Ein Aufenthalt
Da ist schon wieder dieses Raunen. Ich könnte jetzt den Kopf sachte hin und her bewegen, vielleicht sogar um einige Grad neigen, ausrichten, wenn ich ihn mir als Antennenschüssel und die Ohren als Empfänger denke. Dann müsste ich nur noch den ermittelten Himmelsausschnitt fixieren, dabei vielleicht die Augen leicht zukneifen, und wenn auch das nicht hilft, die Brille am T-Shirt abwischen, und sollte es eigentlich sehen, dieses einsame Flugzeug am Nachthimmel, oder wenigstens sein blinkendes Positionslicht.
Stattdessen drehe ich um, kehre in mein Zimmer und an den Schreibtisch zurück, klappe den Computer auf, starte den Browser. Was das sei, hatte ich einen Kollegen bei der Zeitung, wo ich an den Sonntagen Geld dazuverdiene, vor einigen Monaten gefragt, der eine digitale Weltkarte anstarrte, die vor winzigen gelben Flugzeugen wimmelte. Jetzt öffne auch ich Flightradar24.com, betrachte die Flugrouten, die wie Ameisenstraßen die Erde überziehen, zoome mir Vereinigte Staaten von Amerika nah, Ostküste, Upstate New York, Columbia County, Hudson, Ghent, Omi International Arts Center, Ledig House und die Cottages Sanford, Reynold und Betsy. Ich erfahre, dass das Raunen nur von einem Kleinraumjet des Modells Embraer 175 von Air Canada verursacht worden sein kann, der unter der Nummer 7645 einen knapp anderthalbstündigen Flug von New York La Guardia nach Montreal-Trudeau ausführt. Ich ergoogle, dass Embraer ein brasilianischer Flugzeugbauer ist und Air Canada die größte kanadische Fluggesellschaft sowie Mitglied der 1997 in Frankfurt am Main gegründeten Star Alliance, der aktuell achtundzwanzig Airlines angehören.
Bevor ich weiterklicken kann, um mehr über den Kometen Hale-Bopp zu erfahren, der im selben Jahr mit bloßem Auge am Sternenhimmel zu sehen war, über Prinzessin Diana, die damals verunglückte, oder Arnold Koller, der Schweizer Bundespräsident wurde, klappe ich den Computer zu, stoße mich vom Schreibtisch ab und trete wieder nach draußen. Für einmal scheinen die Anderen schon zu schlafen, die Lichter in und an den Häusern sind gelöscht. Wenn ich jetzt den Kopf in den Nacken lege, sehe ich Sterne, lumineszierende Stecknadelköpfe allerlei Größen, die die Nacht durchstechen, so scharf wie ich sie sonst nur aus dem Planetarium kenne. Deutlich erkenne ich den Großen Wagen, die Nase, den Leuchtturm und die Krumme Axt.
Am Himmel über New York City dagegen, kaum eine Woche zuvor, nach der Achterbahnfahrt auf dem bald hundertjährig rumpelnden und klappernden Cyclone auf Coney Island, nach dem windigen Spaziergang am Strand und wenigstens einem kurzen Sprung in den stürmischen Herbstatlantik, nach dem Besuch Tatianas, dieses Sammelbeckens aller möglichen Sowjetnostalgiker auf der Promenade von Brighton Beach, wo die Kellnerin uns auf Russisch Borschtsch, Fleischspieße und Wodka zum Aufwärmen empfiehlt, später das WiFi-Passwort aufschreibt und eine saftige Rechnung in Dollar stellt, um uns pleite zurück in die Neue Welt zu entlassen, da ist am Nachthimmel kein einziger, wirklich nicht ein einziger Stern zu sehen, weder der Polarstern noch meinetwegen die Venus. Nur ein seltsam verschwommener Vollmond hält über der Hochbahn die Stellung.
