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Hundertvierzehn | Extra
Was ist zynischer Humanismus?

Der sogenannte Humanismus ist eine Art Selbstrechtfertigungsideologie für Privilegierte, formuliert Milo Rau. Dem setzt er das Bild des Künstlers als Chronist und Utopiker entgegen. Beispielhaft dafür ist seine theatrale Intervention: das ›Kongo Tribunal‹.

 
Rolf Bossart

Rolf Bossart studierte Theologie, Geschichtswissenschaft und Pädagogik in Freiburg (CH) und promovierte an der Universität Luzern über die theologische Lesbarkeit der Literatur im 20. Jahrhundert. Er ist Lehrer für Religionswissenschaft, Pädagogik und Psychologie und seit 2007 Mitarbeiter des IIPM (International Institute of Political Murder). Gemeinsam mit Milo Rau organisierte und moderierte er viele Gesprächsreihen und Konferenzen. In Zusammenhang damit publizierte zu den IIPM-Projekten ›Die letzten Tage der Ceausescus‹, ›Hate Radio‹,›City of Change‹, ›Die Moskauer Prozesse‹ und ›Breiviks Erklärung‹. Von 2008 bis Ende 2012 war er Redakteur beim Monatsmagazin ›Neue Wege‹. Er arbeitet als Publizist für unterschiedliche Zeitungen und Zeitschriften, u. a. WOZ, konkret, Widerspruch, theoriekritik.ch, Saiten.

Rolf Bossart: In einer theoretischen Skizze zum »Kongo Tribunal« [1] steht der Satz: »Wir sind Augenzeugen eines gigantischen historischen Umsturzes, der zum ersten Mal in der Geschichte keine neuen Prinzipien zu gebären scheint, sondern sich – wie in einem großen Traum – auf Ereignisse zubewegt, die uns schon bekannt sind, bevor sie eintreffen.« Inwiefern findet im Kongo gerade die Zukunft statt?

Milo Rau: Der Satz spielt auf einen meiner Lieblingsaphorismen in David Van Reybroucks Buch Kongo. Eine Geschichte an. Dort schreibt David sinngemäß: Der Blick auf das, was im Kongo geschieht, ist kein Blick in die Vergangenheit, es ist ein Blick in unser aller Zukunft. Und er hat recht: die Zerschlagung staatlicher Strukturen im Auftrag des Freihandels, die Unterwerfung riesiger Gebiete unter die Oberherr-schaft der Weltbank, die Zerreibung jeglicher zivilgesellschaftlicher Ansätze zur Durchsetzung des Profitrhythmus des in New York, Pe-king, Boston, Brüssel gesteuerten Finanzkapitalismus, die Schaffung von Protektoraten unter Aufsicht von UNO-Truppen – das ist etwas, was seit gut 25 Jahren im Kongo geschieht und das anderen Gebieten der Welt noch bevorsteht, denke ich. Zugleich beschreibt der Begriff der »Zukunft« aber auch eine neue globale Erfahrungsweise der Ge-genwart, wie sie sich in der zweiten Globalisierungswelle des Kapitals nach 1989 herausgebildet hat. Es ist eine Perspektive, unter der das, was uns als gegenwärtige Handlungsmöglichkeit zur Verfügung steht, überhaupt nur noch als Vorspiel, als Etappe eines bereits vollständig fixierten Handlungsziels erfahren wird. Wenn man sich zum Beispiel das Minenbusiness im Ostkongo anguckt, dann hat das berühmte neo-liberale Diktum »There is no Alternative« eine Art Wendung vom Dog-matischen weg ins rein Technokratische und zugleich Imaginäre er-fahren.
Wie ist das gemeint?

Milo Rau

Milo Rau wurde  1977 in Bern geboren, arbeitet als Regisseur, Autor und sozialer Plastiker.
Für die Produktion und Auswertung seiner Theaterinszenierungen und Filme gründete er 2007 das IIPM– International Institute of Political Murder. Theaterarbeiten u.a.: »Tanz das Tourette«, »Pornografia«, »Amnesie«, »City of Change«, »Hate Radio«, »Breiviks Erklärung«, »Die Moskauer Prozesse«, »The Civil Wars«. Milo Rau erhielt 2014 den Schweizer Theaterpreis sowie den Hörspielpreis der Kriegsblinden für das Hörspiel »Hate Radio«. 2015 wurde ihm der Konstanzer Konzilspreis zugesprochen.

