Den ersten Schnee meines Lebens erlebte ich im Alter von 24 in Berlin. Hals über Kopf stürzte ich voller Neugierde auf die Straße, doch kurz darauf packte mich das blanke Entsetzen. Ich glaubte, meine langen, vom Duschen noch nassen Haare, die ich geistesabwesend zu jeder Gelegenheit eindrehe, wären zwischen meinen Fingern zerbrochen. Ich ließ sofort los, denn sie hatten auf einmal KRR KRR gemacht, und dieses Geräusch hatte zutiefst bedrohlich geklungen. Es dauerte eine Weile, bis ich realisierte: Sie waren alle noch ganz, bloß in Sekundenschnelle vereist. Ich hätte mir damals ein Beispiel an der weisen Dame nehmen sollen, die vor mir lief und ihr Haar unter einer dicken Wollmütze versteckt hielt. Sie muss in ihren Siebzigern gewesen sein, bewegte sich zu meinem Erstaunen trotz ihres hohen Alters so flink, als trüge sie Schlittschuhe. Ich kann nicht Schlittschuhlaufen. Schon die Vorstellung hat mir immer große Angst bereitet. Bevor ich mich versehen konnte, rutschte ich rücklings auf dem Bürgersteig aus. Ich trug blaue Flecken davon, und das Steißbein tat noch lange nach dem Sturz weh.
Der Schnee
Es schneit gleich zu Beginn des ›Eternauta‹, des bekanntesten Comicromans des Argentiniers Héctor Germán Oesterheld, den seine Freunde schon immer liebevoll el viejo nannten, den Alten. Ich las seine in einem Buch versammelten Strips zum ersten Mal vor einer kleinen Ewigkeit auf Spanisch. Ursprünglich in meiner Heimat Argentinien in Fortsetzungen à 16 Seiten für 1, 50 Peso zwischen 1957 und 1959 erschienen, gibt es den Meilenstein der argentinischen Graphic Novel jetzt ins Deutsche übersetzt, mit den Zeichnungen von Francisco Solano López in einer Prachtausgabe beim avant-verlag.
Der Schnee, der dort Bild für Bild weiß auf schwarz über einem Buenos Aires mit klar erkennbaren Schauplätzen und allgemein bekannten Straßennamen fällt, ist eine unerhörte Begebenheit, nicht nur weil es in der Stadt, die der Fiktion als Folie dient, nie schneit (die beiden historisch verbürgten Ausnahmefälle vom 22. Juni 1918 und vom 9. Juli 2007 bestätigen diese Regel), sondern auch weil die Flocken bei Kontakt mit der Haut töten. Der phosphoreszierende Schnee im ›Eternauta‹ entpuppt sich als Auftakt einer außerirdischen Invasion, die nicht nur Buenos Aires in Atem hält, sondern auch die Comicleser, da sie sich – wie es im Laufe der Lektüre klar wird – auf die ganze Erde erstreckt und wechselnde Gesichter hat: Sie, wie die Angreifer genannt werden, sind hochintelligente Drahtzieher, die sich nicht zeigen und Kreaturen aus fremden, bereits eroberten Planeten an ihrer Stelle agieren lassen: ferngesteuerte zirpende Riesenkäfer, Hände – das sind seltsame Wesen mit zahlreichen Fingern –, oder Gurbos, Bestien, die mit jedem Schritt den Asphalt eindrücken und Hochhäuser einstürzen lassen. Die Menschen werden Opfer von Halluzinationen und, einmal in Gefangenschaft genommen, in Roboter verwandelt. Bevor der Protagonist, Ehemann und Familienvater Juan Salvo sich entschließt, gemeinsam mit seinen Freunden den Invasoren standzuhalten und sich dem bewaffneten Widerstand anzuschließen, verbarrikadiert er sich zu Hause, wo sich alle befunden haben, als der tödliche Schnee einsetzte. Fenster und Türen werden abgedichtet, jede kleinste Ritze wird verstopft.
Eine der meist verbreiteten Definitionen des Phantastischen stammt von Roger Caillois. Der französische Literaturwissenschaftler war es auch, der Jorge Luis Borges in Frankreich bekannt machte und ihm das Tor zu Europa öffnete, so dass der Argentinier mit einer guten Portion Ironie behaupten konnte, eine Erfindung des französischen Kollegen zu sein.