Als ich mich später in der Penn Station in eine Schlange stelle, spricht mich eine mittelalte Frau an, die, wie ich bald erfahre, in Albany lebt und dorthin zurückfahren will, und fragt erst, als wäre ich in New York einheimischer als sie, wann denn der Einstieg in unseren Amtrak Empire Service in nördlicher Richtung, upstate, beginnen würde und dann, eher rhetorisch, als immer mehr unterschiedlich trikotierte Menschen vereinzelt oder in kleinen Gruppen kreuz und quer an uns vorbeidrängen, wie viele fucking Sportanlässe denn in dieser Stadt gleichzeitig stattfänden (an den Mannschaftslogos unterscheide ich mindestens Football-, Baseball-, Basketball- und Eishockey-Fans). Meine sieben Berlinjahre scheinen aus meinem Englisch hervorzuragen, so dass sie mir von ihrer sechzehnjährigen Gasttochter aus Düsseldorf erzählt – meine siebzehn Jahre in der Schweiz samt Schweizer Pass halten sich wie so oft dezent zurück, und auch meine Kindheit im Russischen färbt nicht deutlich genug ab. Während sie redet, fächert sich die Frau mit dem ausgedruckten Ticket Luft zu, wischt sich mit einem Stofftaschentuch die Stirn ab und schnaubt schließlich, dass es im Jahr zuvor um diese Zeit schon geschneit habe. Sie trägt eine Bluse mit Blümchen drauf und einen knielangen Faltenrock, ich habe ein T-Shirt und Shorts an, für Midtown Manhattan zeigt mein Handy fünfundzwanzig Grad Celsius und wolkenlosen Sonnenschein an. Hier, im Untergeschoss der Station aber, wo sich die Hitze staut, dürfte es noch einige Grad heißer sein.
In dem Monat, den ich im Sanford Cottage verbringe, wird es im Rückblick eine einzige Nacht gegeben haben, in der die Temperaturen bis an den Gefrierpunkt sinken. Es ist diese Nacht, die Nacht, in der alle Anderen statt auf der Veranda zu rauchen und Wein zu trinken schon zu schlafen scheinen und ich fröstelnd die Sterne betrachte. Der Air-Canada-Flug 7645 ist längst verstummt. Die nächste Überlandstraße ist weit entfernt und nur wenig befahren, vor allem nach Einbruch der Dunkelheit. Die unerwartet herabgefallene Kälte hat all die Kröten und Grillen zum Schweigen gebracht, die in warmen Jahreszeiten die Tage und Nächte mit ihren Lauten grundieren. Auch der Wind, der die Äste im nahen Wald knackst, hat sich gelegt. Wenn ich mich jetzt ganz still stelle, am besten auf den Rasen, weil die Sandalen auf dem Kies keinen festen Stand bieten und im Balancieren die kleinen Steinchen knirschen lassen, wenn ich zudem mehrere Atemzüge aussetze, dann fängt es in den Ohren zu pochen und zu rauschen an, vom beschleunigenden Herzschlag getaktet, beinah schmerzhaft.
Jeden Abend kurz vor Mitternacht bläst ein fernes Horn über Felder und Wälder, mächtig genug, um einen kilometerlangen Güterzug anzukündigen, der von zwei schweren Diesellokomotiven angeführt langsam nach Süden Richtung New York rollt. Das weiß ich, seit ich einen ganzen Abend, einen halben Arbeitstag, wenn ich in Stunden rechne, auf der Bank vor der Bahnhofshütte im rund zwanzig Autominuten entfernten Hudson verbracht habe, in Erwartung des letzten Empire Service aus der City mit einer unverhofften Besucherin an Bord. Nachdem er mich mitfühlend gefragt hat, ob ich nochmals aufs Klo wolle, macht der Stationsvorsteher den Warteraum dicht und löscht die Lichter, irgendwann erlischt auch der Bildschirm meines in maximalen Energiesparmodus versetzten Laptops, und als ich schon denke, dass in den nächsten Stunden nichts Aufregenderes mehr passiert, als dass der Minutenzeiger der Bahnhofsuhr jede Minute um einen Strich vorwärtsspringt, da erschallt, noch von fern, aber unverkennbar tief, das vertraute Horn. Es kommt näher und immer näher, wird laut und lauter, und irgendwann kann ich nicht mehr anders, als mir mehrere Minuten lang die Kuppen der Zeigefinger in die Ohren zu stopfen, bis die vielen Dutzend Warencontainer und Treibstoffzysternen vorbeigequietscht sind.
Aber noch ist es nicht soweit, Mitternacht noch mindestens eine Stunde entfernt.
