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Kürzer und unerbittlicher ist das Thema Leben kaum je beschrieben worden. Zugrunde liegt dem fünfzeiligen Gedicht das Bibelzitat: "Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn dass ein Reicher ins Reich Gottes komme" (Matthäus 19, 24). Wobei "Nadelöhr" in diesem Kontext eine kleine Pforte in der Stadtmauer von Jerusalem meint. Die Autorin bezieht es auf die Nadel, im übertragenen Sinn aber auf den engen Geburtskanal, durch den wir ins Leben gestoßen werden. Ungefragt, wohlverstanden. Und ohne dass wir wüssten, wie wir in jenen Mutterschoß zurückfinden könnten. Das Leben ist groß, unwirtlich, kalt. Wir sind ihm restlos ausgeliefert. Und müssen "durch und durch", bis zum bitteren Ende.
Wer hält das Öhr fern von uns (und das auch noch ohne "von", das heißt doch was)?
Was bewirkt die Beziehung der Umlaute zueinander?
Und wie verändert sich das Gedicht, wenn wir heute nicht mehr auf Seiten der Kamele sein wollen und auch das "Wir" nicht mehr so leicht hinnehmen können. Was sagt das über unsere und die Zeit des Gedichts aus?
Oder ist es eines der ewigen Gedichte? Dann muss man diese Fragen nicht stellen.
Hier sprechen vorerst nur Frauen, deren Vornanem mit I beginnen.
Da dies bei meinem zweiten Vornamen der Fall ist, mische ich mich ein: gIbt Is ewIge gedIchte?
Ich hIffe neIn.
Ich bin kein Kamel. Und kein Kamel ging je durch ein Nadelöhr – bestimmt ein Übersetzungsfehler. Nur passieren hier ja auch ganz andere, unerÖHRte Dinge. Denn als Faden kann ich mich durchaus verstehen, in der grauschwarzen Ödnis. Und dass da jemand ist, sein muss, der etwas vorenthält ... ja, nur wer, und was? Insofern doch Kamel. Und, Madame, Verbeugung vor der Schöpferin des Nashorns unter der Küchenbank sowieso.
Weder als Frau noch als "I":
Schon das Wort "ewig" für ein Gedicht ist kitschig. Das liegt an einer unterschobenen Religiosität. Ich schätze, Frau Rakusa, Ihre neutestamentarische Erklärung, so naheliegend sie auch ist. Daß wir aber durch den Geburtskanal "gestoßen" würden, ist eine mir ferne Vorstellung, und ich war bei drei Geburten helfend zugegen. Auch die "restlose Auslieferung" sehe ich in dem Gedicht nicht, so wenig wie in der Wirklichkeit, jedenfalls in dieser Allgemeinheit.
Ihrem Bibelverweis nach hält man dem Uns des Gedichts aber das Stadtor zu, bzw. ihm es fern. Dann handelte es sich um eine politische Aussage, der sich folgen ließe. Das Problem des Gedichtes ist aber, daß sich etwas, das bereits eingefädelt ist, dem, durch das es gefädelt wurde, fernhalten gar nicht mehr läßt. Hier kippt der kleine Text komplett, meine ich: zum einen aus der beliebig, von altersher bekannten Klage des "zu kurz", dann in der Matthäus-Anspielung und schließlich in der Metaphorik Mensch=Kamel. Zumal ist dieses "uns" gänzlich unbestimmt, es können ja auch nur e i n i g e Kamele gemeint sein, zum Beispiel eine bestimmte Klasse der Kamele.
Mißglückter Sinn(-, bzw. Unglücks-)Spruch, nicht mehr, finde ich. Als solchen zieh' es sich an, wer will.
Allein schon die Titel der 114 Gedichte sind interessant. Gedichte in nuce, manchmal aufgeplatzte Eier, sehr oft Gedicht-Gene, zu untersuchende Gene. Auch sie könnte man einmal sammeln. 1000 und 3 Gedichttitel. – In diesem Fall: interessanterweise heißt ein Buch von mir „durch und durch“, und diese Wendung bedeutet entweder ganz und gar oder durch und nochmals durch, also hin und her. – Bei dem obigen Gedicht wäre ein einfaches „durch“ passender.

