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Durch Qualm und Dunkel jäh einbrechendes Feuer, das war mein erstes Erfahren Trakls: „Unter Dornenbogen / O mein Bruder klimmen wir blinde Zeiger gen Mitternacht.“ Und in solcher Erhellung ein Plakat, das damals an allen Brandmauern klebte: Auf graufinsterem, schlierigem Grund ein Stahlhelmprofil, einer verborgenen Sonne entgegenblickend, und unter der Geste jenes Griffs, die besagt, man binde den Sturmriemen fester, der beschwörende Anruf an die Betrachter: DIE STUNDE VOR TAGESANBRUCH IST IMMER DIE DUNKELSTE. Nun sah ich jählings: Gen Mitternacht. Es war am dritten oder vierten Mai 1945, also kurz vor der Kapitulation der Wehrmacht, und eine Verkettung von Zufällen hatte bewirkt, daß ich, dreiundzwanzigjähriger Soldat, aus dem Lazarett entlassen und noch an einem Stock humpelnd, mich ein paar Tage ungeschoren in meinem Vaterhaus aufhielt, zu einem Genesungsurlaub, mit amtlichem Schein, samt einem Marschbefehl nach Dresden, das irgendwo in Asche lag. Vermutlich auch in Feindesland: Amerikaner und Russen hatten sich an der Elbe vereinigt; Berlin war gefallen, Breslau gesprengt, Köln zertrümmert, Hamburg verbrannt, aber: DIE STUNDE VOR TAGESANBRUCH IST IMMER DIE DUNKELSTE, und wir, im geistigen Niemandsland eines Wahnes, der nichts mehr hoffte und alles glaubte, flüsterten von den Wunderwaffen, die ganze Armeen vernichten würden, und schlugen die Vernichtungsschlachten am Wirtshaustisch, in Lachen Bier, und Fingerspuren von Schnaps, und Markierungslinien aus Wurstpellen, denn bei uns, in den Tälern des böhmischen Riesengebirges, gab es noch Bier, und Schnaps, und belegte Brote, und die nächtliche Stille wurde nur vom Gegröl der heimwärts schwankenden Sieger über Yankee und Iwan unterbrochen. Mitunter, bei vagen Geräuschen, verhielten wir lauschend, ob schon die Explosionen der neuen Granaten das Morgenrot dem Osten entrissen, doch die Nacht blieb still. In der Früh würde ich aufbrechen müssen, und nun saß ich, wie stets nach dem Abendbrot, mit meinem Vater in dessen Arbeitszimmer, jeder in eine Lektüre vertieft, er in Handschriften phantastischer Rezepturen, von denen er den rettenden Aufschwung seiner kleinen Pharmazie erträumte (ein Giftköder für streunendes Raubzeug zum Beispiel, der beim Zerbeißen in den Zähnen festkleben würde und also nicht ausgespien werden konnte; oder ein wunderbares Verjüngungsmittel in Zäpfchenform; oder grüne Kräuter, die, als Tee genossen, nachts liebliche Träume brächten) −: er also in einer olivbraunen, mit Husarenschnüren verzierten Samtjoppe vor seinen magischen Entwürfen, und ich, schon halb in Uniform, über einem Buch Gedichte, das ich auf der Reise vom Lazarett in einem Antiquariat erworben hatte, einem schmalen Band in großen Lettern, mit blaßblauen Titeln über den Blöcken der Verse, und einer von Lorbeer zerbrochenen Leier auf grauem Einband, und durch die Nacht hinter dem Fenster und dem Auge brach dies Wetterleuchten:
Über den weißen Weiher
Sind die wilden Vögel fortgezogen.
Am Abend weht von unseren Sternen ein eisiger Wind.
Über unsere Gräber
Beugt sich die zerbrochene Stirne der Nacht.
Unter Eichen schaukeln wir auf einem silbernen Kahn.
Immer klingen die weißen Mauern der Stadt.
Unter Dornenbogen
O mein Bruder klimmen wir blinde Zeiger gen Mitternacht.