Ich laufe weiter Richtung Küche. Wenn ich mir mich als Ameise vorstelle, die mit jedem Schritt eine Duftspur legt, dann wäre mein Geruch mit großem Abstand am intensivsten auf dem Weg, der meinen Schreibtisch im Erdgeschoss des Sanford Cottage mit der Küche im Ledig House verbindet. Das Haus im Kolonialstil liegt nicht nur auf dem Weg nach Kanada, beschäftigt eine Köchin, die lange Zeit in Kanada gelebt hat, es ist auch Kanada, jedenfalls wenn man es mit dem amerikanischen Dokumentarfilmer hält, der mit seinem Kamerateam durch unverschlossene Türen die Häuser wildfremder Kanadier betrat, da muss ich im zweiten oder dritten Jahr meines Wirtschaftsstudiums in Bern gewesen sein. Türschlösser scheinen zwar vorhanden, verwendet werden sie aber nie, und auch ein Schlüsselbund ist mir in den Wochen hier nicht ein einziges Mal untergekommen. Ich hingegen besitze einen Schlüssel und habe auch die an der Wand meines Schlaf- und Arbeitsraums angebrachte Aufforderung, ihn allzeit bei mir zu tragen, gelesen. So wie es an meinem ersten Morgen hier endlos lange dauert, bis ich, nackt in der Badewanne stehend, Mund voller Zahnpastaschaum, herausgefunden habe, wie beharrlich ich an welchem der Griffe wie lange ziehen muss, um die Duschbrause anzuwerfen (das Fenster im Bad zu öffnen, schaffe ich bis zum Schluss nicht, weil es irgendwann auch zu peinlich wird zu fragen), ist Rumexperimentieren nötig, um festzustellen, dass ich den Riegel auf der Innenseite des Knaufs drücken und im Uhrzeigersinn drehen muss, um meine Zimmertür zuzusperren. Wenn der Riegel nur gedrückt, aber nicht gedreht ist, dann genügt schon eine Vierteldrehung des Knaufs, um die Tür sowohl von außen als auch von innen zu öffnen. Gelegentlich geschieht es, dass ich den Riegel versehentlich reindrücke und drehe, etwa wenn ich zu lange am Schreibtisch ausharre, um immer mal wieder wirklich nur noch diesen einen Satz zu Ende zu tippen, und dann regelrecht auf die Toilette stürmen muss, ungestüm, grobmotorisch. Wenn die Rückkehr ins Zimmer dann nicht mehr gelingt, weil der Knauf sich nicht drehen lässt, habe ich wenigstens das Glück, immer die Hose anzuhaben, aus deren Tasche ich den Zimmerschlüssel ziehen kann. Trotzdem male ich mir wiederholt aus, mitten in der Nacht, natürlich windet und schüttet es, einmal schneit es sogar, nach einem Klobesuch nur in Unterhosen oder mit um die Hüften geschlungenem Handtuch um Sanford Cottage schleichen zu müssen und durchs Fenster wieder einzusteigen, das einzig zu diesem Zweck während des ganzen Aufenthalts, Tag und Nacht, unverriegelt bleibt.
Die Glocke über dem Eingang bimmelt, als ich erst das Fliegengitter, dann die Tür des Ledig House öffne und eintrete. Während ich im schummrigen Licht des Dampfabzugs darauf warte, dass das Teewasser heiß wird, ziehe ich die Pforten des großen American-designed-and-built-Kühlschranks auseinander und halte nach Snacks Ausschau, scharfen Oliven vielleicht, Kirschtomaten, spanischer Salami oder krümeligem Feta, die ich mir auch ohne besonderen Hunger immer in den Mund schieben kann. Auf den gläsernen Ablagen türmen sich durchsichtige Plastikboxen mit Salaten, Couscous, Süßkartoffelspalten, Reis, Fisch, Fleisch, Überbleibsel von Abendessen, Mittagessen für die folgenden Tage.
Rita, die Kanadierin mexikanischer Abstammung, Rita, die stützende Bandagen trägt, weil ihre Handgelenke von jahrzehntelangem Töpfeschleppen ausgelaugt sind, Rita, die viele Jahre auf Kaffee verzichtete, weil sie endlich und endgültig aufhören wollte zu rauchen und ihr Körper immer nach einer Zigarette verlangte, wenn sie einen Schluck Kaffee trank, Rita ist es, die Abend für Abend ihr dunkelblaues Auto vor die Tür des Ledig House steuert, Rita trägt Tüten mit frischen, mehrheitlich regional angebauten Lebensmitteln in die Küche, um für uns pikantes Allerlei aus aller Welt zuzubereiten. Während wir essen, einander Anekdoten aus unseren Leben und Städten erzählen, Erfahrungen teilen, lachen oder schweigen, hören wir nicht, wie Rita in der Küche Obst schnippelt. An anderen Tagen setzt sie Genuss vor Gesundheit und stellt Schokolade oder süßen Apple Pie zum Nachtisch auf. Ein einziges Mal gibt sie unserem Drängen nach, legt auch sich Essen, das sie zubereitet hat, auf den Teller und nimmt an der langen Tafel mit uns Platz. Wir aber scheinen weder etwas über ihre Kindheit, noch ihre Ehe, ihre Kinder oder ihre Hauseinrichtung wissen zu wollen, eine einzige Geschichte über ihre Enkel schafft sie zum Besten zu geben, bevor sich das Gespräch amerikanischen Literaturscouts zuwendet und wie sie unwillentlich oder auch in voller Absicht internationale Autorinnenkarrieren zerstören, wenn sie auch nur zögern, die ihnen angebotenen Manuskripte den europäischen Verlagen, für die sie arbeiten, weiterzuleiten. Irgendwann steht Rita auf und geht in die Küche, ihr Weinglas und das schlechte Gewissen lässt sie am Tisch zurück.
