Und lauthals schreiben, ungehemmt,
Solang der Schneematsch grollt und schäumend
Als rabenschwarzer Frühling brennt.
Die Kutsche: ein paar Münzen geben,
Durch Glockenton und Räderruf
Dorthin enteilen, wo im Regen
Verstummt die Tintentränenflut.
Wo Krähen, Birnen gleich und Kohlen,
Von Bäumen stürzen und als Schwall
In Pfützen landen; ganz verstohlen
Versinkt im Auge trockne Qual.
Sie schwärzt die aufgetauten Stellen,
Von Schreien ist der Wind durchkämmt,
Aus Zufall nur, doch stetig quellen
Gedichte – lauthals, ungehemmt.
1912
Übersetzt von Christine Fischer
Moskau [23.7.1910]
Erinnerst Du Dich noch an den Mittag, als der Hund schrie und die Engels verschwanden. Der Abend rückte rascher vor als wir; aus irgendeinem Grunde waren wir träge. Erinnere Dich auch daran, dass wir von dieser selbstbewusst baumbesäumten Landstraße nach links abbogen und Du erklärtest – ein Märchen sollte ich Dir erzählen; das war, als der Staub sich gelegt hatte und die Engels verschwunden waren. Auch wenn Du lediglich gescherzt hast, bleibt es sich doch gleich, denn selbst scherzend warst Du im Recht: Ich geriet immer tiefer in Deine Schuld, und es war eine märchenhafte Schuld. Da wollte ich Dir das Märchen von der Stadtgrenze erzählen, von jener Stadtgrenze, wo ich mich in jenem Augenblick befand, wo die Straße, im Stadtinnern doch so schlicht, vertraut, sich selbst gewohnt, regelrecht zugepflastert, begraben unter der Gewohnheit der Gehsteige – wo die Straße am Ende der Stadt, der Landstraße das Geleit gebend, tiefe Erschütterung erfährt, wo sie mit Staubwolken, erregt, dem an grüner Leine geführten Horizont zuwinkt, wo sie sich selbst untreu wird und sich, zwar weiter rollender Nachhall der Stadt, rührselig in Einstöckigem und Hölzernem verliert, als Ausdruck höchster Zärtlichkeit. Dies könnte leicht für provinziell gehalten werden, wie auch Zärtlichkeit leicht mit Einfalt oder Naivität verwechselt wird, aber das Aristokratische einer solchen Stadtgrenze, einer solchen Bannmeile liegt darin, dass hier das Getöse der Plätze und Straßenpflaster erstirbt – sie haben sich satt geredet, dass diese Musik tausendfältigen, millionenfältigen Lebens erstirbt, dass hier Schweigen herrscht und nicht Gestammel. Aber all dies ist unwichtig; überhaupt, ich schweife ab, und Gott sei Dank; Du wirst noch sehen, wie unerträglich schwer es mir fällt, nicht vom Wesentlichen abzukommen. Weiter in der Abschweifung: von der Bannmeile des Geistes will ich sprechen, von jener Bannmeile, wo die Straßen zusammentreffen, wo sie ihre Begegnung der Grenze verdanken, welche nicht mit Wörtern gepflasterte, geistige »Räume« eröffnet, und wo diese Straßen zum äußersten Randbezirk werden, zu Aushängeschildern, die auf Wiesenraine mit leeren Konservendosen starren, zu Aushängeschildern, die vom Stadtrand in die Natur der Gemüsegärten hinabsteigen, dem Himmel entgegen, als wär’ er Johannes der Täufer; und von der Stadtgrenze will ich sprechen, wo all dieses redende, rollende Getöse der Kolosse aufgeht in der Zärtlichkeit, teilzuhaben an ein und derselben Scheidelinie. Ich werde Dir wohl einmal diese »Stadtgrenzen« zeigen, das, was bereits entstanden ist und was noch kommen wird. Nun denn, ich hätte Dir das Märchen von den zwei Kreiseln erzählen können, die zu gleicher Zeit zu singen und zu tanzen begannen, als sie an der Stadtgrenze freigesetzt wurden. Aber ich mochte nicht erzählen, weißt Du, ich war ein wenig gereizt: Ich wusste, Du, neben mir, und so feinfühlig, dass man darin versinken konnte, Du erlebst mit mir dieses Anstürmen der Umgebung, das noch stärker ergreift als Schönheit, und in Dir glüht eine fast weihevolle Hingabe an dieses Anstürmen, dieses