Dieses Video verdanken wir den Veranstaltern des Abends von der Alten Feuerwache in Mannheim, die spontan reagiert und den Auftritt festgehalten haben.
Roger Willemsen
Von Nektarios Vlachopoulos
Sechzehn Tage ist es nun her, dass zum achten Male unser kleines Mannheimer Literaturcafé seine Pforten öffnete, um ein paar Menschen lesen und ein paar mehr Menschen lesen hören zu lassen. Es ist viel geredet worden, manches wurde gar gesagt und am Ende stehen, wie das nun mal ist, die kleinen Aufmerksamkeiten, die little Nice-to-Haves, die Ach-das-wär-doch-gar-nichts, die Merci-dass-es-dich-gibts an.
Was schenkt man aber einem Mann, der überall war und vieles weiß, der alles schon gesehen und noch viel, viel mehr gehört, der alle Hände voll zu tun, ein Festival zu kuratieren und der seit über zwei Wochen ungeduldig auf seinem Holzstuhl in der ersten Reihe hin- und her rutscht, unentwegt die belletristischen Zierblüten vielversprechender Schriftsteller umschwirrend? Genau! Wir lesen ihm was vor! Damit rechnet keiner!
Und da kam ich also ins Spiel. »Dieser Nektarios«, hat man sich gedacht, »der macht doch was mit Subkultur. Roger interessiert sich für Subkultur. Roger interessiert sich für jeden Scheiß.« Gesagt, getan, man reichte mir ne Stulle und ne Schorle und ich machte mich los, um auf rotzig-freche Art und Weise einen Mann mit meiner rhetorischen Versiertheit zu beeindrucken, der mehr Bücher geschrieben hat, als ich jemals zu lesen gedenke.
Was für eine schöne Aufgabe mir da erteilt wurde, den Roger zu rühmen, den Willemsen zu würdigen und wie es meinem investigativen Naturell entspricht, begann ich zuerst damit, nach Scheiße auf der Weste zu suchen. Nun ja. Wie soll ich sagen... Ich wurde enttäuscht.
Ich wäre heute nicht halb so aufgeregt, hätte ich nur einen Grund gefunden Roger Willemsen nicht zu mögen. Stundenlang habe ich nach Schwachstellen gesucht. »Nimm ihm seine Brille«, hab ich mir gedacht. »Seine Bücher, seine Titel und seinen Anzug. Dann ist er auch nur ein ganz normaler Philanthrop mit messerscharfem Verstand und sehr viel Geld.« Ein Mensch wie du und ich.
Vielleicht werde ich ja fündig, wenn ich ihm nachstelle, dachte ich irgendwann, da wurde also dieses kleine unauffällige meet-the-Greek arrangiert, auf dass ich mir selbst ein Bild vom smarten Roger machen sollte – und was ich vorfand, huiuiui – verschlug selbst mir die Sprache. »Alle Wege führ'n nach Monnem«, ward mir tituliert, das psychedelisch-bunte who-is-who der örtlichen Migrantenszene. Kumbaja Mylord, was haben wir geweint. So viel Gefühl, so fern die Heimat, so stolz die Großmutter. Ich danke Roger für diesen Abend und rüge ihn erneut für seine Freundlichkeit. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin kein Zyniker oder so, es fällt mir nur viel leichter, Dinge zu verreißen, als etwas Gutes in ihnen zu sehen. In diesem Fall aber ist der Stoff nicht nur reißfest, sondern knitterfrei. Natürlich hat auch ein Roger Willemsen seine Leichen im Keller, aber anders als die meisten Personen des öffentlichen Lebens holt er sie rauf, zieht ihnen etwas Schickes an und stellt sie sich ins Schaufenster. Intime Details, die man gegen jeden normalen Menschen verwenden könnte, hat er schon selbst gegen sich verwendet. Wie soll man denn eine Wurst roasten, die sich bereitwillig hat räuchern lassen??