Von Montag bis Freitag kocht Rita für die Schreibenden im Ledig House, am Samstag und Sonntag stillt sie den Hunger von Besucherinnen des Skulpturengartens, der sich über die angrenzenden Felder erstreckt, mit einer Auswahl an Suppen und heißen Sandwichsnacks. Wir sind dann nicht uns selbst überlassen, müssen keine Brote schmieren oder Kartoffeln schälen: Um unsere Verpflegung kümmert sich ein Caterer, der ebenfalls bis knapp vor die Tür fährt, die Mahlzeiten auf denselben Platten und in vergleichbaren Mengen anrichtet, die mehrheitlich regionalen Zutaten auflistet und besondere Würzigkeiten hervorhebt, guten Appetit wünscht, bevor er davonfährt. Auf einem Gestell neben der Eingangstür liegen Schreibblock und Stift, gerade ist es ein hellblauer Leuchtstift, weil sämtliche Kugelschreiber mal wieder verschwunden sind. Irgendwann muss jemand jemandem Sinn und Zweck des Blocks an genau dieser für alle gut sichtbaren, von allen jeden Tag passierten Stelle erklärt haben. Seither geht von Mund zu Mund, dass wir hier besondere Essenswünsche eintragen dürfen, die beim nächsten Großeinkauf erfüllt werden: Avocado, Nutella, zuckerfreie Marmelade, irgendwann komme ich auf die Idee, tiefgefrorene Croissants zu bestellen, die ich immer zusammen mit einem Milchkaffee frühstücke und auch für andere aufbacke, seitdem sich ihr Vorhandensein herumgesprochen hat. Während es nachts still ist und der Parkplatz bis auf das hauseigene Auto leer, wimmelt das Gelände tagsüber von Mitarbeitenden und Lieferanten: Die einen rollen mit einem Pickup voller Trinkwasserfässer an, andere bringen Heizöl, zwei Putzkräfte besorgen Ordnung und Sauberkeit der öffentlich genutzten Räume, ein Hauswart ersetzt die Dichtungen tropfender Wasserhähne und wechselt in allen Gebäuden Glühbirnen aus, zudem liefern sich immer mal wieder Männer auf knatternden Mähmaschinen um acht Uhr morgens Wettrennen über den Rasen. Außerdem gibt es einen Swimmingpool, der in der farbenfrohen Jahreszeit einmal die Woche von herabfallendem Laub und Tierkadavern gesäubert wird.
Die kleine Schlange, vielleicht zwanzig oder fünfundzwanzig Zentimeter lang, sehe ich bei meinem ersten kurzen Erkundungsgang durch das unmittelbare Anwesen im chlorblauen Wasser schwimmen. Munter windet sich der dünne Körper hin und her, kommt schnell und grazil, verspielt fast, voran. Ich suche die Poolränder nach Ausstiegsmöglichkeiten ab und entscheide, dass es keine gibt, weil Schlangen, wie ich annehme, weder leitersteigen noch eine glatte Stange hochkriechen können. Obwohl ich mich vor Schlangen fürchte, starte ich einen Rettungsversuch, auch weil der Pool den Großteil seiner Verlockung verliert durch die Vorstellung, dass ich durch tote, vielleicht schon sich zersetzende Tierleiber kraule. Mangels Alternativen greife ich zu einer Schaumstoffnudel, die vermutlich Trainings- und Rettungszwecken dient, und versuche sie unter den schwimmenden Schlangenkörper zu bekommen, um ihn dann aus dem Wasser zu hieven. Was mehrfach misslingt, zum einen, weil die Schlange meine lauteren (nur nebenbei egoistischen) Absichten als ihr Gegenteil versteht und panisch davonschwimmt, zum anderen, weil der Schaumstoff sich sofort mit Wasser vollsaugt und entsprechend schwer und schwerfällig wird. Als ich der Schlange von vorne beizukommen versuche, um sie quasi in ihrer vollen Länge auf die Nudel zu bekommen (wenn ich es von der Seite versuche, verlagert sich, zumal sie ständig zappelt, ihr Schwerpunkt immer so schnell, dass ich sie immer nur wenige Zentimeter aus dem Wasser heben kann, bevor sie zurückplumpst), richtet sie sich unter Anspannung sämtlicher Muskeln auf einmal auf, schießt aus dem Wasser und stößt mit den Zähnen zu.