Näherrücken, das wir so kurz – das Lyrische nennen; wenn man spürt, man selbst ist ebenfalls im Aufbruch; und wenn man diesem ruhigen Schreiten eines keinesfalls tragischen Fatums (fast löst es Freude aus, dass man irgendwohin gehört) den Takt schlagen möchte, indem man Zeugnis ablegt von den Aufbrüchen in der Natur und in einem selbst. Was uns abverlangt wurde, Dir und mir, war von gleicher Art: Wir schuldeten beide freudige Hingabe, doch musste ich diese Schuld löschen, Du aber bloß gehen und zuhören, was auch aus folgendem Grund ungerecht war: Wenn Du nur wüsstest, wie Du, Dich ausbreitend, als ferne, ferne Schuld in meinem Innern aufbrachst. Das hat einen Namen, solch ein Zustand. Verstehst Du, Du warst freier als ich, Du gehörtest nur Deiner eigenen Welt; ich aber gehörte vor allem Dir, Dir als lautlosem Ereignis, welches mit einem Wort nur, durch sein bloßes Dasein, Fragen stellte – Du selbst warst bloß da, schwiegst und fragtest nicht. Nun aber, heute, will ich Dir sagen, dass Du mir dieses Märchen erzählt hast. Es begann im Zug; ein Märchen, fast außer Rand und Band geraten, ein Märchen von einer sechshundert Werst weiten Nacht am Fenster, wo zahllose Orte im Laternenschein aufspringen, wo bald jählings, bald hypnotisierend einen ständig erneut befällt, dass Du nicht da bist, wo Du nicht aufbrechen kannst, und sei es als Ereignis, und wo immer nur wieder Deine Abwesenheit zu messen und wahrzunehmen ist. Und jetzt auch noch diese brüchige, hohle Stadt!
Was soll ich Dir sagen, liebe Olja? Ist denn der Brief, den ich Dir hier schicke, der einzige Brief? Und warum ist er besser als die anderen, aus denen Du erfahren solltest, dass ich auf allen Bahnstationen zu jenem letzten wagon-lit lief, der als Dein Traum dastand – weißt Du noch, Du sagtest: Von ihm werde ich heute träumen. Und stell Dir vor, kein einziges Mal hatte er den Bahnsteig erreicht, jedesmal musste ich unter der Überdachung am Bahnsteigende hervortreten; dort hörte der Asphalt auf, dort standen Deine heroischen Wassertonnen, und ein Stück abgerupftes schwarzes Gras lag als Wappen auf dem Sand. Sämtliche Linien des Waggons waren in eine sesshafte, unbahnhofmäßige Nacht eingegraben, dieser Waggon war abgeschnitten, er gehörte Deinem Traum, stand da, träumte Dir. Bei einem fünfminütigen Halt geht nie jemand über das Bahnsteigende und die Wasserzapfstelle hinaus, dorthin, wo die Waggontüren mannshoch über den Gleisen liegen. Und deshalb auch fand ich kein rechtes Verhältnis zu dieser Eisenbahnnacht.
Hat denn nicht das Wetterleuchten eine Vorstellung gegeben? Lange Zeit bettete es sich in die Wolken, grub sich hinein, bebte in ihnen wie ein Nachtfalter; dann wieder wischte es über die gesamte Wolkenlinie, als wäre sie eine von phantastischen Flecken beschlagene Glasveranda. Und womit tat es das? Mit einer weißblauen Flamme, welche die Bahnwärterhäuschen wanken machte; sie hätte all die ausgefransten schwarzen Fäden der Staketenzäune, Kisten und über die Gleise schreitenden Streckenwärter einfädeln sollen in die Nadeln der Gleise, aber sie traf daneben. Doch zum Teufel mit diesen rüde herumstöbernden Wolkenhänden, welche die Haltestellen und Ebenen befingerten. Haben denn nicht auch die Abläutesignale eine Vorstellung gegeben? Rotblonden Einsiedlern gleich, tauchten sie kurz auf den Bahnstationen auf, dann kamen aus den Wartesälen Menschen gerannt, aufgescheucht, ohne Hüte, die Kragen hochgeschlagen; die rechteckigen Lichterketten zerteilten diese Menschenmenge, und in jeder Parzelle trieben die Lichter Schatten unter die Räder, unter die Puffer zur Tränke. Ja, alles wurde einfach hinweggefegt von dieser unerträglichen Nacht.
