von Maria Schrader - Einleitung von Jan Schomburg
Stefan Zweig reiste 1936 nach Buenos Aires, um dort als Ehrengast am Kongress der internationalen P.E.N. (Poets, Essayists, Novelists) – Clubs teilzunehmen, das Thema des Kongresses: Der Schriftsteller und seine Rolle in der Gesellschaft. Der Kongress stand ganz im Zeichen des aufkommenden Faschismus in Spanien, Italien und Deutschland, wo immer mehr Schriftsteller verfolgt wurden. Obschon Zweig in düsterer Vorahnung des Kommenden seine Heimat Österreich bereits 1934 verlassen hatte, weigerte sich der jüdische Schriftsteller, auf dem Kongress gegen das Deutsche Reich zu sprechen. Die Gründe für diese erstaunliche Weigerung legte er in mehreren Interviews dar, in denen er über die Frage spricht, wie sich der Intellektuelle bzw. der Künstler in einer Zeit verhalten kann, in der differenzierte Grautöne scheinbar immer unmöglicher werden. Die Interviews dienten Maria Schrader und Jan Schomburg als Grundlage für eine lange Interviewszene im Film ›Vor der Morgenröte‹, der ab dem 02. Juni 2016 im Kino zu sehen ist und in dem Josef Hader Stefan Zweig verkörpert.
INNEN. KONGRESSHOTEL, CONFERENCE ROOM - TAG 6 *
(Ein etwa 40 Quadratmeter großer Raum, in der Mitte ein runder, niedriger Tisch, kreisförmig darum bequeme Sessel. Rauchschwaden hängen in der Luft.)

Finalmente!
(Zwei Reporter erheben sich aus den Sesseln, zwei weitere stehen am Fenster, ebenso drei junge Frauen, wie Sekretärinnen gekleidet. Ein rasches Händeschütteln, man stellt sich vor, auch von den Reportern wird Zweig mit großem Respekt behandelt.)
JOSEPH BRAININ
Bitte nehmen Sie Platz. Am besten hier.
(Zweig setzt sich in einen der Sessel. Neben Gläsern und Tapas steht ein Fotoapparat auf dem Tisch. Er betrachtet ihn genauer.)
ZWEIG
Beeindruckend.
MARTINEZ
(in gutem Deutsch) Ein Apparat aus dem letzten Jahr. Und wo kommt er her? Aus Deutschland. Zeiss.
ZWEIG
Und Sie waren auch in Deutschland?
MARTINEZ
Nein, nur auf einer guten Schule.
FRIEDMAN
(ebenfalls deutsch) Wasser, Doktor Zweig?
ZWEIG
Gern. Also sprechen wir Deutsch?
FRIEDMAN
Mein Deutsch beendet sich leider bei dem Speisekarte, aber haben wir prepared Übersetzungen.
(Die Frauen lächeln und nehmen jetzt auf schmalen Brettstühlen zwischen den Sesseln Platz.)
ZWEIG
Dann fangen wir an, meine Herren.
(Die Damen wie die Herren nehmen Schreibgeräte und Papier bzw. ihre Aufzeichnungen zur Hand. Martinez macht ein Foto, Zweig lächelt.)
ZWEIG
Ach, und Herr Martinez, Sie schreiben für La Prensa, habe ich das richtig verstanden?
MARTINEZ
Für La Prensa, ja.
(Unverständnis bei den Kollegen, ein Lächeln bei Martinez.)
BRAININ
Meine Herren, Sie gestatten, dass ich anfange?
(Eine rein rhetorische Frage, Brainin wartet keine Antwort ab.)
BRAININ
Herr Doktor Zweig, welche politische Bedeutung kann Ihrer Meinung nach ein Kongress von Schriftstellern haben?
ZWEIG
Zehn Tage lang versammeln sich achtzig Schriftsteller aus fünfzig Nationen. Das ist eine enorme geistige Potenz, auch wenn der P.E.N.-Club in jeder materiellen Hinsicht eine kleine Organisation ist.
(Die Journalisten haben sich zu ihrer jeweiligen Übersetzerin geneigt und schreiben mit. Die simultanen leisen Stimmen verleihen der Atmosphäre eine besondere Konzentration.)

Vergleichen Sie uns mit einem winzigen Passagierschiff, das zwischen Schlachtschiffen, Zerstörern und Flugzeugträgern die Weltmeere durchkreuzt. Aber die Fahne, die wir hissen, ist von immenser Bedeutung. Es ist die Fahne der Gedankenfreiheit, der freien Meinungsäußerung und der Völkerverständigung. Es ist die weiße Fahne. Und ich bin heute mehr denn je ihr ergebener Träger.
BRAININ
Herr Zweig, am 26. August hat die...
SANCHEZ
Perdón...