Es bedurfte nicht der Überschrift: „Untergang“, um zu erfahren, was dieses Gedicht da aussprach. Es war unser Untergang. – Ich hatte Gedichte nie anders gelesen, als daß die Bilder, die sie sagten, mir leibhaftig vor die Augen traten (ich hatte gar keine Vorstellung, daß man Verse anders lesen könne), und also sah ich den Weiher, und ich sah meinen Waldsee, den meines Herzens, der ebenso ein Stück Erdoberfläche mit angebbaren geographischen Koordinaten wie der heimlichste Winkel meiner Seele war, doch der Wald war nun nichts als verschwommene Schwärze, und der See, der in meinen Erinnerungsträumen stets den mondhaften Glanz von Silber besessen, war nun weiß in jenem entsetzlichen Sinn, daß er nichts spiegelte, so wie Kalk nichts spiegelt, kein Ufer, keinen Baum, nicht einmal einen Himmel, nur Tünche, darunter sich kein Kräuseln mehr regt. Und dennoch mein Weiher, seine einzige Form. Als ich diesem See begegnet war: als Achtjähriger, auf einer Ferienreise, der elterlichen Obhut beim Spaziergang entlaufen und plötzlich im fremden Wald verirrt, war der See von der Farbe des Erschauerns gewesen, das er erzeugte, von dem Geheimnis eines Zauberortes, den man mit keinem teilen wird. Ein solches Erlebnis wird Jedem gewährt; es kommt nur darauf an, es nicht zu verschmähen. Dieser Ort kann eine Höhle sein, eine Holunderlaube, oder ein Felsspalt, oder auch nur eine Zimmerecke in einer besonderen Beleuchtung, ein Stück Bürgersteig über einem Gully, ein Kellerfenster, ein Berg, ein Feldrain, ein Streifen Asphalt – bei mir war es tatsächlich ein See gewesen, und in seiner unergründlichen Tiefe blieb die rasende Lust des Entlaufenseins als Inbegriff aller möglichen Zukunft geborgen, so wie die Möglichkeit aller Macht in Aladins Lampe geborgen liegt. Und nun erfuhr ich, daß diese Fülle dahin war, in ihr Gegenstück des Entleerten verwandelt: Der See von Grund auf mit Kalk gefüllt; in der Luft noch das Rauschen der fortfliegenden Vögel; Wald und Himmel in raschem Verdämmern, und von unseren Sternen brach eisiger Wind. Unsere Sterne, das waren die, die unseren Siegen geleuchtet hatten, kein besonderes Sternbild wie der Orion oder die Krone, sondern ihre Gesamtheit zur besonderen Stunde, eben der des Sieges, die wir so wiederkehren wähnten wie ein Morgen, der immer wieder anbricht, und nun war auch diese Stunde für immer dahin; unsere Sterne nur mehr Löcher im Weltraum; Kälte brach nieder, und wiewohl es Mai war, erkannte ich das Weiß des Weihers als jenes Weiß, wie es im Gesicht des Kameraden erschien, der neben mir durch den Schneesturm stapfte, jenes Weiß als Bote erfrorenen Lebens, bei dessen Anblick es einem durch den Sinn schießt, ob man nicht selbst schon dieses Zeichen trägt. Der Tod; und plötzlich trat die Kälte ins Zimmer; ein Anhauch, und ich wußte den Weiher vorm Fenster, und für den Moment eines Augenblicks begriff ich, ohne es noch zu fassen, daß der Krieg verloren war.