Ich schrieb Dir im Zug; in Tschudowo oder bei Tschudowo warf ich den Brief in einen Fluss. Dann wurde dieser grauenhafte Zustand derart akut, dass ich auf einer Station Alkohol kaufen ging, der Betäubung wegen; doch selbst diese gehörige Dosis änderte nichts und wirkte überhaupt nicht, ich stand weiterhin am Fenster und setzte mich erst morgens, kurz vor Moskau, ein wenig hin. Und Moskau? Die Stadt berührte mich nicht im Geringsten, sie brachte nichts ins Lot, im Gegenteil, sie stieß mich von sich ab, weil hier die Entfernung von Petersburg ihr Maximum erreicht hatte (was ich da sage, ist eine abgeschmackte Unwahrheit); besonders verhasst und fremd waren mir all diese Orte, da sie nichts von Dir wussten, keinen Bezug zu Dir hatten (und nur das ist die Wahrheit). Ich hatte nicht das Bedürfnis, den Reisekorb auszupacken, und voll Gleichmut dachte ich an den vergessenen Schlüssel; man schloss mir auf, ich trat ein – der bekannte Geruch, verbunden mit früheren Ankünften und der Musik ersten herbstlichen Wiedersehens mit der Stadt; dieser bekannte Geruch walzt, wie ein Farbwerk, Vergangenheitsschichten über Dein »Jetzt«, und da möchte man sich in die Musik hineinschmiegen und sich in lyrischen Chiffren ausprägen. Was ich auch tue. Eine Art Legende kommt dabei heraus; es frappiert mich geradezu, wie viele ungeahnte Straßenkreuzungen und winklige Gassen diese Musik der Improvisation enthält, diese abendliche Stadt, deren unbekannte Gestalten vor Deiner Droschke scheuen.
Traurig teilt der Droschkenkutscher an allen Straßenecken die Menschenmenge, als schiebe er einen lebendigen Gleitverschluss auseinander; er klappt die Fassaden auf und klappt sie zu, als wären es dreidimensionale Türen feuerfester Kassaschränke. Feuerfest sind sie, ja, denn an ihnen züngeln die Flammen der Lampen und Gaslaternen, die von Bierlokal zu Bierlokal hüpfen. Der Droschkenkutscher schließt hinter sich Wände und Plätze und schwimmt von einem Bahnhof zum anderen, ans jenseitige Ende der Stadt. Als ich soeben improvisierte, steuerte ich, im Halbschlaf, genauso aufs »jenseitige Ende« der Musik zu, und meine ganze Improvisation war wie eine lyrische Translokation nach Petersburg, vielleicht war es der Ismailowski-Prospekt. Kurz gesagt, ich suchte etwas mit Dir Verbundenes; ich las noch einmal den Brief, den Du mir nach Merreküll geschickt hast. Darin schreibst Du von einem anderen Brief, der noch auf Deinem Schreibtisch liegt und ein Thema aus einer anderen Oper betrifft; mir wurde weh zumute, und zwar derart, dass ich aus dem Haus lief bei dem Gedanken, ich hätte Dich in Petersburg um den Brief bitten können und habe es nicht getan. Fedja war draußen vor der Stadt. Andernfalls hätte ich ihn auf allerlei »Mutmaßungen« gebracht durch mein einseitiges Erzählen vom Sommer, mein Erzählen von Dir. Und immer weiter steigerte sich diese unerträgliche Schwermut. Ich fuhr zu Serjosha, an den Rand der Stadt. Er saß am Fenster; doch plötzlich begriff ich, dass es in Moskau nichts und niemanden gibt, rein gar nichts Lebendiges; ich ging nicht einmal zu ihm hinein, fuhr wieder weg. Ich trat vor ein Restaurant, vor einen Kinematographen, ein Buchgeschäft, vor meine Hefte, vor alles – und trat doch nirgends ein.
