Greifswald – da war ich zuerst einmal stark im Stress. Flugverspätung, Shuttlebus verpassen, zu viel Kaffee erwischen, weil man die Kaffeestärke in anderen Ländern nie einschätzen kann. Zu spät in die gefühlte erste Unterrichtseinheit an der Universität reinschneien. Alle kleinen Deadlines nicht einhalten. Gleich unangenehm auffallen auf dem Klassentreffen mit Fremden. Lauter Menschen, die man nur von ihren Sätzen her kennt. Seltsam. Nebelig. Ich habe Greifswald dann innerlich immer als »Flensburg, wenn man es charmant verrosten lässt« bezeichnet. Aber ehrlich gesagt nur, weil Flensburg die einzige andere Stadt ist, die ich an der Ostsee kenne und weil sich die Fußgängerzonen recht ähneln. Natürlich wird das Greifswald nicht gerecht. Da gibt es ja immerhin ein recht progressives Logik-Institut, wohingegen es in Flensburg nur ein langweiliges, konservatives Nautik-Institut gibt. Zudem ist das Greifswalder Logik-Institut das einzige, welches sich im deutschsprachigen Raum wirklich relevant mit Fuzzy Logic und Free Logic beschäftigt. Logiken, die es einem ermöglichen, über ungenau definierte oder nicht-existente Dinge zu reden. Etwas, das die klassische Prädikatenlogik von vornherein ausschließt. Das eröffnet einem zwar die Möglichkeit, all die Vorzüge der natürlichen Sprache zu genießen. Das wirkt dann natürlicher, intuitiver, menschlicher. Aber es erzeugt gleichzeitig mehr Fehler, Unebenheiten und Paradoxien. Nicht, dass das jemanden interessieren würde – außerhalb von Greifswald. Eine Kirche gab’s da auch, die man sich hätte anschauen können. Ein Museum, das man besuchen hätte können. Ein Café, in dem man nicht den ganzen Tag verbringen hätte müssen, um Logik zu recherchieren. Von daher kann man der Stadt nichts vorwerfen. Kalt, verspätet, verwirrt und eingeschüchtert also in die erste Sitzung – ganz der Wiener. Gleich Angst haben. Vor all den großen AutorInnen. Vor all den Literaturmenschen. Sich Sorgen machen, dass die Texte nicht gut ankommen. Sich Sorgen machen, zu viel Blödsinn zu reden. Sich Sorgen machen, nicht die richtige Mischung aus zu wenig und zu viel Kaffee zu erwischen. Und dann positiv überrascht sein und den Sorgen langsam beim Sich-Auflösen zuschauen. Alle trinken. In Finnland trinken sie sehr viel Kaffee. In Estland trinken sie sehr viel Alkohol. In Tschechien auch. In Österreich auch. In Deutschland auch, aber nicht ganz so viel. Wir trinken. Wir diskutieren Literatur, als wäre es ein Wissenschaftsgebiet, und verwerfen nach und nach die seltsame Vorstellung, dass die AutorInnen am besten über ihre eigene Arbeit bescheid wüssten. Und dann trinken wir wieder – was ja den eigentlich interessanten Teil der Tagung ausmacht. Der eigene latente Alkoholismus ist offenbar nichts Individuelles, sondern eine Berufskrankheit, die sich durch alle Länder und alle Sprachen zieht. Man unterhält sich. Und wie das so ist, laufen Gespräche, durch die man sich mit einer Verkehrssprache schlägt, auf ein Aufzählen von sprachspezifischen Funfacts hinaus: Im Finnischen gibt es absurd viele Fälle. Wenn man Deutsch auf Tschechisch übersetzt, verliert man ein Drittel der Textlänge. In Deutschland geht sich nichts aus, es kommt hin. In Österreich geht man nicht aus, man geht fort. Und die Leute gehen an ihre Arbeit alle so unterschiedlich heran wie an ihre Sprachen und Kaffeekochmethoden. Unterschiedliche Arbeitsintervalle. Unterschiedliche Arbeitsintensität. Unterschiedliche Schreibmethoden. Unterschiedliche Formen der Kommunikation. Da schreiben manche ein Kapitel und handeln bereits den Vertrag aus. Da lassen sich manche 5 Jahre Zeit zwischen den Manuskripten. Da empfinden manche nichts als Leid und Mühe beim Schreiben und tun es trotzdem dauernd. Da empfinden andere nur Freude beim Schreiben und tun es trotzdem viel zu selten. Da schreiben manche ihr ganzes Manuskript fertig, und dann verzögert sich die Veröffentlichung deshalb erst recht um ein weiteres Jahr wegen dem fehlenden Vertrag. Ganz abgesehen von der Erzählform oder gar dem Inhalt. Manche gehen das furchtbar strukturiert an, können jede einzelne Trope, jeden Kniff, jede Methode aufzählen, die sie benutzt haben. Gehen an den Roman heran wie ein Architekt und lassen das Manuskript erst stehen, wenn es fehlerfrei zwischen den anderen Gebäuden verharren kann, ohne auch nur einen Millimeter zu schwanken. Die klassischen Logiker eben. Die anderen stützen sich auf eine natürlich erlernte Methode, die sie vielleicht gar nicht als Methode erkennen, weil sie bereits zu einem Instinkt geworden ist, und legen das Manuskript frei wie versteinerte Fossile, die schon ewig in der Sprache eingegraben liegen. Da prüft man nicht ständig das eigene Fundament, um sicherzugehen, dass es auch trittfest ist, weil einen ja genau das vom Gehen abhalten würde. Das eine hat weniger Fehler. Das andere hat mehr Herz. Kommt man da auf einen Kompromiss? Nein. Man kommt auf einen Dialog. Wie in der Literatur eben. Wie in einer progressiven, ungenauen Logik. Wie in Greifswald. Wie in Nebel und Alkohol.
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