Keinem, der sich mit Trakl beschäftigt, kann dessen Vorliebe für Farben entgehen, und mancher Interpret verweist dabei auf den Umstand, daß die Farben bei Trakl Empfindungen gegensätzlicher Art ausdrücken wie erzeugen: Weiß ist die Farbe des Schnees, aber auch die des Moders, gelb die des Goldhaften, aber auch des Kotigen, grün ist das Mailaub, aber auch die Verwesung, und also, abstrakter, Hoffnung wie Angst. Wir werden Gelegenheit nehmen, diese Beobachtungen an Trakls Gedicht zu verallgemeinern und die Einheit von Gegensätzen als das Wesen des dichterischen Wortes überhaupt zu erklären, auch als Wesen so unscheinbarer Gebilde wie „und“ oder „ach“. Die deutsche Sprache ist so hellsichtig gewesen, dem Substantiv „Wort“ zwei Pluralformen zukommen zu lassen: „Worte“ und «Wörter“, und wir beabsichtigen die Konsequenz, hier nicht den Fall eines zweifachen Plurals anzunehmen, sondern schon den zweier verschiedener, wenn auch gleichlautender Singulare, weshalb wir fortan den Begriffsausdruck „Wort“ zu der Mehrzahl „Worte“ dem Bereich der Dichtung zuweisen wollen, streng im Unterschied zu einem Singular „Wort“ mit dem Plural „Wörter“, der für uns das Wort als Instrument des wissenschaftlichen Zugriffs bezeichnet. Wir folgen damit dem Beispiel Schillers, der seine Ankündigung: „Drei Worte nenn’ ich euch, inhaltsschwer“ nicht auf Worte im Sinn geprägter Gedanken, sondern auf die einfachen Lexeme „frei“, „Tugend“ und „Gott“ bezogen hat. Diese Konsequenz aber bedeutet nichts anderes, als zwei in den Grundelementen gleichlautende und dennoch wesensverschiedene Sprachen anzunehmen, eine Sprache der Wissenschaft und eine der Dichtung, zwei Sprachen, die in den identisch erscheinenden Bausteinen derart voneinander verschieden sind, daß etwa die Adjektive „rot“ und „gelb“ in der Wissenschaftssprache als eindeutige Wörter, nämlich als Namen für die Netzhauteindrücke bestimmter elektromagnetischer Wellen, in der Sprache der Dichtung hingegen als ambivalente, trotz jeweils klarer Begriffsbestimmung nie ausschöpfbare Worte anzusehen sind. „Rot“ – das ist der Name für den Netzhauteindruck einer Frequenz von 4 • 1014 Hertz; und „rot“ sagt eine Einheit von Leben und Tod.
Der Widerspruch als Wort und im Wort zeugt den Widerspruch im Leser: Warum sollte das Weißsein des Weihers denn auf das Weiß des Kalks und des Frosts festgelegt werden, da man es doch genausogut als das Weiß einer Milde interpretieren könnte, als das Weiß von Schäfchenwolken und Buschwindröschen, und den Weiher als in einem Grenzbereich, halb in der grausamen Wirklichkeit, und halb im Traumland der Ohnmacht gelegen, dahin die wilden Vögel gezogen sind? Gewiß kann man diesen Weiher durchaus auch so sehen, und das beste Zeugnis für die Möglichkeit verschiedener Sichten liefert Trakl selbst. Dieses Gedicht ist die fünfte Fassung eines Mühens, dessen vier vorhergehende erhalten sind und folgende Wandlung des Weiherkomplexes zeigen:
Erste Fassung: „Umschlungen tauchen wir in blaue Wasser;“
Zweite Fassung: „Weht uns die Kühle blauer Wasser an;“
Dritte Fassung: „Weht uns das Antlitz steinerner Wasser an;“
Vierte Fassung: „Unter den dunklen Bogen unserer Schwermut
Spielen am Abend die Schatten verstorbener Engel.