(Brainin lässt ihn gewähren.)
SANCHEZ
(spanisch) Señor Zweig, Sie und Ihr Kollege Emil Ludwig sind auf diesem Kongress die einzigen Vertreter der deutschsprachigen Literatur. Wie stehen Sie zu den jüngsten Vorgängen in Deutschland?
(Eine Dame übersetzt für Zweig ins Deutsche. Zweig wartet es ab, auch wenn er die Frage längst verstanden hat.)
ÜBERSETZERIN
...sprachigen Literatur. Wie stehen Sie zu den jüngsten Vorgängen in Deutschland?
ZWEIG
Ich bin seit vier Jahren nicht mehr in Deutschland gewesen.
GUDNASON
(französisch) Aber Sie verfolgen die Ereignisse, sind in Kontakt mit Leuten, die Deutschland verlassen haben?
(Die Übersetzerin will wieder ansetzen, Zweig winkt freundlich ab. Er rutscht unwohl in seinem Sessel hin und her.)
ZWEIG
Menschen, die Deutschland verlassen haben oder nur besuchen, können nicht wirklich etwas über die dortigen Vorgänge wissen... ob sich neue Bündnisse ankündigen und die ganze Situation vielleicht auf den Kopf stellen. Ich war gerade zehn Tage in Brasilien, ich könnte nicht sagen, ob die Bevölkerung mit Präsident Vargas zufrieden ist, auch wenn ich auf den ersten Blick diesen Eindruck hatte...
BRAININ
(empört) Aber ich bitte Sie, wie können Sie Hitlerdeutschland mit einer gemäßigten Regier...
(Mehrere Reporter beginnen zu sprechen, einige ebenfalls aus Unverständnis über Zweigs Äußerung, andere um Brainin zu bändigen, der sich im Ton vergriffen hat. Der Bedachteste setzt sich durch.)
MARTINEZ
(spanisch) Señores! In Ruhe, einer nach dem anderen. (deutsch) Herr Brainin, bitte sehr.
BRAININ
(atmet durch) Heute auf den Tag genau wird in Nürnberg der achte Reichsparteitag eröffnet.
ZWEIG
Ich weiß, Herr Brainin... Was ist Ihre Frage?
(Die qualmenden Zigaretten, die übergeschlagenen Beine - das brisante Thema macht aus dem Interview eine Anhörung.)
BRAININ
Vor zehn Tagen, am 26. August wurde bekannt gegeben, dass die Dienstpflicht für die gesamte Wehrmacht auf zwei Jahre erhöht wird. Man hat mit dieser Mitteilung bewusst das Ende der Olympischen Spiele abgewartet. Es lassen sich daraus gewisse Schlüsse ziehen...
ZWEIG
Das ist richtig.
(Stille. Alle Augen ruhen auf Zweig. Brainin hat einen roten Kopf.)
BRAININ
Welche Schlüsse ziehen Sie daraus, Doktor Zweig?
ZWEIG
Was Deutschland betrifft, sind Prophezeiungen unmöglich. Jede schon geäußerte Prophezeiung hat sich als Fehleinschätzung erwiesen. Ich werde keine Prophezeiung machen.
MARTINEZ
(in seinem gepflegten Deutsch) Doktor Zweig, ich liebe Ihre Werke und ich liebe die deutsche Sprache. Pflichten Sie mir bei, wenn ich sage, dass Deutschland einen Krieg vorbereitet und sich auf dem Weg in die Barbarei befindet?
ZWEIG
Herr Martinez, ich lese die Zeitungen und es bereitet mir Qualen. Aber wir, die wir nicht radikal sein können, dürfen uns nicht gestatten, auf das geistige Niveau unserer Widersacher abzusteigen. Ich werde nicht gegen Deutschland sprechen. Ich würde nie gegen irgendein Land sprechen. Und ich mache keine Ausnahmen.
(Er greift nach seinem Glas Wasser.)
GUDNASON
(französisch) So muss die Politik ohne Ihre Stimme auskommen? Und somit auch die Opfer der Politik? Der Kongress debattiert heute über die Funktion des Schriftstellers in der Gesellschaft. Was ist Ihrer Meinung nach diese Funktion?
ZWEIG
Der Intellektuelle sollte sich seinem Werk widmen, das ist sein Bereich von größter Einflussnahme. Ich beginne, die Politik zu hassen, weil sie zum Gegenteil der Gerechtigkeit wird, weil sie das Wort an das Schlagwort verrät. Intellektuell sein heißt, gerecht zu sein, Verständnis für sein Gegenüber aufzubringen, für Oppositionelle und Gegner. Ein Künstler kann ein Werk von politischer Dimension schaffen, aber er kann die Massen nicht mit politischen Parolen versorgen, unter denen sie sich zusammenrotten könnten. Meine persönliche künstlerische Stärke kommt aus dem positiven Gedanken. Ich kann nur für etwas schreiben, ich kann nicht angreifen. Aus Hass kann ich nicht schreiben. Und wenn das... wenn mein Schweigen ein Zeichen von Schwäche ist, so fürchte ich, muss ich mit diesem Stigma leben.