Überdeutlich, in scharfen Bildern und lebendigen Farben, als hätte sich die Sache erst gestern zugetragen, erinnere ich mich, erinnerte mich bereits während der Rettung der Schlange daran, wie ich mich vor über fünfzehn Jahren, einmal mehr im zweiten oder dritten Studienjahr, getraute, eine vom stundenlangen Anfliegen gegen die Fensterscheibe völlig entkräftete Wespe mit bloßer Hand aufzuheben, um sie zu befreien. Ich weiß noch genau, wie ich ihr fast in Trance dabei zuschaute, wie sie ihren Hinterleib nach oben bog, um Schwung zu holen, und dann ihren Stachel in meinen Zeigefinger rammte. Vom jähen Schmerz wurde ich wieder wach und schüttelte die Wespe ab, kraftlos segelte sie auf die Fliesen und ich trat auf sie drauf, wütend über die eigene Naivität und Gutgläubigkeit.
Selbst wenn ich mich mit Schlangen auskennen und giftige von ungiftigen unterscheiden könnte, hätte ich mich bestimmt nicht getraut, sie mit bloßer Hand aus dem Pool zu ziehen. Zudem vermute ich, dass sie, so fröhlich wie sie übers Wasser glitt, noch keine Notlage oder Gefahr empfand, um sich in Sicherheit zu fühlen, nachdem es mir endlich gelungen war, sie ins Gebüsch zu schleudern. Noch tagelang achte ich auf jeden meiner Schritte, besonders wenn ich barfuß oder in Sandalen unterwegs bin, falls die Schlange über ein besseres Gedächtnis verfügt, als ich ihr unterstelle, und auf Rache aus sein sollte. Zudem gehe ich fast zwei Wochen lang bei allen möglichen Einheimischen mit der Frage hausieren, ob die Schlange Gift in den Schaumstoff der Badenudel gespritzt haben könnte, bis der Taxifahrer, der meine unverhoffte Besucherin am nächsten Morgen zurück zur Bahnstation in Hudson bringt, darüber aufklärt, dass es in der Gegend keine gefährlichen Schlangen gebe. Nur einige giftige Baum- und Straucharten sowie Zecken in allen Größen und Ausformungen, die lebensgefährliche Krankheiten übertragen, vor denen auch die Broschüren auf sämtlichen Toiletten warnen.
Aber auch eigene Anschauung belegt, dass das Gelände reich bevölkert ist. Nicht nur schicke ich immer wieder Bilder von direkt vor meinem Fenster spielenden Grauhörnchen nach Europa, auch entdecke ich nach einer Weile kleinere Exemplare, die sich in den Sträuchern verstecken und ich erst für Ratten halte, bis es mir eines Tages gelingt, mich anzuschleichen und ihre buschigen, denen von Eichhörnchen ähnelnden Schwänze zu sehen. Täglich gegen drei Uhr nachmittags, sofern die Menschen ausruhen oder sich in den Innenräumen beschäftigen, durchquert ein flauschiges Waldmurmeltier, ground hog, das äußerlich an einen Biber erinnert (vielleicht sind es auch mehrere, die sich die Routine teilen), den Parkplatz, steuert einen der Äpfel an, die von den Hochstämmen regnen und die aufzuheben geschweige etwa zu Apple Pie zu verarbeiten sich längst niemand mehr die Mühe macht, vertreibt die Wespen, ganze Wespenclans in diesem warmen Herbst, die daran kleben und die, benommen vom süßen Schmaus, auch widerstandslos auf einen anderen Apfel weichen, und watschelt dann mit der Beute in der Schnauze zufrieden zurück in den Wald. Wiederholt beobachte ich aus meinem Erdgeschossfenster unzählige Rehe, Rehsprünge von fünf bis zehn Tieren, aus nächster Nähe beim Grasen. Deutlich sehe ich ihre Anspannung: Zwei, drei Schritte, zwei, drei Bissen und schon heben sich gleichzeitig, als würden sie einer bis zur Erschöpfung geprobten, mittlerweile längst verinnerlichten Choreografie folgen, sämtliche Köpfe, schon suchen die Augen die Umgebung nach Gefahren ab, schon folgen die Ohren jedem Geräusch, um selbst ohne ersichtlichen Grund die Flucht zu ergreifen, in verschwenderischstem Tempo, dabei eine Kraft offenbarend, die mich, vermeintliche Bedrohung, mühelos überrennen könnte.