Um in Bukavu oder Goma eine Goldmine zu »öffnen« – also von der Exploration bis zu jenem Tag, an dem der Abbau mit allen Maschinen, Belüftungsanlagen, Unterkünften, Versorgungsketten usw. losgehen
kann –, vergehen im Schnitt 12 Jahre. Der finanzielle Aufwand beträgt mehrere Milliarden Dollar, Kosten, die sich wegen dem Bürgerkrieg manchmal noch stark erhöhen. Zum einen schränken diese Summen die Mitbewerber auf wenige kanadische und Schweizer Firmen ein. Im ostkongolesischen Goldbusiness etwa sind es zwei oder drei. Neoliberalismus, einst ja angetreten gegen staatliche Monopole, heißt heute also nicht mehr »freier Wettbewerb«, sondern meint ein fast absurd monopolistisches System. Der für die Erfahrungsweisen der Gegenwart aber entscheidende Punkt ist, dass das Kapital aus komplexen Aktienfonds und An-legerstrukturen stammt, dass also hinter dem Goldabbau eine globale Struktur aus Investition und Profit steht. Die Konsequenz daraus ist: Wenn die investierten Milliarden nicht – das hat mir einmal einer der Manager von Banro, einer kanadischen Goldfirma, vorgerechnet – innerhalb von maximal drei Jahren wieder amortisiert werden, bricht zuerst die Firma, dann der Fonds, dann die jeweilige Rohstoffbörse zusammen. Anders ausgedrückt: Die Summen bewegen sich in einem Bereich, dass die Gefahr eines Börsencrashs ständig im Hintergrund lauert. Da bleibt keine Zeit, um vor Ort Infrastruktur, Bildung, überhaupt irgendetwas Längerfristiges aufzubauen, denn an der Stabilität der Börsen hängt ja hinwiederum unser eigener Reichtum. Entweder wir oder sie: Die Gegenwart ist zum einen universalisiert, das heißt, wir befinden uns in einem einzigen Weltinnenraum, es gibt kein Außen mehr. Zum anderen ist unser Handeln komplett auf die Zukunft hin getaktet, oder anders ausgedrückt: Die Gegenwart ist nur noch ein Übergangsraum, in dem die Zukunft sich zu realisieren hat.


›Gegenwart vs. Futur zwei‹. Neue Rundschau 2016/1

Alle Beiträge aus dem kuratierten Newsletter von Kathrin Röggla anlässlich des Erscheinens der Neuen Rundschau 2016/1 ›Gegenwart vs. Futur zwei‹ finden Sie hier

Du schreibst aber auch, dass diese Zukunft »keine neuen Prinzipien« in sich trägt, dass sie uns »schon bekannt« sei. Wie ist das zu verste-hen?

Für mich ist in diesem Zusammenhang der Begriff des »Traums« wichtig. Im Traum zeigt sich uns die Gegenwart in ihrer Doppelgestalt, also als unheimliche Verschleifspur aus Gewesenem und Zukünftigem. Letzte Nacht beispielsweise träumte mir Folgendes: Ich sollte, um an einem -Theaterhaus in Aleppo die Medea von Euripides auf die Bühne zu bringen (ein Plan, den ich tatsächlich verfolge), eine Prüfung zu Pindars Oden ablegen. Der Prüfer war mein alter Griechischlehrer, der von IS-Schergen in einem kafkaesken Hinterzimmer gefangen gehalten wurde. Man versteht die Allegorie, denke ich: Der Traum von der Zukunft ist immer eine Wiederaufnahme der Vergangenheit, aber in gleichsam gesteigerter, katastrophischer Form. Denn das Interessante oder Beunruhigende an der »Zukunft«, der wir gemäß David van Reybrouck im Kongo in die Augen sehen, ist ja, dass sie uns bekannt vorkommt. Die Idee eines globalen Innenraums des Kapitals und des damit zusammenhängenden Ewigen Friedens in den imperialen Zentren ist in Wahrheit kein neuer, sondern einer des ausgehenden 19. Jahr-hunderts, des ersten Imperialismus. Es gibt rührige Bücher, die direkt vor dem Ersten Weltkrieg verfasst wurden und nachweisen, dass ein Krieg in Europa aufgrund der wirtschaftlichen Verstrickungen nicht mehr möglich ist. Nun ja, es kam anders, aber es scheint, dass diese Idee – ewiger Frieden in den imperialen Zentren, ewiger Krieg bzw. Ausnahmezustand in den Räumen außerhalb – im zweiten Imperialis-mus, den wir heute erleben, Realität geworden ist. Halb Afrika gehört China, den USA oder Europa, und es wäre schwierig, den Bürgerkrieg im Ostkongo und die internationale Wirtschaftsgesetzgebung als etwas anderes als gegenseitige Verdrängungsversuche ihrer imperialen Apparate zu verstehen. Im Ostkongo tobt ein nicht deklarierter Wirtschaftskrieg gegen die Zivilbevölkerung mit bisher über 5 Millionen Toten – aus den genau gleichen Gründen, wie bei der ersten Kolonialisierung des Kongo im Rahmen der Kautschukgewinnung um 1900 Millionen Menschen vertrie-
ben oder massakriert wurden. Wir wohnen hier also einer Wiederkehr des 19. Jahrhunderts bei, aufgetunt mit einigen zentralen Erkenntnis-sen des 20. – etwa dass Genozide nur jenseits der Wolga und südlich des Mittelmeers stattfinden sollten. Zudem hat das unglaublich gewalt-tätige letzte Jahrhundert, der 30-jährige Bürgerkrieg von 1914 bis 1945, die ökonomische Systemkonkurrenz bis 1989 und schließlich der ökonomische Zusammenschluss über alle gewachsenen Logiken hinweg in Europa eine Funk-tionärs-Elite geschaffen, die sich nach einem schönen Wort von Hannah -Arendt »aus den Abfällen aller Klassen« zusammensetzt. Sogar die Ideologie dieses zweiten Imperialismus, also die Idee der Entwicklung, des Kulturaustauschs und der Friedenssicherung sind dieselben wie im ersten. Ja, wir erleben in diesen Jahren eine vollständig überarbeitete Neuauflage des klassischen Imperialismus, wie Lenin oder, ganz anders und noch treffender, Hannah Arendt ihn beschrieben haben.
Mit dem »Kongo Tribunal« hast du aber mitten in der Bürgerkriegsre-gion Ostkongo etwas durchgeführt, was diese aktuelle Weltordnung eigentlich nicht zulässt: die Aufrichtung eines universalen Rechts, um es etwas pathetisch zu sagen. Und alle sind gekommen, alle haben mitgemacht. Für drei Tage wurde dadurch eine funktionierende Rechtsordnung gegenwärtig. Wie war das möglich?