Dann wurde ich auf einmal zum Kind, legte mich völlig entkräftet auf die Matratze und weinte, wie in der Odessaer Kindheit. Und schließlich, ungeheuer langsam zwar, wurde es Nacht. Und ich empfand nichts als Entsetzen, was soll bloß werden, was wird das für ein Leben? Jetzt aber ist bereits Freitag. Guten Morgen, Olja, wie geht es Dir nach dem Spaziergang durch die fürchterlichsten vierundzwanzig Stunden meines Lebens? Du hast sie keine einzige Sekunde lang verlassen. Und nun fragst Du wohl, was das alles soll. Folgendes will ich Dir sagen.
Ich sprach zu Dir von der Kindheit der inneren Welt, die uns verbunden hat. Womöglich sprach ich nicht einmal davon, sondern hörte nur Deinen Erinnerungen zu. Diese Romantik der geistigen Welt, welche der Kindheit eigen ist und im Alter von fünfzehn bis sechzehn Jahren kulminiert, greift jedoch allmählich auf die äußere Welt über, welche wir bis dahin nur beobachtet haben, deren charakteristische Züge wir erfassten, nachahmten und, so gut wir konnten, zum Ausdruck brachten. Jetzt, in diesem neuen Stadium, sind die Stadt, die Natur und die Menschenleben, die an uns vorüberziehen, nur insofern real, werden uns als solche nur insofern bewusst, als sie jene Geistesfunktion betreffen, die dazu dient, mit ihnen umzugehen; nur insofern sind sie real, als wir sie als Gegebene ansehen, als sie unserem Leben gegeben sind. Wenn Du möchtest, Olja, kann ich Dir die Realität klar und eindeutig als bloßes Stadium definieren. Dazu bedarf es jedoch vieler Sätze, die nicht hierhergehören, denn ich will ja nur, für Dich und für mich selbst, klären, was für ein Schmerz das ist, den ich um Dich empfinde. Aber ist es denn wirklich so, dass ich mit dem, was mich umgibt, nur umgehe? Die Gegenstände hören manchmal auf, klar umrissen und fertig zu sein, also Dinge, die abgetan sind. Die das gemeine Bewusstsein, das gemeine Leben ein für allemal abgetan hat – jenes Leben, in das Margulius sich flüchtet. Dann werden sie (wobei sie für meinen gesunden Menschenverstand real bleiben) zu nichtrealen, noch nicht realen Bildern, für die die Form einer neuen Realität kommen muss, analog zu der früheren Form des gesunden Menschenverstands, die die Objekte abgetan hat. Diese neue Form ist dem Menschen versagt, nicht versagt ist ihm jedoch, nach dieser Form zu streben, auf sie Anspruch zu erheben (als lyrisches Gefühl macht dieser Anspruch sich bemerkbar, als Idee wird er bewusst). Ach, Olja, wie schwer es ist, davon zu sprechen!!
