Das Werk von Doris Dörrie oszilliert zwischen den Medien Literatur und Film, ihre Literatur ist filmisch, spart nicht mit harten Schnitten, blendet Überflüssiges aus, ist von karger Poesie und dennoch komplett; ihre Filme haben oft einen langen Atem, sie sind meditativ, hochkomisch und tieftraurig, immer sind sie erzählend. Der Prosa und den Filmen von Doris Dörrie gemeinsam ist die Durchführung eines Falles, der uns angeht, weil an ihm Grenzerfahrungen aufgezeigt, Ängste thematisiert, Veränderungen als unvermeidlich dargestellt, Liebe und Tod als die beiden komplementären Initiatoren künstlerischer Arbeit begreiflich gemacht werden. Kunst ist Notwehr. Sie ist immer ein hyperbolischer Akt, oder ist keine. »Gehe hinüber«, heißt es bei Kafka.
»Im Tropicana-Motel griff Anna nachts im Schlaf nach seinem Arm und rückte näher an ihn heran. Erschrocken wachte sie auf: Die alte Gleichgültigkeit war fort. Ihr Körper veränderte sich, ihre Haut wurde nervös und elektrisch, ihr Herz klopfte. Sie duschte. Die schwarzen Schaben liefen eilig über den Badewannenrand. Manche ertranken.«
Was ist geschehen? Jan, ihr Sohn, hat Anna Blume beim gemeinsamen Betrachten von alten Fotos gefragt, ob sie und Armin, sein verstorbener Vater, Verliebte gewesen seien. Armin sei »sehr nett« gewesen, sagt sie, Verliebte seien sie nicht gewesen. In langen Rückblenden erzählt Anna uns, den Lesern, dann eine unglaubliche Geschichte. Im Verlauf dieser Geschichte stellt sich heraus, dass Jan auch nicht Annas Sohn und Armin nicht Jans Vater ist, und Jan hieß auch nicht Jan, sondern Kenan und wurde von Anna in Frankfurt entführt, seiner Mutter Ösaydin geraubt, da sie gar nicht schwanger war, wie sie Armin vortäuschte, um ihn an sich zu binden und Nebenbuhlerinnen aus dem Feld zu schlagen. Die schwarzen Schaben sind in dieser Fallgeschichte von Doris Dörrie das schön gesetzte Motiv eines sich ankündigenden Mordes, denn Anna hat Armin, bei dem sie gegen Geld lebte, umgebracht, als er von der Kindsentführung erfahren und darauf bestand hatte, dass sie das Kind zurückgebe. »Mitten ins Herz« ist die erste Geschichte in ›Liebe Schmerz und das ganze verdammte Zeug‹, einer Sammlung von vier Erzählungen, Doris Dörries erster Buchveröffentlichung, 1987 erschienen im Zürcher Diogenes Verlag, dem sie bis heute treu geblieben ist. »Mitten ins Herz« war 1983 auch der deutsche Beitrag zu den Filmfestspielen Venedig – von Anfang an haben bei Doris Dörrie Literatur und Film also zusammengehört.
Die Protagonisten der Erzählungen, Romane und Filme von Doris Dörrie treffen irreversible Entscheidungen von zum Teil größter Reichweite, sie machen Pläne, die von Zwischenfällen und unvermuteten Begegnungen durchkreuzt werden, sie fühlen sich fremd im Eigenen und selten zuhause im Fremden.
Sprache und Bild sind in der Lebenswirklichkeit wie in der Kunst die vordringlichen Medien der Vermittlung zwischen dem Eigenen und dem Fremden, oft genug stellen sie aber keine Lösungen bereit, sondern bringen die Kapriolen der conditio humana bloß zur Darstellung. Dies allein aber ist bereits von Wert, kann der Mensch doch im Anderen seiner selbst angesichtig werden, Kunst in diesem Sinne ist Actio per distans, sie kann Abwesendes zur Anwesenheit bringen – so, dass wir uns im Anderen wiedererkennen, dem wir nie begegnet sind. Ist Erinnerung eine Kulturtechnik, so sind Literatur und Film Medien bzw. Künste, denen eine extensive Memorialfunktion eignet im doppelten Sinne eines aufbewahrenden, gewissermaßen ausgelagerten Gedächtnisses und der das Aufbewahrte sich zu eigen machenden Erinnerung. Als historische oder fiktionale Ereignisse transformierende Speichermedien animieren sie den Leser und Zuschauer zur privaten Erinnerung.