Um einen schönen Gedanken von Jean Ziegler zu zitieren, betrachte ich unsere Gegenwart nicht nur als Nachgeschichte (etwa der ideolo-gischen Zeitalter), sondern als »Vorgeschichte des Menschlichen«: Wir sind noch halbe Tiere, gierig und völlig unfähig, über das Tagesgeschäft hinauszudenken. Projekten wie dem »Kongo Tribunal« kommt dabei eine symbolische Rolle zu: Sie setzen gegen den halb blinden, halb zynischen Realismus der Expertokratie (»Im Kongo wird es niemals Gerechtigkeit geben«) einen Möglichkeitsrealismus, der Situationen schafft, in dem das Unmögliche nicht nur denkbar wird, sondern sich tatsächlich realisiert. Wenn auch nur für drei Tage, wenn auch nur nach unglaublich komplexen Aushandlungen mit der Regierung, wenn auch nur jenseits jeglicher strafrechtlicher Folgen für die Verurteilten. In gewisser Hinsicht sind solche Projekte ein Präsentierraum der Gegenwart: Im »Kongo Tribunal« geht das Grässliche eines ökonomischen Weltkriegs »durch den Raum«, wie ein Gespenst. Aber das Entscheidende ist, dass dies normativ geschieht, unter den Augen eines Weltgerichts. Die Banderolen, die wir aufgehängt haben in Bukavu (»Vérité et Justice«, »Wahrheit und Gerechtigkeit«), sind wie die Fahnen einer Armee oder die Spruchbänder einer Partei, sie geben dieser Handlung die Autorität einer Beschwörung. Im Grund sind wir also im »Kongo Tribunal« vom Exorzismus der katholischen Kirche nicht weit entfernt. Das Symbolische zeigt sich hier, wie in Goethes Definiti-on des Symbols, als das Konkreteste: »Genau so« wie das »Kongo Tribunal« muss ein Gericht funktionieren, »genau so« realisiert sich Gerechtigkeit, »genau so« funktioniert sein Timing, seine Gerichtsord-nung. In der symbolischen Handlung wird das Allgemeine nicht durch das Besondere indirekt dargestellt, es wird erlebt und gleichsam hyp-notisch »geschaut«, oder wie Goethe sich ausdrückt: »Wer nun das Besondere lebendig fasst, erhält zugleich das Allgemeine mit.« Im »Kongo Tribunal« leuchtet die zukünftige Praxis einer internationalen Rechtsprechung – also die Mischung von verschiedenen Rechtsfor-men, von traditionellem und internationalem Recht, von lokalen und europäischen Richtern usw. – auf, aber nicht als künstlerische Allego-rie, nicht in erfundenen Figuren, sondern als reale Situation, in Anwe-senheit der realen Akteure, nach real gültigem Recht. Was nun deine Frage nach dem »Wie war das möglich?« angeht, also nach der Art, wie das »Symbolische« sich realisiert, nach der künstlerischen »Rah-mung«, wie man so sagt, würde ich gern an den Grundsatz der phä-nomenologischen Soziologie erinnern, wie mein Lehrer Bourdieu sie vertrat: Es gibt keine natürlichen kulturellen Handlungen, es gibt nur Handlungen, die so weit normalisiert sind, dass sie uns natürlich er-scheinen. Es gibt keine »böse« Realpolitik, die Realisten wie Helmut Schmidt vertreten, und daneben eine »gute«, die den Phantasten vor-behalten ist, es gibt nur die Resultate aus kollektiven menschlichen Handlungen. Auf eine völlig banale Weise befinden sich so das Gute und das Böse auf der genau gleichen Ebene der Praxis. Projekte wie das »Kongo Tribunal« dienen also dazu, sich kollektiv, im Raum des Theaters daran zu erinnern, dass der Kapitalismus keine Naturkraft ist. Dass Widerstand möglich ist und dass die Zukunft die Gegenwart zwar in stählernem Griff hält, aber nicht unbesiegbar ist.

Gibt es, wieder am Beispiel des »Kongo Tribunals«, reale Wirkungen dieser utopischen Gegenwart für die Zukunft?