Laut Caillois ist das Phantastische stets etwas Bedrohliches, ein Element oder Phänomen, das sich durch einen Einbruch, den er als Riss kennzeichnet, Zugang in die Realität der Fiktion verschafft. Oesterhelds Comic könnte aufgrund seines Hauptmotivs – der außerirdischen Invasion mit all ihren Erscheinungsformen – zweifelsohne dem Genre der Science-Fiction zugerechnet werden. Dafür müsste man aber außer Acht lassen, dass Argentinien lange vor der Publikation des ›Eternauta‹ sich programmatisch als das Land der phantastischen Literatur aus der Taufe gehoben hatte, und zwar 1940 mit zwei bahnbrechenden inzwischen kanonischen Werken, die, indem sie auf klare Demarkationslinien zwischen dem Märchenhaften, dem Phantastischen und der Science-Fiction verzichten, Heterogenes subsumieren. Mit Vorworten, die dieses Unternehmen stützen, erscheinen im selben Jahr ›La invención de Morel‹ von Adolfo Bioy Casares, ein Roman mit unverkennbaren Anklängen an H.G.Wells ›Die Insel des Dr. Moreau‹, und die ›Antología de la literatura fantástica‹, eine Sammlung der phantastischen Literatur, herausgegeben von Borges, Silvina Ocampo und Bioy Casares. Bereits in ›Morels Erfindung‹ wird der Protagonist wie später die Figuren Oesterhelds von Halluzinationen heimgesucht. Sowohl hier als auch dort wirken Tote mittels hochentwickelter Technik und komplexer Apparaturen lebendig.
Desaparecidos, weder lebendig noch tot, ›verschwunden‹, heißt es 1979 aus dem Mund von Jorge Rafael Videla, dem Diktator und Vorsitzenden jener letzten argentinischen Militärjunta, die sieben Jahre Schreckensherrschaft zu verantworten hat. Mein Land, das El Dorado der phantastischen Literatur, hat eine dunkle Kehrseite. Es brachte zwischen 1976 und 1983 die schlimmsten Gespenster hervor, echte Ruhelose und Umherirrende, Verschleppte bei Nacht und Nebel, die nicht aufgetauchten Kinder und Enkelkinder, die von den Müttern und Großmüttern auf der Plaza de Mayo bis heute heraufbeschworen werden, Tote ohne Grab und ohne Datum, 30.000 fantasmas aus Fleisch und Blut, die sich in die Seele und die Geschichte eines ganzen Landes einschrieben.
Phantastische Literatur
Nach einem anfänglichen Rückzug in die eigenen vier Wände gestehen sich die Verbarrikadierten bei Oesterheld ein, dass sie trotz herrschender Lebensgefahr nicht anders können, als sich ins Freie hinauszuwagen, zunächst einmal, um sich mit dem Allernötigsten einzudecken, mit Essensvorräten und Medikamenten, aber auch mit Waffen, um in einer zweiten Phase Gegenwehr leisten zu können. Bevor sie das Haus verlassen, basteln Juan Salvo und seine Freunde sich eine schneedichte Ausrüstung. Sie tragen selbstdesignte Tauchermasken und -anzüge.
La historia
In Argentinien ist man sich heute darüber einig, dass der Eternauta ein prophetischer Roman sei, der die Schrecken der letzten Militärdiktatur wie kein zweiter vorweggenommen hat. Sein Autor – zur Zeit der ersten Niederschrift – noch nicht in die Wirren argentinischer Politik involviert, wird später Aktivist. Der Enthusiasmus und Idealismus seiner vier Töchter wirkt auf ihn so ansteckend, dass er, der Alte, in den Siebzigern Mitglied der Montoneros wird, der revolutionären links-peronistischen Stadtguerrilla. Er taucht unter, wird aber wie seine Töchter verschleppt und gehört ebenso wie sie zu den 30.000 Opfern des Terrorregimes.
Ganz abgesehen von der Metapher des Untergrunds und Untertauchens (die nur auf Deutsch funktioniert), fragte ich mich bei der argentinischen Lektüre des ›Eternauta‹, weshalb ausgerechnet ein Taucheranzug und eine -maske ersonnen werden, um die Menschen vor etwas zu schützen, das in dem fiktiven Buenos Aires vom Himmel bzw. aus der Luft kommt. Auch in diesem Einfall Oesterhelds könnte eine Vorwegnahme der Geschichte gesehen werden. Gerade jetzt, wo es den ›Eternauta‹ auf Deutsch gibt, wurde nachträglich das wahre Bekenntnis eines ehemaligen Militärs ins Deutsche übersetzt. In ›El vuelo‹ – ›Der Flug‹ – erfährt der Leser aus dem Mund des Mörders Adolfo Scilingo im Gespräch mit dem Journalisten Horacio Verbitsky, wie das argentinische Militär einige seiner Gegner betäubte und aus Flugzeugen ins Meer warf, um sie auf diese Art und Weise für immer verschwinden zu lassen.