Erinnerst Du Dich, Derartiges ging mit mir vor (und mit Dir anscheinend auch), als wir auf einmal in Petersburg waren. Damals in der Droschke schien diese Stadt ein unendlicher Inhalt ohne Fabel zu sein, eine Materie, übervoll des allerphantastischsten Inhalts, eines dunklen, unsteten, fieberhaft erregten Inhalts, der auf uns zustürzte, um sich ein Sujet, einen lyrischen Gegenstand, ein lyrisches Thema zu verschaffen. Falls Du es akzeptierst, die Stadt und überhaupt alles Objektive auf diese besondere, außergewöhnliche Art wahrzunehmen, und falls Du dieses Besondere lebhaft empfindest, so verstehst Du mich, wenn ich sage, dass künstlerisches Schaffen, aus einer solchen Stimmung heraus, nicht das Charakteristische festhält, nicht beobachtet, sondern nur, auf die eine oder andere Weise, die Tatsache konstatiert, dass die Verben wie auch die Substantive der erlebten Welt, die leibhaften Substantive und Verben, zu Adjektiven geworden sind, zu einem wirbelnden Strudel von Qualitäten, welche rückbezogen werden müssen auf einen Träger höherer Ordnung, auf den Gegenstand, auf das Reale, das uns nicht gegeben ist. Und zwar nicht auf den Gegenstand des religiösen Gefühls, sondern auf den Gegenstand der lyrisch-schöpferischen Begeisterung oder Trauer (d.h. in ihrer wichtigsten Bestimmung, dem Lyrischen, sind beide sogar identisch). Ich sagte Dir bereits, dass der Vergleich, wie mir scheint, zum Ziel hat, die Gegenstände aus der Verfügungsgewalt des Lebens oder der Wissenschaft zu befreien und sie zu freien Qualitäten zu machen; das reine, von sonstigen Elementen bereinigte künstlerische Schaffen übereignet die leibeigenen Erscheinungen einem anderen Besitzer, es überführt sie aus der Verfügungsgewalt der Kausalität, aus der Schicksalshörigkeit – wie wir sie gewöhnlich erfahren – in anderen Besitz; nun sind sie nicht mehr vom Schicksal, vom Gegenstand und vom Nomen des realen Lebens abhängig, sondern von einem anderen Gegenstand, der als solcher gar nicht existiert und den wir lediglich postulieren, wenn wir eine derartige Wandlung alles Beständigen in Unbeständiges, aller Gegenstände und Handlungen in Qualitäten erleben, wenn wir das Wahrgenommene in völlig anderer, qualitativ anderer Abhängigkeit erleben, wenn das Leben selbst zur Qualität wird. Und um ein für allemal mit diesen langweiligen Erörterungen Schluss zu machen, will ich Dir noch Folgendes sagen: Genauso wie es die einmalige Inspiration gibt, gibt es auch ein inspiriertes Wahrnehmen des Objektiven; dann werden all diese Spaziergänger auf der Strelka oder der Abend auf dem Ismailowski-Prospekt zu verlassenen, herrenlosen, traurigen und deshalb legendären Qualitäten ohne Gegenstand. Diese gegenstandslose Phantastik ist verhängnisvoll und vergänglich, und die Kausalität, der sie unterliegt, ist – der Rhythmus. Sie rückt heran, wird hinweggefegt von der Zeit, und rückt wieder und immer wieder heran.
Gewöhnlich war ich mit alledem allein; alle Menschen, die mir nahekamen (und einige von ihnen habe ich sehr geliebt und liebe sie noch), alle diese Menschen fand ich dort, im Objektiven, und beides wurde sogar identisch: die Liebe und ein solches Verhältnis zur Romantik der Qualitäten. Ich verliebte mich also in Petersburg und Eure vielfältige Familie, besonders in Dich und Deinen Vater, verliebte mich in die tiefe Phantastik von Charakteren, die ich noch nicht entschlüsselt habe – von diesem Gefühl sprach ich zu Dir. Aber Du weißt noch nicht, wie ein anderes, ein quälendes Gefühl für Dich mehr und mehr in mir wuchs und mir plötzlich bewusst wurde; als Du so teilnahmslos nebenher gingst, konnte ich es nicht in Worte fassen. Es war ein Gefühl von außerordentlicher Nähe, als ob wir, Du und ich, gemeinsam ein und dasselbe liebten, das uns beiden aber gleichgültig gegenüberstand, das uns fast im Stich gelassen hätte, so wenig fand es sich im realen Leben zurecht. Jetzt habe ich Dir jedoch gesagt, dass es ein Tätigsein gibt, welches an die Stelle des Beobachtens tritt, dass man das Leben als Qualität von Gegenständen erleben kann, welche die Gegenständlichkeit des Realen verlassen haben (oh, wie langweilig das für Dich ist, und wie schwer, es in Worte zu fassen!) – hatte dies nicht auch von Dir Besitz ergriffen? Wenn ja – mein Gott, was war das dann für ein Sektierertum zu zweit! Nun aber schiebe all das beiseite. Ich werde mich bestimmt nicht so bald daran gewöhnen, dass ich auch allein lieben und allein über dies alles nachsinnen kann. Völlig unerträglich ist mir, wenn ich an das niederdrückende Gefühl denke, einem Leben zugeeignet und zu eigen zu sein,welches den höheren Gegenstand einfordert und seinerseits der Stadt, der Natur, also allem zugeeignet ist – völlig unerträglich ist mir dann, dass ich in diesem Gefühl ebenso weiblich, das heißt abhängig, bin wie Du und dass Du in ihm ebenso tätig, bewusst und lyrisch-mannhaft bist wie ich. Ich weiß nicht, ob es sich tatsächlich so verhält, und ich bekäme gerne eine Antwort. Aber selbst wenn Du alledem fernstehst: begreifst Du, weshalb ich diesen zehrenden Schmerz um Dich empfinde und was für ein Schmerz das ist? Selbst wenn man liebt, kann man die Straße überqueren und sich von der anderen Seite seine Gefühlswallung anschauen; doch was mich mit Dir verbindet, das lässt sich nicht aus Distanz betrachten.