Ich denke, das »Kongo Tribunal« hat sehr viel geleistet: Denn es war ja kein Meinungstribunal, immerhin in Bukavu nicht, sondern es war ein Tribunal, in dem die realen Beteiligten (von den Opfern über die Untersuchungsleiter bis zu den Ministern) der kommenden Prozesse aufeinandertrafen, in Realzeit und nach realen Regeln. Es ist im Grund unglaublich, was in Bukavu geschehen ist, und ich denke, es ist in seiner Weise nicht zu steigern: Es ist so, als hätte man mitten im Zweiten Weltkrieg einen Prozess gemacht, in dem die deutsche Be-völkerung ihre kriminellen Eliten zur Rechenschaft gezogen hätte, vor einer internationalen Jury. Es ging in Bukavu, anders als im Berliner Tribunal-Teil, nicht um »Meinungen«, sondern um ein Aufeinandertreffen der Akteure von Massenverbrechen. Der Kontext ist ein Wirtschaftskrieg mit Millionen Toten, der in vollem Gang ist. Und auf der Bühne standen nicht irgendwelche Beobachter, sondern es standen sich die Verantwortlichen und die Opfer gegenüber, also die freiwilligen und unfreiwilligen Protagonisten dieses Krieges. Es war unglaublich, die Konfrontation der Minenfirmen, der Armeegenerale oder der Politiker mit der Realität dieses Tribunals zu beobachten: Es kam ihnen vor, als steckten sie in einem Traum, nur waren sie dummerweise wach. Und für einmal träumte nicht die Zukunft die Gegenwart, sondern umgekehrt. Für einen Moment, für drei Tage, war die Zukunft zur Geisel der Gegenwart geworden, die Mächtigen die Geiseln der Machtlosen.
 
Vital Kamerhe, Oppositionsführer und aussichtsreicher Kandidat auf das Präsidentenamt, hat an vorderster Front am »Kongo Tribunal« mitgewirkt. Ein Mann, der die Massen im Ostkongo mobilisieren kann. Du planst, seine Wahlkampagne nächstes Jahr mit einem Filmteam zu begleiten. Warum?

Im Grund meines Herzens bin ich Voluntarist. Und das ist ja etwas, was mir immer wieder mal vorgeworfen wird: dass ich an den Um-schlag, die Ermächtigung, die Schubumkehr glaube. Dass ich zwar Marxist bin, aber eben im Endeffekt die realen und imaginären Gren-zen der objektiven Kräfte in der Phantasie der Gruppe und des einzelnen Menschen sehe. Es gibt immer das »Nein« zum Fatalen, so wie es immer das »Ja« zum Utopischen gibt. Es gibt, so denke ich, etwas irreduzibel Revolutionäres in jedem von uns. Gerade habe ich in einem Facebook-Post des Berliner Philosophen Marcus Steinweg gelesen – ich weiß nicht, ob er jemand anderen oder sich selbst zitiert: »Dass das Subjekt in der Luft hängt, wie seine Realitäten mit ihm, heißt nicht, dass es irgendwo aufgehangen ist, an einer Art von Nagel.« Das gefällt mir sehr gut. Denn neben der unverbrüchlichen Macht des Realen und seiner unbewussten Tentakel – und das ist eben im Umkehrschluss das beglückend Traumartige am menschlichen Dasein – ist dort, wo wir objektiven Zwang erleben, in gewisser Hinsicht »nichts als die Leere«. Ich weiß, das ist kindischer Willens-Nietzscheanismus, aber ich kann mir nicht helfen: Ich glaube tatsächlich daran, dass Menschen wie Vital Kamerhe den Kongo und damit die Welt verändern können. Denn dass der Kongo für unser aller Zukunft steht, ist nicht nur im negativen, sondern vor allem auch im positiven Sinn zu begreifen. Wenn dieses an Mineralien reichste, für die globalen Industrien des 21. Jahrhunderts entscheidende Land es schafft, eine soziale und gerechte Ökonomie zu etablieren, Nationalismus und Internationalismus zu vereinen, dann wäre das ein Fanal für den ganzen afrikanischen Kontinent, für die Generation unserer Kinder und Enkel. Ich mache viele beschreibende Projekte – etwa aktuell »Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs« über die Arbeit der NGOs –, in denen ich mich tief in den Brunnen des Fatalen hinabbeuge und die auftretenden Figuren ihren blinden Flecken, ihrer Schuld, ihrer sadistischen Freude, ihrer Melancholie und Verzweiflung überlasse. Umso wichtiger ist für mich, als Propagandist zu wirken: Kampagnen zu machen für eine alternative Zukunft. Und von all dem mal abgesehen: Mich interessiert einfach, wie ein afrikanischer Wahlkampf funktioniert.
 
Hoffentlich hast du recht. Nach den Erfahrungen der jüngsten Ge-schichte Afrikas aber ist das sehr unsicher. Vital Kamerhe kann schei-tern, er kann von Kabila gekauft oder ermordet werden – oder siegen und dann zum üblen Diktator werden, wie so viele vor ihm. Doch man sieht nur an diesem einen Beispiel, wie viel beinah trotzige Naivität heute nötig ist, um der Logik unseres aufgeklärten Defätismus zu entkommen und überhaupt noch an eine realpolitische Wende zu glauben. Die universalistische Idee der Aufklärung rechnete dagegen noch damit, dass alle Vorrechte des Nordens einst zu Rechten von allen werden würden, wenn nur die Zeit reif, die Bildung genug fortgeschritten, die technische Entwicklung bereit wäre. Davon scheinen wir weiter denn je entfernt zu sein. Universalismus ist nur noch präsent als Schimpfwort für kolonialistischen Größenwahn. Wodurch aber wurde er ersetzt?

