt Chalk, Gummischuhen u. kurzen Hosen fand ich dort dicht an dicht sitzende Menschen, die wortlos zwischen den weißen Kletterwänden in der Dunkelheit saßen u. auf eine Leinwand starrten. Sofort wendeten sie ihre Köpfe zu mir. Hektisch verließ ich wieder die Halle, mit dem Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. „Da sind Menschen drin“, sagte ich zu den anderen. „Sie schauen sich etwas an.“ Drinnen wurde währenddessen laut gelacht. Kurz darauf kam eine junge Frau raus. Ich fragte sie, was los sei. Sie meinte, jemand halte einen Vortrag über eine fünfmonatige Fahrradreise von Deutschland nach Kirgistan, wir seien herzlich eingeladen zuzuhören. Okay.
Ein junger Medizinstudent sprach gerade von seinen Etappen in Turkmenistan, von der Wüste, einem Unfall mit abgerissenem Arm, von Gastfreundschaft u. dem Tor zur Hölle. Zur Illustration seiner Reise hatte er sein Fahrrad mitgebracht. Der Vortrag selbst war von einer großen Professionalität einerseits u. einer seltsamen Wärme andererseits geprägt. Seine zahlreichen Fotos waren beindruckend u. dezent. Als er nach etwa einer Stunde fertig war, erinnerte er an eine anstehende Anti-Fremdenfeindlichkeitsdemo in Greifswald u. bat uns alle, dort zahlreich zu erscheinen, ehe er unter Applaus verabschiedet wurde.
Mir hatte das alles gut gefallen, u. ich glaube, den andere auch. Ich fragte mich, ob die unsere Literaturtagung hiervon etwas lernen könnte. Auf dem Weg zurück in die Innenstadt meinte einer von uns, erleichtert gewesen zu sein, dass der sympathische Fahrradmann am Ende des Vortrags Fotos gezeigt hatte, auf denen er Handstände vor unwirklichen Landschaften machte. Er habe die Fotos durch diese merkwürdige Selbstdarstellung irgendwie verstümmelt. Seltsam sei auch gewesen, fügte ich hinzu, als er davon sprach, im touristisch stärker erschlossenen Kirgisistan versucht zu haben, touristische Strukturen systematisch zu umgehen, sich vor ihnen zu verstecken, als wäre er kein Tourist, als könnte man sich das aussuchen wie einen senffarbenen Pullover zu tragen. Ich weiß noch, dass wir lachten. Trotzdem waren wir alle, glaube ich, eher beeindruckt. Ich fühlte mich verletzlich. Wir waren auf dem Weg in eine Bar, um uns mit den anderen der Tagung zu treffen. Morgen würden wir gemeinsam über Texte sprechen u. was sie uns bedeuten, in einem runden Raum.
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