FRIEDMAN
(englisch) Franz Werfel hat mit ›Die Vierzig Tage von Musa Dagh‹ über die politische Gegenwart geschrieben, ohne seine künstlerische Integrität zu opfern.
ZWEIG
Franz Werfel hat über den armenischen Widerstand von 1915 geschrieben. Und unsere ‘politische Gegenwart’ verleiht seinem Buch eine plötzliche Brisanz, die man wohl getrost eine glückliche Fügung für den Verleger nennen kann.
(Er schaut auf die Uhr, ein kurzer Blick zur Tür.)
ZWEIG
Ich erlaube mir, das zu bemerken, weil ich weiß, wie sehr Werfel das Schicksal der armenischen Waisenkinder erschüttert hat. Sie waren der Ausschlag, diesen Roman zu schreiben. (Forts.) Nie hätte sein Werk eine solche Kraft entfalten können, hätte er diese Kinder nur benutzt, um eigentlich über Adolf Hitler zu schreiben.
MARTINEZ
Kann man dieses Werk mit Ihrem Erasmus von Rotterdam vergleichen?
ZWEIG
Ich würde mich darüber freuen. Europa ist heute zwischen Faschismus und Demokratie eingeklemmt, damals teilte es sich in Protestantismus und Katholizismus.
(Endlich kann Zweig über seine Arbeit sprechen. Emphase mischt sich mit seinen Worten.)
ZWEIG
Erasmus stellte sich zwischen die Fronten und versuchte, die Welt wieder zu einen. Und wir, die wir an ein zukünftiges Europa glauben, sollten uns an diesen ersten Europäer, diesen begeisteren Anhänger des Friedens einnern, auch wenn er gescheitert ist.
(Ein schüchternes Räuspern. Antonio Aita ist unbemerkt in den Raum gekommen und steht an der Tür. Martinez hebt die Hand und deutet ihm an, dass es nicht mehr lange dauern wird.)
MARTINEZ
Sie glauben also, dass ein friedliches Europa möglich ist?

Ja, ich glaube an ein freies Europa. Ich glaube und hoffe, dass Grenzen und Pässe eines Tages der Vergangenheit angehören werden. Ich bezweifle allerdings, dass wir das noch erleben werden. Mein Pessimismus, was die unmittelbare Zukunft angeht, war bis jetzt leider immer berechtigt. Ich kann meine Hoffnung nur auf die großen Bewegungen setzen, die sich durch Jahrhunderte ziehen. Für mich, und demnach leider auch für Sie, Gentleman, werden sie wohl zu spät kommen.
(Während die Journalisten noch den Übersetzerinnen lauschen, nutzt Zweig den Moment und erhebt sich. Brainin springt ebenfalls auf, sichtlich uneinverstanden, das Interview jetzt schon zu beenden. Martinez klappt schweigend seine Notizen zu, Zweigs Worte haben ihn berührt.)
ANTONIO AITA
(französisch) Ich bitte um Ihr Verständnis, meine Herren, aber nebenan beginnt die Sitzung und Monsieur Zweigs Anwesenheit ist unbedingt erforderlich.
ZWEIG
Vielen Dank für Ihr Gehör, Señor Martinez, Mister Friedman...
(Er gibt allen Reportern die Hand.)
GUDNASON
Es war uns eine Ehre.
SANCHEZ
Muchas Gracias, Dottore.
(Er will ihm die Hand geben, aber Brainin nimmt seine Tasche.)
BRAININ
Ich begleite Sie hinaus.
(Wie gewohnt hält Aita die Tür auf.)

Diese Erinnerungen eines Europäers zeigen noch einmal die Gelöstheit und Heiterkeit Wiens und Österreichs in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, die Welt der Sicherheit, die Stefan Zweig selbst wie einigen, wenn auch nicht allen, die individuelle Freiheit zu garantieren vermochte; sie zeigen Glanz und Schatten über Europa bis zum Sonnenuntergang, bis zu Hitlers Machtausübung, bis Europa »sich zum zweiten Mal selbstmörderisch zerfleischte im Bruderkriege«. Stefan Zweig hat »die Welt von Gestern« als Zeitzeuge aufgezeichnet und dabei nicht so sehr sein eigenes Schicksal festgehalten, sondern das seiner Generation; er hat mit diesem Buch, weit über das Persönliche hinaus, ein Kompendium der geistigen Welt in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts erstellt.