Dörries Figuren müssen Distanzen zurücklegen, im räumlichen wie im ideellen Sinne, und das geschieht mit großer Klarheit der Darstellung, Beschreibung und Dialogführung, aber auch mit der nötigen Distanziertheit und Nüchternheit selbst noch in Erzählungen und Romanen, in denen der Ich-Erzähler auch seine eigene Hauptfigur ist wie in der Erzählung »Paradies« aus ›Liebe, Schmerz und das ganze verdammte Zeug‹, in der sich so kalt scheinende Sätze finden wie »Die Hoffnung hatte mich über Nacht verlassen. Ich ging ohne Schleier.« und »Ich lebte mein Leben ab.« – oder wie in dem Roman ›Was machen wir jetzt?‹ aus dem Jahr 2000: »Wir fahren durch die Schweiz in rabenschwarzer Nacht. Der weiße Mittelstreifen flitzt seit Stunden an uns vorbei und beginnt mich zu hypnotisieren. Nur wenige Autos sind mit uns unterwegs. Ich bin müde und drohe mich in Zeit und Raum zu verlieren, weiß nicht mehr recht, wo ich bin, irgendwo in der Mitte meines Lebens denke ich immer noch, aber die Mitte ist es eigentlich schon lange nicht mehr.
Auf dem Rücksitz schläft meine Tochter, ich fahre sie zu ihrem Freund, dem Lama. Das klingt so idiotisch, daß ich mitten in der schwarzen Nacht höhnisch auflache wie eine Hyäne, ein fremdes Lachen, das ich nicht als meines erkenne.
Franka will fliehen, und ich soll es verhindern. Aber ich bin ebenfalls auf der Flucht, auf der Flucht vor meiner beginnenden Glatze, dem unvermeidlichen Niedergang meines Körpers, auf der Flucht vor dem Ende der Liebe zu meiner Frau, dem Ende meiner Ehe.«
Doris Dörrie selbst hat immer wieder große Distanzen zurückgelegt, künstlerisch, ideell und nicht zuletzt auch räumlich, vier ihrer Filme, die auf so vielfältige Weise mit Japan zu tun haben, sind zumindest teilweise auch dort gedreht: ›Erleuchtung garantiert‹, ›Der Fischer und seine Frau‹, ›Kirschblüten‹ und ›Grüße aus Fukushima‹.
In dem Handlungen und Dialoge so karg setzenden Film ›Kirschblüten‹ macht Rudis tödliche Krankheit das im Allgäu lebende Ehepaar Rudi und Trudi wieder mündig. Rudi weiß von seiner Krankheit nichts. Es gibt jetzt kein später mehr, und so plant Trudi eine gemeinsame Abschiedsreise, sie brechen auf zu ihren Kindern Klaus und Karoline nach Berlin und sie reisen an die Ostsee, Sohn Karl lebt in Tokio, das ist dann doch zu weit. Die Familie ist sich fremd geworden, man hat sich nichts zu sagen, Zeit hat niemand füreinander. Aber nicht Rudi ist es, der stirbt, sondern Trudi. Und auch ihr Tod kündigt sich an, wie sich in »Mitten ins Herz« Armins Tod in der Badewanne durch die Schaben angekündigt hat:
»39. ((Szene)) Pension am Meer. Innen. Nacht.«
Rudi schläft. Trudi steht auf, geht zur Tür, öffnet sie. Ein weißgeschminktes Butoh-Gespenst steht im Flur und tanzt mit ausgestreckten Armen auf sie zu. Trudi starrt das Gespenst voller Angst und Faszination an.«
Nach Trudis Tod gibt es keinen Apfel mehr in Rudis Brotzeitbox, den dann immer der Kollege Zafer gegessen hat. Und so berührend knapp kann alles diesbezüglich Notwendige gesagt werden: »Zafer: Wo ist mein Apfel? Rudi: Gibt keinen mehr.« Rudi, dem die Faszination seiner Frau für den Butoh-Tanz immer »zu extrem« war, wie er sagt, fliegt dann doch noch zu seinem Sohn Karl nach Tokio und lernt dort seine Frau ausgerechnet über eine Butoh-Tänzerin, die den Tod tanzt und dabei über ein Handy in Kontakt mit ihrer toten Mutter steht, kurz vor seinem eigenen Tod ganz neu kennen.
Wozu Reisen? »Aber Reisen ist nicht der Mühe wert, denn man braucht sich nicht von der Stelle zu rühren, um überzeugt zu sein, dass es kein Entkommen gibt.« Diesen Satz, die Abwandlung eines Satzes von Søren Kierkegaard aus ›Die Wiederholung‹, erfährt die junge Deutsche Marie in Doris Dörries jüngstem Film ›Grüße aus Fukushima‹ am eigenen Leib. Sie lernt begreifen, dass die Enttäuschungen im Eigenen anfangen, das sich selbst fremd geworden ist und dass die Konfrontation mit dem vermeintlich Fremden einen umso stärker auf sich selbst zurückwirft.
