Es ist der Nachlass eines für die medizinische Zeitgeschichte richtungweisenden Forschers. Bei Ernst Klee zu Hause stand ein professioneller Großkopierer. Mit diesem kopierte er Tausende von Akten, die mutige Archivare und Staatsanwälte ihm durch aktives Wegsehen für kurze Zeit überlassen und damit Klees Forschung und deren Veröffentlichung unterstützt hatten. Ein Bestand von 110 Aktenordnern, das sind fast 10 lfm; hinzukommen Fotos, Schriftstücke, Features und Artikel. Zum Nachlass gehört auch Klees Fachbibliothek mit rund 1.600 Titeln (36 lfm).
Was hat Ernst Klee angetrieben?
Er war an den sozial randständigen Menschen interessiert, an Stadtstreichern, Behinderten, Straftätern, schlecht bezahlten Gastarbeitern, Psychiatrie-Patienten. Es hat ihn immer aufgeregt, wie die Gesellschaft mit ihnen umgeht. Über sie hat Klee immer wieder berichtet, in einer Linie mit anderen investigativen Journalisten wie Günter Wallraff, Hans Leyendecker oder Jürgen Roth.
Er hat viel über die aktuelle Benachteiligung von Behinderten geschrieben, sie bei Protesten unterstützt. Wie kam es, dass er sich der NS-Zeit zuwandte?
Bis 1980 hatte er über den Themenkreis sieben Bücher und zahlreiche Artikel, Reportagen verfasst, danach war er – wie wir sagen – »ausgeschrieben«. Wir trafen uns daher zu einem Gespräch im Drehrestaurant des Henninger-Turms und diskutierten mehrere Runden lang, wie es nun weitergehen sollte. Die NS-Zeit, in der ich mich auskannte, kam bald ins Blickfeld und dann die naheliegende Frage, was damals mit den »Randständigen« geschehen ist.
Wie ging es weiter?
Nach einer Funkstille zwischen uns erschien Ernst Klee 1983 mit einem handbreit dicken Manuskript im Verlag. Überschrift: »Euthanasie« im NS-Staat. Dass sich ein Journalist in das schwierige, weitestgehend unbeackerte Forschungsgebiet der medizinischen Zeitgeschichte einmischen wollte, machte mich skeptisch. Doch als ich anfing zu lesen, merkte ich bald, dass das Manuskript eine starke Substanz hatte und sofort veröffentlicht werden musste. Das war der Anfang einer höchst erfolgreichen Publikationsgeschichte, die bis zu seinem Tod 2013 anhalten sollte. Klee hatte sein zweites großes Thema gefunden: die Medizinverbrechen im Dritten Reich.
Klee machte sich Feinde. Viele Täter lebten noch, oder die Nachkommen drohten mit Klagen. Hat ihn das kalt gelassen?
Klee war vorsichtig und kannte die Risiken, weshalb er immer gut vorbereitet war. Feinde waren allerorten. Von ihnen war so gut wie niemand zur Rechenschaft gezogen worden. Viele waren mittlerweile wieder Professoren geworden, Chefärzte, Verbandspräsidenten, vermögende niedergelassene Ärzte – allesamt mit Anwaltskanzleien bewehrt.
Wie haben Sie sich vorbereitet?
Man musste warm angezogen sein, d. h. Texte gut absichern und für den Ernstfall genügend Dokumente in der Hinterhand haben. Während der Arbeit am »Euthanasie«-Projekt hat Klee Kopien seiner Unterlagen auf zwei Freunde verteilt - für alle Fälle! Er war ein vorsichtiger Mensch, zugleich mutig, unglaublich mutig. Ernst Klee ließ sich nicht einschüchtern und war die personifizierte Zivilcourage. Wie besessen hat er geforscht und an seinen Publikationen gearbeitet – bis drei Tage vor seinem Tod, auf einem museumsreifen Computer, den er partout nicht gegen ein modernes Gerät austauschen lassen wollte.
Jetzt kommen die Unterlagen in die Gedenkstätte Hadamar. Warum gerade dorthin?
Der Umschlag seines bahnbrechenden Buches »›Euthanasie‹ im NS-Staat« von 1983 zeigt die ehemalige Tötungsanstalt Hadamar mit dem rauchenden Schornstein. So schließt sich der Bogen. Es ist konsequent, dass Ernst Klee und seine Witwe Elke schon zeitig den Verbleib des Nachlasses in der Gedenkstätte Hadamar gewünscht haben. Es gibt wohl kaum einen besseren Ort, um an Klees Wirken zu erinnern.
Welchen Wert hat der Nachlass für die heutige Forschung?
Ich möchte nicht übertreiben, könnte mir aber gut vorstellen, junge Menschen mit den Akten zu konfrontieren und arbeiten zu lassen. Sie enthalten noch ziemlich viel Stoff für neue Forschungen im Sinne von Ernst Klee. Historische Quellen sind nie ausgeschöpft, weil immer neue Fragen an das Material gerichtet werden, die neue Ergebnisse zeitigen.
Und für die Nachwelt?
Nicht nur in Deutschland beobachten wir das Wiedererstarken rechtsextremer Gruppierungen und Parteien. Es besteht die Gefahr, dass sie sich mit ihren Narrativen über die NS-Zeit hermachen und das bis heute gewonnene Wissen relativieren oder gar leugnen.
Was mir außerdem Sorge macht, ist die Ökonomisierung aller Lebenszusammenhänge – so in der Sozialarbeit, so im Klinikbereich. Schon wird überlegt, ob sich z. B. Operationen bei alten Menschen noch lohnen. Das ist nicht mehr weit bis zum »lebensunwerten Leben«. Noch wagt niemand, in der Öffentlichkeit eine Nützlichkeitsdebatte über Psychiatrie-Patienten anzufachen. Aber was wird in zehn Jahren sein? Das sind schleichende Prozesse, die mitten in der Gesellschaft stattfinden – und stattgefunden haben.

Die »Vernichtung lebensunwerten Lebens«
Das Standardwerk zur NS-Euthanasie, basierend auf jahrzehntelanger Arbeit in Archivbeständen des In- und Auslandes. In der 2010 von Ernst Klee komplett überarbeiteten, gestrafften und zugleich erweiterten Fassung, sind alle zuvor anonymisierten Namen dechiffriert. Klee konnte nachweisen, dass die mörderischen Gaswagen bereits ab Herbst 1939 systematisch zum Krankenmord im Einsatz waren. Er schildert außerdem die psychiatrische »Entsorgung« von SS-Leuten, die während des Massenmords durchdrehten.
Zu den Mordkomplizen und Nutznießern des Massenmords gehörte auch die Wehrmacht. Sie überantwortete kranke Soldaten skrupellos den Mördern in psychiatrischen Anstalten.
Das Buch wird abgerundet mit Kurzbiographien der Täter und ihrer zahlreichen Helfershelfer und gibt überdies Auskunft über den Verbleib jener Euthanasiespezialisten, die in die Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka wechselten.
»Ein engagierter Publizist, der sich nie gescheut hat, Tabuthemen aufzugreifen.«
Die Jury zur Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises 1997 an Ernst Klee