Ersetzt wurde der aufklärerische Universalismus durch das, was ich den »zynischen Humanismus« nennen will. Oder anders ausgedrückt: »Universalismus« wird nicht mehr global gedacht, sondern beschreibt eine aristokratische Seelenzucht, quasi eine moralische Innenpolitik Europas. -Nehmen wir die aktuelle innenpolitische Situation der EU, etwa in Deutschland, die bestimmt ist von den Streitereien zwischen liberalem Mainstream und dem konservativen Mob der sogenannten Pegida. Aus universalistischer Perspektive handelt es sich dabei um einen Zickenkrieg zwischen Bürgern der Wohlstandszone, die alle gleichermaßen profitieren von der Zerstörung staatlicher Strukturen in Afrika oder dem Nahen Osten – nur dass die einen dabei bad feelings haben, die anderen nicht. Für einen Kongolesen ist das Pegi-da-Bashing in etwa so hilfreich wie in den 40er Jahren die Streitigkei-ten zwischen Wehrmacht und SS um die mo-ralisch korrekte Besat-zungspolitik. Natürlich, man muss der Pegida die zivilen Selbstver-ständlichkeiten einprügeln, man muss einen Mitgefühls-Standard im imperialen Innenraum einfordern, das ist an sich eine gute Sache. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass innereuropäische Geistesveredelung nichts an der blutigen Realität unseres Wirtschaftsimperialismus verändert. Die Wahrheit unseres Kontinents liegt jenseits des Mittelmeers, -jenseits des Schwarzen Meers, jenseits der Türkei und jener Mittelmeer-Mitleids-Politik, mit der wir uns aktuell gleichsam vom Elend der Welt freikaufen. Es ist bedauerlich, aber plötzlich wird offenbar, dass der Multikulturalismus der nuller Jahre nur die Vorstufe des aktuellen Neohumanismus war: Wir haben gelernt, das andere als Teil des Eigenen zu denken, solange es »bei uns« ist. Und es zeigt sich, was der sogenannte Postkolonialismus, der sich ja jede Form von intellektueller Einmischung in afrikanische oder asiatische Konflikte verbittet, tatsächlich ist: europäische Gefühlskälte, eine Art Appeasement-Politik für den imperialen Innenraum.

Der Historiker David Brian Davis hat das Verhältnis des angloamerikanischen Humanismus zu den Sklavenbefreiungsbewegungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts analysiert. Er konnte zeigen, wie der »Triumph der humanitären Gesinnung« mehr oder weniger zur gleichen Zeit mit der Abschaffung eines Großteils der Vorschriften zusammenfiel, die dem Schutz der Arbeiter und traditioneller Handelsformen dienten. Wir beobachten heute auf verschiedenen Ebenen eine ähnliche Parallelität vom erfolgreichen Kampf um die Ausweitung von Bürgerrechten einzelner lokaler Gruppen bei gleichzeitigem globalen Rechteabbau. Es erscheint aus dieser Perspektive also gleichermaßen zynisch, Völkerrecht und Menschenrechtscharta als nutzloses Gut-menschentum zu verachten oder an ihrer universalen Idee festzuhal-ten. In der Schweiz ist ja eine Initiative hängig mit dem Slogan: »Nati-onales Recht vor Völkerrecht«.

Ja, das ist die traurige Wahrheit über den sogenannten Humanismus: Er ist eine Art Selbstrechtfertigungsideologie für Privilegierte. Imperiale Herrschaft hat sich seit jeher als zivilisatorisch verstanden. Der belgische König Leopold, der sich als Abolitionist und Überwinder des arabischen Sklavenhandels in Zentralafrika feiern ließ, hat im Rahmen der Einführung des Freihandels im Kongo um 1900 den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts durchgeführt – um ein Hundertfaches effektiver als der Massenmord an den Hereros, den etwa zeitgleich das Deutsche Kaiserreich veranstaltete. Nun ist diese Parallelität von Sentimentalismus und extremer Barbarei ja quasi das Klischee-Bild der europäischen Bourgeoisie des 19. Jahrhunderts. Interessant ist aber zu beobachten, mit welchen rhetorischen Verschiebungen sich der Humanismus ins 21. Jahrhundert retten konnte: Denn zweifellos scheint der Humanismus die universale Ideologie per se zu sein, also der logische Feind der partikularistischen Bemühungen der Emanzipationsbewegungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Und obwohl ich das Postmoderne-Bashing, dem ich in der »Kritik des postmodernen Denkens« vielleicht etwas zu sehr gehuldigt habe, für erledigt (und übrigens seinerseits überholt, wenn nicht sogar diskreditiert) halte, so muss eine »Kritik des zynischen Humanismus« doch an genau diese Kritik der Postmoderne anschließen. Denn die Diskreditierung der sogenannten »Großen Erzählungen« und der abstrakten Solidargemeinschaften des ideologischen Zeitalters – etwa der Klasse oder der Nation – zugunsten der Interessen jeweils konkreter und lokaler Gruppen hat, so denke ich, nicht zu einer realen Abschaffung exklusiver Groß-Gemeinschaften geführt, sondern schlicht zu ihrer imaginären Leugnung. Die EU mit ihrer Ideologie der Toleranz und des Friedens gegen innen inklusive der klassischen philanthropischen Oberflächenmimikry des Mitleids und der Gastfreundschaft ist gegen außen brutaler denn je. So wurde der koloniale Rassismus des 19. Jahrhunderts scheinbar dekonstruiert, in Wahrheit aber upgedatet zu einer Form postidentitärem Rassismus, der zwar die genau gleiche Funktion erfüllt, aber genügend vage und selbstkritisch bleibt, um jegliche bad vibes innerhalb der Herrenrasse zu vermeiden. Das Projekt »Europa« für das 21. Jahrhundert ist kein identitäres Projekt im alten Stil, sondern eine scheinbar »gegebene«, da topographische Funktion zur ungerechten Distribution von Rechten und Reichtümern: ein nicht biologischer Rassismus, sondern ein Rassismus des Zufalls der Geburt, der durch Toleranz, Integration und so weiter kaschiert wird. Und damit erfüllt – und naturalisiert – sich auch der wahre Kern des klassischen Humanismus: seine Rückkehr zur exklusiven Idee des Bürgers der antiken Polis, also zu jenem brutalen Eurozentrismus, den die Postmoderne ja gerade dekonstruieren wollte.