Auf dem Gelände wähne ich die Rehe in Sicherheit. Hinter den Maschendrahtzäunen aber, die mal durch Wälder, dann entlang von Kuhweiden verlaufen, die vielleicht niedrig genug sind, um übersprungen zu werden, oder an Stellen gerissen oder niedergetrampelt, die nur dieses scheue Wild von seinen Wanderungen und Erkundungen kennt, da lauern die echten Gefahren. Auf fünf stille Tage, an denen sie sich nachts höchstens vor einem verirrten Paar Scheinwerfer in Acht nehmen müssen, folgen zwei Tage, wenn der Parkplatz des Besucherzentrums voll ist und Ritas Suppen und warme Sandwiches serviert werden, wenn entspannt wirkende Anwohnerinnen und Angereiste von weiter her in großfamiliären Formationen armeschlenkernd über die Rasenflächen schlendern, wenn Hunde herumtollen und Kinder lauthals vom Beklettern der teils fragilen Skulpturen abgehalten werden müssen, zwei Tage, wenn in der Ferne immer auch ein stetes Grollen zu hören ist wie ein sich zusammenziehendes Gewitter. Dabei ist nie auch nur eine einzige dunkle Wolke zu sehen. Schießen die Jäger, die jenseits des schützenden Kessels aus Kunst, Kultur, Literatur und Architektur in Stellung gegangen sind, nur auf Rehe oder auch auf andere Tiere, Wildschweine zum Beispiel oder Enten? Wie viele es wohl sind, wie gut können sie zielen? Ihre Kanonade jedenfalls setzt im Morgengrauen ein und verstummt erst, wenn die Nacht hereinbricht, es bleibt kaum eine Sekunde still.
Als ich nach der Rettung der Schlange dabei bin, den Poolbereich wieder zu verlassen, im allerletzten Moment, mit wirklich dem allerletzten Blick, den ich schon im Gehen über die Schulter aufs hellblaue, sich im Wind kräuselnde Wasser werfe, halte ich inne. Nicht wenige herabgefallene Blätter (obwohl es warm bleibt, erkennen die Bäume die Jahreszeit und werfen nach und nach ihr Kleid ab), geflügelte Samen und Insektenleichen wiegen im Pool auf und ab, es ist also alles andere als ein Standbild, das da vor mir ausgebreitet liegt. Die Bewegung, die mich bremst, ist winzig, wenn ich mich recht erinnere, kaum mehr als eine Rührung. Was also ist an ihr dran, dass sie mir auffällt, mich anhält, umkehren und nachsehen lässt? Geht sie in die falsche Richtung, gegen den Wind quasi, was das Vorhandensein einer bislang verborgenen Kraft offenbart? Ist sie bei aller Winzigkeit doch zu stark, ähnlich vielleicht wie ein im unruhigen Gewässer schaukelnder Schwimmer den anbeißenden Fisch verrät, indem er einen Hauch mehr ausschlägt als auf gewöhnlichen Wellen? Oder ist es schlicht die Farbe? Eine Maus treibt im Pool, wohl unterkühlt und mit ihren Kräften am Ende, aber noch knapp am Leben. Ich nehme den Schaumstoffstab wieder auf und strecke ihn ihr hin. Welcher Unterschied zur ersten Rettung! Ohne auch nur den Bruchteil einer Sekunde zu zögern, klammert sich das ertrinkende Tier daran, bohrt die Krallen in den Schaumstoff und lässt sich gleich beim ersten Versuch mühelos aus dem Wasser ziehen. Ich setze die Maus auf dem warmen Beton ab. Ihr Bauch wölbt und senkt sich rasend schnell, das durchnässte Fell ist zu Büscheln verklebt, darunter kommen Streifen blasser Haut zum Vorschein. Ich ziehe mich auf die andere Seite des Pools zurück und betrachte sie aus der Ferne. Lange kauert sie regungslos da, dann versucht sie ein paar Schritte zu gehen, verliert dabei aber sofort das Gleichgewicht und überschlägt sich. Die Sonne brennt, der Nachmittag wird noch mindestens zwei Stunden warm bleiben, ich gehe, ohne noch mehr für sie tun zu können (und ich glaube auch: zu wollen). Die Neugier lässt sich allerdings nicht abschütteln, und nach einer Stunde kehre ich zurück, um nachzusehen. Die Maus ist nicht mehr da, entweder, wehrloses und zur Flucht unfähiges Opfer, von einem Raubvogel, einer Katze aus der Nachbarschaft oder sogar der Poolschlange verschleppt oder in ihrem Versteck und vorerst gerettet.