Dokumentarische Anteile werden in ›Grüße aus Fukushima‹ stets in einem individuellen Erfahrungsraum zitiert. Die Säcke mit abgetragener verstrahlter Erde bleiben, wohlgeordnet, da stehen, in Fukushima, »für immer«, wie die Dolmetscherin und Reiseführerin sagt. Und »für immer« scheinen zunächst auch die Missverständnisse, Peinlichkeiten und unüberwindlichen Differenzen zu sein, denen Marie sich in Japan ausgesetzt sieht, und da hilft auch die Flucht ins vermeintlich komische Fach des Clowns nicht, als der sie, zusammen mit einem Kollegen, in Fukushima zur Unterhaltung der Menschen beitragen will. Das sich gegenseitige Beobachten wird unerträglich, Verständigung ist nicht in Sicht. Marie versucht, sich zu arrangieren, indem sie sich ablenkt. Und aus der Ablenkung folgt ein tiefes Versenken in die Biographie und das Schicksal der alternden Geisha Satomi, bei der Marie ab etwa dem zweiten Drittel des Films wohnt. Mit Satomi verbindet sie eine Art Seelenverwandtschaft, und so wird ›Grüße aus Fukushima‹ zu einem Film der Abschiede, der das Weiterleben nach dem Tod im Leben zeigt. Überall begegnen Marie Spuren der Verwüstung, in denen sich ganz Privates findet; noch in der Zerstörung ist Identität schaffende Erinnerung bewahrt.
Nachts sieht Marie die Untoten leuchten, die Wiedergänger der Atomkatastrophe, die Eltern und die Tochter Satomis, als könne Marie die Albträume von Satomi wahrnehmen, die alles durch den Tsunami und die atomare Katastrophe verloren hat. »Vermissen ist, wie mit Geistern zu leben«, sagt Satomi. Marie lebt mit den Geistern ihrer verlorenen Liebe. Der unglückliche Geist, der sie ist, zieht Geister an. Das Leben, auch hier ein Traum, und kein Aufwachen. Satomi hat ein Geheimnis: Um selbst zu überleben, glaubt sie, ihre Tochter Yuki-chan vom Baum gestoßen zu haben, auf den beide während der Katastrophe geflüchtet waren, dieser Gedanke verfolgt sie zumindest seitdem. Der Baum ist seit der Katastrophe abgestorben. Unter dem Vorwand, sie solle Wasser kaufen, schickt sie Marie mit dem Moped in den Ort; in ihrer Abwesenheit versucht sie sich an diesem Baum zu erhängen. Marie errettet sie und sägt schließlich den Ast ab, von dem Satomi ihre Tochter gestoßen zu haben glaubt und an dem sie sich erhängen wollte. Eine prägnante und berührende symbolische Geste in dem an symbolischen Handlungen und Gesten so reichen Werk Doris Dörries.
›Grüße aus Fukushima‹ ist eine Parabel auch über das leere Bewusstsein. Anlässlich einer kleinen Lehrstunde in japanischer Teezeremonie unterweist Satomi die junge Deutsche, zu welchem Zweck es gut ist, wenn es heißt: »Nur die Tasse und du« – und der Tee in deinem Körper, »nur das hier«, »nur dieser Moment, sonst nichts«.
Doris Dörries Bücher und Filme zeigen auf manchmal märchenhafte Weise Selbstwahrnehmung als die Wahrnehmung von etwas Fremdem, die oft erst über den Anderen und die Fremde als Lebensraum wieder zu einer nichtentfremdeten Wahrnehmung seiner selbst zurückfindet.
Dass dieses so ungeheuer produktive Werk, darunter über dreißig Kino- und Fernsehfilme und über zwanzig Bücher, davon zehn Kinderbücher, seinen Lesern und Zuschauern ein parabolisches Vademecum für Seele und Geist gibt, macht es so unverwechselbar. Es kündet nicht von einer trostlos leeren Transzendenz, sondern zeigt Wege auf, die Krise des modernen Bewusstseins zu meistern.

Atmen Ordnung Abgrund – Frankfurter Poetikvorlesungen
Die fünf Poetikvorlesungen von Michael Lentz legen den Bodensatz der Zwangsneurose frei, die wir Literatur nennen. Sie widmen sich Fragen des poetologischen Untergrunds, auf dem die Literatur sich bewegt. Ihr rhetorisches Ordnungsgefüge, so Lentz, verdeckt nur den Abgrund, über den sie uns führt. Wo findet sich in dieser Ordnung die Angst, fragt Lentz, wo entsteht Zauber in der Rhetorik? Was hält uns, wenn wir in den Abgrund blicken?