Lass mich zusammenfassen: Wie es scheint, war nach 1989 das Pro-jekt vom »Ende der Geschichte unter amerikanischer Führung« das vorläufig letzte mit einem universalen Entwicklungsanspruch. Sein Scheitern, um es etwas zynisch zu formulieren, lag wohl auch an sei-ner zu inkonsequenten kolonialistischen und etatistischen Strategie. Denn neoliberale Firmen und privatisierte Armeen sind nicht an Zivil-gesellschaft interessiert und bauen keine staatlichen Strukturen auf. Die politische Theorie reagierte auf die Katastrophen im Kongo, in Afghanistan, Irak und Libyen sehr einseitig: Man verzichtet fast einmütig auf einen Fortschrittsbegriff in globalem Maßstab, auf dessen Seite die Linke nun mal unweigerlich steht, und beschäftigt sich stattdessen mit Dekonstruktionsphilosophie, Postkolonia-lismus, Postmigrationismus usw. Man betreibt quasi eine Theorie mit weißer Weste, die aber ohne Zugriff bleibt auf die imperialen Verhältnisse, die du eben beschrieben hast. Die Frage ist nur, ob es von Europa aus gesehen einen dritten Weg gibt, die globalen Probleme weder zu vertuschen noch sie mit einer Art Wohlfühlhumanismus wegzurationalisieren.

Das wäre für mich das, was ich den »Globalen Realismus« nenne, also die Entwicklung einer globalen politischen Empfindsamkeit und damit einer global gedachten praktischen Solidarität. Was das angeht, befin-den wir uns in einer Übergangszeit, einer Zeit der Pilotprojekte. Ein Beispiel aus meiner eigenen Praxis ist natürlich das »Kongo Tribunal«: ein Tribunal, das sich der Idee einer zugleich lokal verankerten und global gültigen Rechtsprechung widmet. Denn ich denke, eine pragmatische Strategie kann nicht in einer Abgrenzung zur Postmoderne, sondern in einer dialektischen Phasenverschiebung, also einer qualitativen Steigerung ihrer Forderungen bestehen: Wie kriegt man das Spezifische universal? Wie lassen sich Authentizität und Abstraktion vereinen, das »ästhetische« Empfinden der Postmoderne und das »politische« der Moderne? Das ist ja im Grund die Frage meiner ganzen Arbeit, und vielleicht ist es die Frage eines reloadeten Realismus überhaupt: Wie kann man, nach allen Enttäuschungen des 20. Jahrhunderts, auf der großen, gemeinsamen Erzählung der Menschheit beharren, der innerweltlichen Theodizee? Denn erst wenn man spezifische, scheinbar total lokale Konflikte als die eigenen, als einen Kampf um Menschlichkeit überhaupt begreift, ist man tatsächlich Realist, bewegt man sich auf der Ebene der globalen Kapital- und Bewusstseinsströme. Und genau deshalb müssen wir den pragmatischen Provinzialismus, das »Klein-Klein« der Postmoderne in unserem Denken entfalten, im Lichte der Abstraktion. Natürlich: In der Logik des »Kongo Tribunals« etwa erscheint der Ostkongo nicht als solcher, sondern als symbolischer, also letztlich austauschbarer Ort für die Wirtschaftspolitik der Globalisierung. Denn das Gleiche wie dort passiert überall, wo ein Staat oder eine Zivilgesellschaft zu schwach sind (oder gemacht werden), um sich gegen internationale Multis und die eigenen korrupten Eliten zu wehren. Zugleich aber ist der im »Kongo Tribunal« dominante Fatalismus – Schrecken werden auf Schrecken getürmt, das Geflecht der Schuldigen wird unüberschaubar – natürlich nur die halbe Wahr-heit. Es ist, wie man an einigen Ländern Südamerikas und auf histo-risch wohl einzigartige Weise an China sieht, möglich, aus der Gruppe der »failed states« auszuscheren, sich zu befreien von seinen Koloni-almächten, von der Weltbank und so weiter. Die globale Ebene ist aber nur der eine Teil der Abwärtsdialektik, die im Ostkongo derart katastrophal wirkt. Und daher ist leider genauso wahr: Der Ostkongo ist, jenseits aller Minenfirmen und aller weltwirtschaftlichen Zwänge und Explosionsbeschleuniger, ein Konfliktgebiet eigener Logik. Grenzkonflikte, ethnische Konflikte, Konflikte um Acker- und Weideland, eine zum einen übertriebene, zum anderen völlig versäumte Nationali-sierung etc. stellen jene Situation erst her, in der dann die Regierung aus Kinshasa, die OECD, die UNO oder die Weltbank als parteiische Schiedsrichter auftreten können. Das »Vietnam Tribunal«, das uns verfahrenstechnisch und von der Universalitäts-Idee als Vorlage gedient hat (neben anderen Inspirationen), hatte meines Erachtens einen entscheidenden Makel: Es fand nicht in Vietnam statt, nicht einmal in den USA. Für das »Kongo Tribunal« war es jedoch extrem wichtig, als Ort der Verankerung nicht Den Haag, sondern Bukavu zu wählen – mitten in der eigenen Logik der lokalen Konflikte und der lokalen politischen und ökonomischen Akteure.