Während in der Küche mein Tee zieht, betrete ich das Kaminzimmer. Die Luft riecht abgestanden, aber so nah am Gefrierpunkt wage ich nicht, das Fenster zu öffnen. Im Halbdunkel sehe ich den Kreis aus dem weißbezogenen Sofa und den immer zu wenigen Sesseln, so dass, wer zu langsam ist oder zu spät kommt, mit einem der mäßig bequemen Esszimmerstühle vorliebnehmen muss, wenn rund um die Wochenenden der Literaturbetrieb zu Besuch kommt. In der Regel ist er auf diese amerikanische ansteckend-anstrengende Weise fröhlich, reicht die Hand, stellt sich vor und gelegentlich sogar eine Frage nach der Herkunft, falls der Name potentielle Exotik verspricht. Der Betrieb trinkt Alkohol auf Hauskosten (wir müssen unseren Wein stets selbst auftreiben und bezahlen), wird mit Snacks versorgt und kriegt eine ausführliche Führung durchs Haus. Abendkleid oder Krawattenanzug sind für uns nicht Pflicht, aber kleidsamer als am Schreibtisch werden wir schon gebeten zu sein, so dass solche Abende steif anfangen und es auch oft bleiben, bis entweder der Betrieb sich achtsam und einsichtig zeigt und gleich nach dem Nachtisch verabschiedet oder, wenn nicht, eine von uns dringliche Deadlines vortäuscht, sich erhebt und damit einen längst überfälligen kollektiven Exodus einleitet.
Aber falsch und auch noch ungerecht wäre es schon, die Schuld an der Steifheit allein dem Betrieb in die Schuhe zu schieben. Es fällt deutlich einfacher, an solchen Abenden entspannt zu bleiben, wenn ein amerikanischer Publikumsverlag die eigenen Bücher zufriedenstellend veröffentlicht oder wenigstens eine große Agentur lukrative Deals verspricht, wenn die Theaterstücke am Broadway oder in dessen unmittelbarer Nähe laufen, wenn man nur Lyrik schreibt und nicht auch noch ein Romanmanuskript in der Schublade hat oder wenn die Schreibsprache eine andere ist als die englische und keine Übersetzungen vorliegen oder geplant sind. Kurz und gut: Entspannt sind diejenigen, für die an solchen Abenden rein gar nichts auf dem Spiel steht. Während andere von uns auffällig lauter als nötig und gewohnt über die Witze des Betriebs lachen, einen größeren Redeanteil an sich reißen (und dafür sogar so weit gehen, Kollegen das Wort abzuschneiden), bei der üblichen am Anfang stattfindenden Vorstellungsrunde die Seiten ihres Schaffens, die gerade gefragt sind, betonen oder gar zur Überraschung aller Anwesenden hervorkehren: ein in Entstehung begriffener Roman gleich mit zwei starken weiblichen Hauptcharakteren, wenn die feministische Verlegerin oder der Agent, der die Zeichen der Zeit richtig liest, auf dem Sofa sitzt, ein Theaterstück, wenn jemand vom Broadway zu Besuch ist, oder Filme, deren Drehbücher man verfasst hat, wenn der Produzent aus Hollywood gerade geistesabwesend auf dem Smartphone rumscrollt. Natürlich ist Anbiederung unter den Blicken der Kolleginnen peinlich, so dass Bücher und Manuskripte verschämt bereits bei der Ankunft des Betriebs überreicht werden, wenn noch nicht alle versammelt sind, Stühle aus dem Esszimmer holen oder in eigene Gespräche verwickelt sind, wodurch mindestens das Gefühl entsteht, unbeobachtet zu sein (aber jemand beobachtet immer). Oder die Übergaben finden kurz vor der Abreise des Besuchs statt, konspirativ, draußen auf dem dunklen Parkplatz. Noch tagelang ist es Gesprächsthema, mitleidig, analytisch bis schadenfroh je nach Stimmung, Situation und Gesprächspartner, dass die Hollywoodproduzentin die Visitenkarte des Drehbuchautors einsteckte, aber im Gegenzug keine eigene gab, weil sie angeblich alle schon verteilt hatte.