Ach, Olja, da habe ich nun viele, viele Worte geschrieben. Ich wollte mich mit dieser Artillerie vor einem Missverständnis schützen, das bitter gewesen wäre. Schließlich hättest Du etwas anderes denken können, wenn ich nur gesagt hätte, dass mir alle hier fremd geworden sind, dass ich zu zittern anfing, als ich am Fenster einen Fetzen von einer Petersburger Zeitung erblickte, und dass ich Dich anflehe, mir zu schreiben, irgendetwas, und sei es eine Postkarte(!!!), jedenfalls bald, jetzt gleich – und nach Moskau zu kommen! Olja, sag, kann ich Dir so schreiben? Und fürchte nicht, mich zu verletzen. Wenn Du eine andere bist, musst Du das sagen; ich habe mich ja nun ein wenig mitgeteilt, vielleicht fällt Dir danach das Schreiben leichter. Womöglich ist das Ganze ein Geständnis, eine Liebeserklärung an Merreküll, an unsere Reise, den ersten Abend, Onkel Mischas Geburtstag (als ich bei Dir Hilfe suchte), an die Strelka, Petersburg, Dich in alledem, den Bahnhof, an alles, was uns beiden, Dir und mir, unablässig gegeben wurde – und nun erst zum Schluss das Geständnis in seiner ganzen Schwere, das ganze Geständnis.
Siehst Du, ich kann nicht schreiben. Aber ich hatte Dir viel zu erzählen, Dich vieles zu fragen; als ich begann, unterbrachst Du mich nicht, stelltest keine Fragen, nahmst keinerlei Anteil; ich merkte, dass es für Dich wohl nicht interessant war, und ließ bald von meinem Vorhaben ab. Und jetzt bitte ich Dich, mir auch dieses theoretische Proseminar zu verzeihen. Ich drücke Dir lange, lange die Hände und küsse Dich.
Borja
Soeben rief Saika an: ein 22-jähriger Komponist aus unserem Kreis, der mir ausgeglichener vorkam als andere, ist an akuter Geistesverwirrung gestorben.
Saika fragte, ob ich ihn nicht besuchen käme; ich bat ihn, mindestens eine Woche lang nicht zu mir zu kommen.
Schreibe mir, irgendetwas.
Übersetzt von Rosemarie Tietze

Als 1958 ›Doktor Shiwago‹ mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, fehlte einer: sein Schöpfer. Boris Pasternak wurde von den russischen Behörden die Ausreise verwehrt, sein Autor blieb im Dunkeln. Dabei erzählt Pasternaks Leben das gesamte letzte Jahrhundert: Als 16jähriger spielte er Skrjabin vor, er studierte in Marbach Philosophie, wechselte Briefe mit Rilke und war mit Zwetajewa, Majakowski und Mandelstam befreundet. Im Gegensatz zu ihnen überlebte er den stalinistischen Terror und rächte sich im ›Doktor Shiwago‹. - In einer dreibändigen Ausgabe seiner Gedichte, Erzählungen und Briefe stellen wir das unbekannt gebliebene Werk eines der größten Dichter Russlands vor.