Man könnte also sagen, dass es darum geht, die Postmoderne »beim Wort« zu nehmen: also Kritik durch kritische Praxis, die Dekonstruktion des Exotismus oder Kolonialismus durch tatsächliche postexotistische oder postkolonialistische Arbeitsweisen zu ersetzen?

Genau. Denn was unsere Wahrnehmungs- und Aktionsweisen angeht, liegen wir gut 50 Jahre hinter der Wirtschaft zurück – von den Medien ohnehin nicht zu sprechen. Und auch wenn man den Deutschen auf-grund ihrer historischen Traumatisierung als Tätervolk eine gewisse intellektuelle und emotionale Latenzzeit zugestehen muss, so ist es doch erschreckend, wie beispielsweise die Reaktion auf die aktuelle Flüchtlingskrise in einer Art angewandten Ideologie der Befriedung des imperialen Innenraums besteht – während im genau gleichen Augenblick, in dem wir uns über die Herzenskälte von Dresdener Ekel-Nazis aufregen, deutsche Firmen in Afrika und Asien Gebiete von der Größe ganzer Bundesländer verheeren. Diese Akzeptanz einer vollkommen totalitären, faschistoiden Außenpolitik mit Millionen Toten bei ihrer gleichzeitigen innenpolitischen Ächtung lässt die traurige Vermutung aufkommen, dass die Europäer kein Problem mit Hitlers Politik gehabt hätten, wenn sie nur auf ihre innereuropäische Kolonia-lisierung und ihre rassistische Rhetorik verzichtet hätten. Und wenn man sich das aktuelle Doppeldenk aus extremem Moralismus auf der einen und extremer Blindheit auf der anderen Seite anschaut, dann beschleicht einen der Eindruck, die Pegida oder der Front National seien bloß die lärmende SA, deren ekelhaftes Geschrei vor der eigenen Haustür abgestellt werden muss, damit die SS in den besetzten Gebieten in aller Stille ihre Arbeit machen kann. Die Europäer arbeiten aktuell an ihrem inneren, postrassistischen Europa, was an sich eine gute Sache ist. Aber ich denke, dass der parallel dazu ablaufende Aufschwung rechtspopulistischer Parteien vom FN bis zur AfD gewissermaßen die hässliche Wahrheit dieser hinter allen »Refugees welcome«-Parolen liegenden Wirklichkeit einer neoisolationistischen Politik ist. Man muss nicht Psychologe sein, um im fast unheim-lichen Wachsen dieser Bewegungen und Parteien die Wiederkehr des Verdrängten zu sehen, ja: die finstere Kehrseite des »guten Europa«. Um diesen Widerspruch aufzulösen, müssen wir beginnen, an unserem inneren Syrien, unserem inneren Afrika, unserem inneren Afghanistan zu arbeiten. So wie die Existentialisten eine existentiale Psychotherapie des Individuums forderten, eine Erziehung zur Freiheit, so fordere ich eine psychopolitische Therapie Europas, eine Erziehung zum globalen Wir. Doch final »aufholbar« ist der Prozess der Globalisierung, von dem wir hier sprechen, für die Seele des Einzelnen natürlich nicht. Eine Enthauptung in Saudi-Arabien wird nie eine Enthauptung in Deutschland sein. Sterben müssen immer die anderen, der Tod der anderen und auch unser eigener ist jenseits unserer Vorstellungskraft.

Nicht einholbar ist die ökonomische Globalisierung noch aus einem anderen Grund: Der Igel Kapitalismus ist immer bereits im Ziel, bevor der Hase der Solidarität überhaupt erst loslaufen kann. Der Kapitalis-mus wird nie auf die Ausbeutung immer neuer Mehrwertquellen ver-zichten können, er ist per se expansiv. Und doch ist es wohl richtig, dass unter kapitalistischen Bedingungen eine postrassistische Aus-beutung immerhin eine bessere Ausbeutung ist als eine rassistische und eine postkoloniale Handelspolitik eine immerhin quantitativ bessere als eine koloniale. Doch noch mal zurück zum Fortschritt als geschichtsphilosophische Kategorie. Das Zeitalter des Imperialismus bzw. des Kolonialismus hat deutlich gemacht, welche Verheerungen die europäische Fortschrittsidee auf anderen Kontinenten hinterlassen hat. Andererseits besteht die Befürchtung, dass mit der vollständigen Preisgabe dieser Idee das Erreichte und Erkämpfte widerstandslos dem Zerfall preisgegeben werden muss und die Geschichte mehr und mehr zur Wiederholungstäterin wird. Du hast dich sowohl in deiner künstlerischen Praxis wie auch in der Theorie intensiv mit dem Thema der Wiederholung auseinandergesetzt. Kannst du etwas sagen zur Dialektik zwischen Fortschritt und Wiederholung?