An einem ähnlichen Abend wie heute, zu einer ähnlichen Uhrzeit und unter ähnlichen Umständen – alle bald in den Cottages verschwunden, die meisten Lichter gelöscht, das Ledig House leer –, nur bedeutend wärmer ist es, sitze ich im T-Shirt auf der Veranda unter einem ähnlich klaren Sternenhimmel und warte auf das Auftauchen der Scheinwerfer hinter dem Wald. Und da sind sie schon, schlängeln sich die Serpentinen hoch, streifen mich im Wenden und kommen zum Stehen. Mein Besucher steigt aus, wir umarmen uns, er hievt den Rucksack aus dem Kofferraum, übergibt einen Zwanzig-Dollar-Schein, dann verschwindet das graue Taxi wieder in der Nacht. Bald sitzen wir zu zweit am für uns viel zu riesigen Esstisch, stoßen mit Weinresten an, er schlingt das Abendessen hinunter, das ich auf einem Teller für ihn zur Seite gestellt habe. Danach führe ich ihn in die Bibliothek. Eine Lampe leuchtet die vermutlich etwas mehr als tausend Buchrücken in unterschiedlichsten Farben, Schriften und Sprachen aus, die sich in die deckenhohen Regale quetschen. Insbesondere die älteren Exemplare tragen Kleber, die die Werke als Eigentum des Ledig House ausweisen, in anderen finden sich Stempel mit dem gleichen Hinweis. Ein an der Wand über dem Drucker angebrachter Zettel bittet darum, entnommene Bücher in einer Kiste zu stapeln statt sie eigenhändig zurück ins Regal zu stellen. Trotzdem wäre es übertrieben zu sagen, dass die in den Büroräumen im ersten Stock untergebrachte Administration jede Anstrengung unternimmt zu verhindern, dass Werke der Schriftstellerinnen, die früher hier gearbeitet haben, von den sich jetzt hier aufhaltenden Schriftstellern mitgenommen und nie zurückgebracht werden (manche Bücher erreichen nicht einmal die Bibliothek, weil sie bereits von der Anrichte im Esszimmer verschwinden, die die Werke aktueller Aufenthalter versammelt). Immer wieder müssen Autorinnen, wenn sie nach Jahren wiederkommen, ihre alten Bücher nochmals mitbringen. Sie brüsten sich dann, nicht ohne Ironie, dass ihnen damit eine besondere Ehre zuteilwerde.
Wir nehmen Lektüre auf unsere Zimmer mit, löschen das Licht und legen uns nicht allzu spät schlafen.
Am nächsten Morgen koche ich Kaffee, schäume Milch, toaste Bagels, die Mikrowelle wärmt Reste auf. Autoren kommen und Autorinnen gehen, wie zuvor die Besucherin stelle ich jetzt den Besucher vor, Worte werden gewechselt, mal mehr, mal weniger. Während wir noch am Tresen sitzen und ich kauend von nahezu idealen Bedingungen fürs Schreiben schwärme, der Wärme, der Stille, den Tieren tatsächlich, dem für mich stimmigen Maß an Zurückgezogenheit und Austausch und ja, nicht zuletzt auch dem zeitlichen Hinterherhinken der Vereinigten Staaten, das dazu führt, dass ich die Nachmittage ganz für mich habe, von E-Mails aus dem sich feierabendlich entspannenden Europa verschont, fragt mich der Besucher, ob ich das alles hier, die geräumigen Schlaf- und Arbeitsräume, Rita, die Köchin, und den doppeltürigen, vollgestopften Kühlschrank, den Swimmingpool, sauber gemähten Rasen, die allerorts aufgestellten Wasserspender und was nicht alles noch, eigentlich verdient fände.
Und ich?
Schlage vor, dass wir gleich nach dem Frühstück einen Spaziergang machen.
Gesättigt werden wir loslaufen. Über Wald- und Wiesenwege werden wir die verstreuten Skulpturen ansteuern, wir werden eine Anhöhe erklimmen und dort ein Konzepthaus im Wind schweben sehen, das nur dann im Gleichgewicht ist, wenn es zwei ähnlich schwere Bewohner hat oder keinen. Im Besucherzentrum werden wir Salbeitee trinken. Das Taxi wird wieder vorfahren, der Besucher wird seinen Rucksack in den Kofferraum wuchten, wir werden uns zum Abschied umarmen, aus dem Amtrak Richtung Penn Station wird er mir ein Foto vom Hudson River schicken. Ich werde an den Schreibtisch zurückkehren, werde tippen, zu Abend essen, löschen, frühstücken, mich rasieren, abschicken, ratlos auf und ab gehen, mir die Fingernägel schneiden, die Stirn runzeln, irgendwann frösteln, trotzdem nur im T-Shirt nach draußen treten und unter einem klaren Sternenhimmel das Raunen eines Flugzeugs hören. Ich werde in der Küche Wasser aufsetzen, werde, bis der Tee gezogen hat, eine Runde durchs Kaminzimmer drehen, dann die Tür des Ledig House zurück ins Schloss fallen lassen, die Glocke abermals zum Bimmeln bringen, als ich das Fliegengitter zustoße. Mit schnellem Schritt werde ich die Nacht durchqueren, dabei etwas von meinem Tee verschütten, die Tasse neben mein Bett stellen, irgendein Buch aufschlagen und dabei sofort einschlafen. Ich werde weit weg sein und einen anderen Himmel sehen und andere Sternenbilder und mich erinnern, wie ich an der amerikanischen Ostküste einen warmen Oktober erlebte und eine einzige kalte Nacht.
Dmitrij Gawrisch, im Frühling 2018
In Erinnerung an Ed Maranan.