John Berger, der Augenmensch – es war eine Wiederbegegnung. Die Titel der Bücher, die hier im Regal stehen, zeigen, worum es von Anfang an ging: Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens; Und unsere Gesichter, mein Herz, vergänglich wie Fotos; Das Sichtbare und das Verborgene. Augenscheinlich las ich zunächst Bergers augenöffnende Beschreibungen von Bildern, seine Betrachtungen über Bild und Sehen. Ich ging seinen Fingerzeigen nach und vollzog seinen Blick nach, den einleuchtenden, unmissverständlichen, tabulosen, immer herzwarmen und herzerwärmenden. Später las ich die belletristische Prosa. Stelle, während ich dies schreibe, fest, dass mein Exemplar von SauErde weg ist. Zuviel von dem saftigen Porträt der bäuerlichen Welt des Savoyen geschwärmt, logisch, dass es weg ist.
Einmal erlebte ich John Berger in Gespräch und Aktion. 1991 erhielt er den Petrarca-Preis. Verliehen wurde er in jenem Jahr in der Villa der Verlegerin Inge Feltrinelli in Italien. Bergers Freihand-Dankesrede in der verglasten Veranda war eine antikapitalistische Philippika. Der Kontrast zwischen Anlass und Art der Zusammenkunft, Ästhetik des Orts und Stoßrichtung des Denkens hätte nicht größer sein können. Meine lokale Verwirrung geisterte noch zwanzig Jahre später durchs Gedicht: »am Tischlein-deck-dich, / die schönste Anarchistenwitwe der Welt / lauscht andächtig dem schönsten Marxisten.« [Lietzenlieder, S. 13] So war es, vielleicht. Zurück zur Vertikalen Reise. Sie führt durch Geschichte, Gedanke, Welt und bleibt doch am konkreten Ort. Die optische Empfehlung zu dem Text, den John Berger für eine akustische Inszenierung schrieb: Werner Herzogs 3D-Film Die Höhle der vergessenen Träume von 2010, in dem die Pigmente der Meisterwerke von Chauvet wie mit der Hand zu greifen sind.
Hier geht es zu John Bergers Essay ›Eine vertikale Reise‹

Mit seinem legendären Buch ›Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt‹ lehrte John Berger uns Anfang der 1970er Jahre, Bilder neu zu sehen. Er analysiert Gemälde nicht isoliert in einer Welt von musealer Ewigkeit, sondern als Gebrauchsmuster der modernen Gesellschaft, die vor allem den weiblichen Körper zur Reklame benutzt.
John Bergers Essays zu Kunst und Fotografie sind aus der Ästhetik des 20. Jahrhunderts nicht mehr wegzudenken. Meisterhaft finden seine Erzählungen und Romane eine sinnliche Antwort auf die Frage, wie wir heute leben.
»Es gibt niemals genug von John Berger!«
Tilda Swinton