Meines Erachtens liegen in der Geste der Wiederholung dreierlei Qualitäten. Zum einen die Geste der Blindheit, im äußersten Fall der Revanche, oder anders ausgedrückt: Wer sich daran gewöhnt hat, von seinem Partner geschlagen zu werden, wird sich immer wieder einen Schläger suchen – nur einen besseren. Und richtig wohl fühlen wird er sich natürlich erst, wenn er selbst am Ende der Schläger ist. Hitler etwa, die symptomatische Figur der Zwischenkriegs-Moderne, betreibt einen gewaltigen Wiederholungs-Aufwand mit nur einem Ziel: Er will sich den Ersten Weltkrieg wieder-holen, nur diesmal auf höherer Qua-litätsebene, als ultimativer Zivili-sations- und Rassenkampf, in dem er selbst, der Gefreite, als größter -Feldherr aller Zeiten wiederkehrt. Die zweite Qualität der Wiederholung ist die der Analyse. Die Postmoder-ne, besessen von der Idee der Emanzipation des Individuums, nutzt die Geste der Wiederholung als eine der Ironie, des Zitats, also letztlich der Institutions- und Technik-Kritik. Die Kunsttheorie spricht dabei bekanntlich von »Aneignung«: In der Popkultur etwa wird Imitation nicht als Bestätigung gesellschaftlicher Muster verstanden, sondern als lustvolle Ermächtigung des Individuums, als Rebellion gegen die zitierten Mode- oder Rhetorik-Accessoires. Die Musiker von Laibach, mit denen ich öfters zusammenarbeite, tragen Nazi-Uniformen und machen Nazi-Musik, um den Faschismus auszutreiben, sich von ihm zu befreien. In der Madonna der 80er Jahre etwa, die die klassischen Zeichen von Religiosität und Verruchtheit ineinander überblendet, ist genauso wenig »Religon« oder »Femme fatale« drin wie Tomatensuppe in Andy Warhols Campbell-Dosen. Allgemeiner ausgedrückt könnte man sagen: Die Postmoderne wiederholt eine Form, um ihren Inhalt loszuwerden. Blinder Wiederholungszwang auf der einen, ironische Aneignung auf der anderen Seite: Der Akt der Wiederholung, der mich interessiert, versucht diese beiden Qualitäten zu vereinen – in einem Akt der Versöhnung gewissermaßen, in dem zugleich etwas Zukünftiges aufleuchtet. Nehmen wir noch einmal das »Kongo Tribunal«: Es eignet sich alle möglichen juristischen Verfahrensweisen an und kritisiert sie, indem es sie prüft, zur praktischen Anwendung bringt, verwirft oder übersteigert. Die Bühne des »Kongo Tribunals« ist, immerhin in Bukavu, zugleich eine der Kritik (an der real abwesenden Gerechtigkeit), der übersteigerten Wiederholung (der aufklärerischen Idee eines universalen Imperativs) und des Vorleuchtens (einer zu-künftigen, globalen Rechtsprechung).

Wer Liebgewonnenes retten möchte, droht zum Reaktionär zu werden, wer mit der Zeit gehen will, zum Erfüllungsgehilfen globaler Machtkartelle. Was würde es denn heute bedeuten, auf der Höhe der Zeit zu denken und zu handeln? Als Philosoph, als Politiker, als Künstler?

Für mich persönlich heißt das, zugleich Chronist und Utopiker zu sein: Die spezifische Finsternis meiner Zeit und meiner selbst darzustellen, in aller Nachsicht, aber auch voller Selbsthass, voller Wut über die Begrenztheit meiner Seele. Zugleich aber auf der Forderung zu bestehen, dass die Zustände besser, menschlicher werden müssen. Wir gleichen, denke ich, auf gewisse Weise den Humanisten der frühen Neuzeit: Bis zur Hüfte stecken wir im Mittelalter, in den dunklen Jahrhunderten, im Kapitalismus, also in dem, was Jean Ziegler die »Vorgeschichte der Menschheit« genannt hat. Die Vergangenheit rezipierend, auf dem wiederholten Versagen der Menschen bestehend, schauen wir in die Zukunft. Und eine Ahnung des Künftigen beseelt uns.


[1] Das »Kongo Tribunal« war eine theatrale Intervention Milo Raus im Jahr 2015, die sowohl im Kongo als auch in Berlin stattfand, bei der ein jeweils mehrtägiges Tribunal mit den »real«, also historisch Beteiligten und Beobachtern an Wirtschaftsverbrechen und Massengewalt im theatralen Rahmen inszeniert wurde, mit der Absicht, diese aufzuklären. Ein reales Gerichtsverfahren kann derzeit dort nicht stattfinden.

Neue Rundschau 2016/1

Kathrin Röggla stellt die Frage, in welchem Präsens wir leben und ob es dem steten Gegenverkehr aus der Zukunft noch standhalten kann, das sich stets ins Futur zwei wandeln möchte. Das Verwetten der Zukunft auf den Finanzmärkten, der sich längst vollziehende Klimawandel und der gewaltige Umbau der politischen Landschaft – wer hält sich noch freiwillig auf der Höhe der Zeit? Und was halten Sie für unsere Gegenwart unter diesem Blickwinkel? Wenn wir für einen Moment noch einmal davon ausgehen, dass es sowas wie Gegenwart gibt, wie wäre sie zu beschreiben? Kathrin Röggla bittet Prosaautoren, Dramatiker und Lyriker, Theoretiker und Denker um einen Beitrag zu einer Kartographie einer Gegenwart, der man die innewohnende Zukunft anmerken kann.

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