Ich möchte gerne an dieser Stelle Willemsens Stellungnahme zu seiner Defloration zitieren:
»Ich hatte in diesem Augenblick gerade vergessen, wo genau die Scham der Frau sitzt.
Das ist etwas, das Panik auslösen kann, weil ich plötzlich zwei Orte hatte, bei denen ich dachte, es könnte auch da sein.«
Ich möchte nicht wissen, an welchem Ort Roger Willemsen mich in einem medizinischen Ernstfall beatmen würde, freue mich aber über die Fehlbarkeit und Offenheit eines so großen Mannes.
Vieles wurde mir im Zuge meiner Recherchen über Roger Willemsen zugetragen, leider ausschließlich Gutes. Er isst Unmengen Süßzeug, hieß es, und kennt neben jedem dänischen Impressionisten auch alle ehemaligen Vereine von Miroslav Klose. Leider auch alle Teilnehmer des Dschungelcamps und die Oberschenkelweite deutscher Tennisspielerinnen. Ich muss zugeben, als ich mich hierauf einließ, da ich wusste noch nicht allzu viel über diesen Universalgelehrten aus den Talkshows... Aber seit man mir erzählte, mit wie unterschiedlichen Menschen er sich versteht, wie breit seine Interessen gestreut sind, wie unerschöpflich die Aufmerksamkeit für die großen Geschichten in der Welt, aber auch für jeden einzelnen Menschen mit seinen individuellen Sorgen und Eigenarten ist; nachdem ich erfuhr, was er tut, wohin er geht und mit wem er verkehrt, habe ich erst recht keine Ahnung, was dieser Mann eigentlich ist. Autor, Moderator, Produzent, Reisender, Verleger, Wissenschaftler, Intellektueller, Humorist, Aktivist, Publizist, Journalist und für den Fall, dass er es selbst nicht so richtig weiß, kann vielleicht das folgende Poem ein wenig Aufklärungsarbeit leisten:
Habe mit großer Euphorie,
in Bonn, Florenz, München und Wien
Deutsch, Kunst und auch Philosophie
durchaus studiert mit heißem Bemühn
Da steh' ich nun vor voller Halle
und bin viel klüger als ihr alle...
Roger Willemsen.
Bevor der Hipster hip gewesen
hast du mit Hornbrille gelesen
stets im Trend und up-to-date
auch ohne Handyfunkgerät
im Interview beim Dalai Lama
strahlst du wie Buddha, Rah und Brahma
fokussiert und stets gefeit
und immer ingwerreibbereit
couragiert und seit Äonen
über Diskussionen thronend
monotone Konventionen
und Schablonen niemals schonend
mit Komplizen und Novizen
witzelnd in Notizen kritzelnd
Roger bringe dein Blut auf Trab
heben wir mit Hugo ab
Solch artistisch Arsenal
gibt’s alle hundert Jahre mal
Kommst immer an und nie zur Ruh
Roger, ich will sein wie du
Ein Kind der Zeit
ein Pragmaphantast
ein wilder Schrei
ein Enthusiast.

Ein Jahr lang sitzt Roger Willemsen im Deutschen Bundestag – nicht als Abgeordneter, sondern als ganz normaler Zuhörer auf der Besuchertribüne im Berliner Reichstag. Es ist ein Versuch, wie er noch nicht unternommen wurde: Das gesamte Jahr 2013 verfolgt er in jeder einzelnen Sitzungswoche, kein Thema ist ihm zu abgelegen, keine Stunde zu spät. Er spricht nicht mit Politikern oder Journalisten, sondern macht sich sein Bild aus eigener Anschauung und 50000 Seiten Parlamentsprotokoll. Als leidenschaftlicher Zeitgenosse und »mündiger Bürger« mit offenem Blick erlebt er nicht nur die großen Debatten, sondern auch Situationen, die nicht von Kameras erfasst wurden und jedem Klischee widersprechen: effektive Arbeit, geheime Tränen und echte Dramen. Der Bundestag, das Herz unserer Demokratie, funktioniert – aber anders als gedacht.