Die Geschichte
Die Geschichte der Invasion bildet bei Oesterheld eine Binnenerzählung. Eingebettet ist sie in eine Rahmenhandlung, aus der sich der Buchtitel der Graphic Novel erklärt. Ein Comicautor sitzt des Nachts am offenen Fenster seines Hauses und arbeitet. Als handle es sich um ein Gespenst, materialisiert sich vor ihm auf der anderen Seite des Schreibtisches jemand, der sich ihm als der ›Eternauta‹ vorstellt: Er habe hunderte von Namen, diesen einen aber habe ihm ein Philosoph Ende des 21. Jahrhunderts gegeben. Er sei ein Reisender durch die Zeit, ein Pilger durch die Jahrhunderte, ein ewiger Wanderer, der sich bloß kurz ausruhen wolle, bevor er die Suche nach seiner Frau und seiner kleinen Tochter fortsetze. Damit der Hausherr und Comicautor ihn aber nicht gleich fortjage, wolle er ihm seine Geschichte anvertrauen. Das tut der ›Eternauta‹ alias Juan Salvo Schritt für Schritt, er wolle das Ende seiner Geschichte nicht vorwegnehmen, vor allem keine Zeitsprünge machen. Nach dem Fortsetzung folgt-Prinzip wird gelegentlich auf die Rahmenhandlung Bezug genommen – so auch am Schluss. Nachdem der Comicautor und mit ihm der Leser erfahren hat, wie der Erzähler, seine Frau und seine Tochter Zuflucht in einer fliegenden Untertasse finden konnten, wie der Familienvater anstatt des Steuerknüppels irrtümlicherweise die Zeitmaschine betätigte, eine Maschine à la H.G. Wells, die ihn ins sogenannte Kontinuum 4 katapultierte, wo er zu hören bekam, es gebe unendlich viele Kontinuen, so dass das Aufspüren seiner leider woanders hingebeamten Familie bis heute fortdauere –, will der verdutzte Comicautor wissen, wann genau sich das Erlebte zugetragen hat. Die Antwort des ›Eternauta‹ ist der Schlüssel, bei dem Tempi und Konkordanzen versagen müssen: Die Invasion geschah 1963, das heißt, in der unmittelbaren Zukunft des Comicautors, denn die Rahmenerzählung ist 1959 angesiedelt. Als dieser Zeitzusammenhang wiederum dem ›Eternauta‹ klar wird, stürzt er auf die Straße, läuft einige wenige hundert Meter – einmal um den Block sozusagen –, bis er als Juan Salvo (sinngemäß: Johannes der Retter bzw. Johannes der Gerettete) wieder vor seinem Haus steht. Als wäre nichts passiert und nicht mehr als eine halbe Stunde vergangen, kommen ihm seine Frau und seine kleine Tochter freudestrahlend entgegen. Der Comicautor, nach einer Scheherazade-Nacht Zeuge der Begegnung am frühen Morgen, will das Abenteuer niederschreiben, in der Hoffnung, dadurch das Unheil, das noch kommt, verhindern zu können.
El tiempo
El tiempo bedeutet auf Spanisch die Zeit, aber auch das Wetter. Der erste historische Schneefall über Buenos Aires ereignete sich ein Jahr vor der Geburt von H.G. Oesterheld, der letzte just dann, als die Biblioteca Nacional mit einer Ausstellung das fünfzigjährige Jubiläum des ersten ›Eternauta‹ feierte. Die Zeit, Autor und Werk hochleben zu lassen, schien reif zu sein.
Die Zeit
Wenn die Fiktion das Leben vorschreibt, oder umgekehrt, wenn Text und Bild sich nicht bekriegen, sondern befruchten und verdichten, wenn gezeichnete Schneeflocken beim Betrachter den Eindruck erwecken, sie seien dazu da, Gewissheiten zu unterminieren und die Wirklichkeit poröser werden zu lassen, damit er den Mut aufbringt, sie zu hinterfragen, wenn Argentinisches ins Deutsche übertragen wird, wenn der Autor eines Comics auch der Comicautor in der Fiktion ist oder sogar der ›Eternauta‹, wenn das Haus von Juan Salvo und das von H.G. Oesterheld zum Verwechseln ähnlich sind, wenn Reales und Erdachtes untrennbar miteinander verwoben werden, wenn es unendlich viele Realitäten, sogenannte Kontinuen gibt, wenn in der Fiktion die Linearität aufgehoben ist, so dass dem Tod ein Strich durch die Rechnung gemacht wird, stirbt nichts und niemand – auch nicht zuletzt die Hoffnung, dass ich mit jeder Relektüre dieses Klassikers und mit jedem Berliner Neuschnee an Lebenserfahrung gewinne, so dass ich, wenn ich in meinen Siebzigern sein werde, es kaum werde erwarten können, Schlittschuh zu laufen.
Für die Comics: © avant-verlag, 2016 – heirs of Osterheld/Lopez

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