Über den weißen Weiher
Sind die wilden Vögel fortgezogen;“
welche dritte und vierte Zeile dann die endgültige Formgebung als Beginn des Gesamtgedichts übernimmt. Aber wie wir das Weiß des Weihers auch auffassen mögen – ist das Ergebnis der verschiedenen Betrachtungsmöglichkeiten nicht stets dasselbe: Eine letzte Hoffnungslosigkeit? und ist die nicht deshalb so unabweislich, weil das Weiß der einen wie der anderen Sicht jeweils beide Deutungen einschließt: den Weiher als ein erfrorenes Holdes, oder das Holde als unrettbar vom Frost bedroht? Der Vers Trakls vereint beide Möglichkeiten (und das Wort „weiß“ vereint sie schon) dergestalt, daß er der Sprung zwischen beiden ist, der Umschlag des Einen ins Andre innerhalb der Einheit eines poetischen Bildes, das hochgenaue Wort für eine Bewegung, die einen Kosmos in sich birgt. Was man Trakl mitunter vorgeworfen hat, oder was man als „Not des Sagens“ zu entschuldigen bereit war, nämlich das Verwenden gegensätzlicher Adjektive in den verschiedenen Fassungen seiner Gedichte, so daß er, um ein drastisches Beispiel zu wählen, in einer ersten Fassung des „Helian“ vom „Purpur seiner heiligen Tage“, in einer zweiten hingegen vom „Purpur seiner verruchten Tage“ spricht – diese seine vermeintliche Schwäche ist seine Stärke, der traumsichere Gebrauch des dichterischen Wortes, des Wortes im Sinn eines Plurals „Worte“, dessen Wesen die widersprüchliche Einheit menschlicher Erfahrung ist.
Und wem es verdächtig zu sein scheint, daß unsere Interpretation so genau auf einen späteren Augenblick paßt, daß der Eindruck entstehen kann, als sei dies Gedicht nicht 1913 von Georg Trakl, sondern zweiunddreißig oder gar vierundsechzig Jahre später von seinem Interpreten geschrieben, der möge zusehen, wie er dem Einwand begegnet, es sehe aus, als habe sich die Geschichte selbst nach Trakls Dichtung gerichtet. Ganz zweifellos hat sie das insofern, als Trakl ja das Kommende aussprach: den Untergang einer Welt, die sich unerschütterbar fühlt und im Glauben dieser Unerschütterbarkeit handelt, wiewohl schon ihre Grundmauern beben. Damit kehre ich in das Arbeitszimmer meines Vaters wenige Nächte vor dem Ende des Kriegs zurück.
Er saß in seiner samtenen Husarenjoppe, nippte Wein, kritzelte Berechnungen auf eine leere Zigarettenschachtel, und über unsere Gräber beugte sich die zerbrochene Stirne der Nacht.
Über den weißen Weiher
Sind die wilden Vögel fortgezogen.
Am Abend weht von unseren Sternen ein eisiger Wind.
Über unsere Gräber
Beugt sich die zerbrochene Stirne der Nacht.
Unter Eichen schaukeln wir auf einem silbernen Kahn.
Gedichte sind eine andere Art Träume – unsere Gräber, das waren die Löcher, die statt unserer Sterne im Weltraum starrten: die Nacht, und ihre zerbrochene Stirne. Ich konnte sie sehen, sie stand ja vorm Fenster, und plötzlich erinnerte ich mich der Szene eines Schauerfilms: Der wahnsinnige Besitzer eines Wachsfigurenkabinetts, der bei einem Brand seines Unternehmens nicht nur sein heiles Menschengesicht, sondern auch den Verstand verloren hat, so daß er, über seinen verschmorten Zügen eine Larve aus Wachs und, scheinbar gelähmt, sich nur im Rollstuhl zeigend, eine neue Kollektion von Panoptikumsfiguren sich dadurch zu schaffen versucht, daß er Menschen in seine Gewalt lockt, um sie mit siedendem Wachs zu überziehen, bei welchem Bewältigungsversuch einmal unter den Schlägen eines sich wehrenden Opfers seine Gesichtsmaske in Stücke springt, und aus der zerbrochenen Stirne des jäh sich Erhebenden trat die Fratze des Todes. Bei dieser Szene fielen immer Frauen in Ohnmacht; das Kino lebte von diesem Entsetzen, und wir saßen in den Bänken, Halbwüchsige in Stiefeln, und lachten, und rissen Witze, und fühlten doch den Schauer, daß der Wahnsinnige nach uns greife, und nun zerbrach wieder eine Tünche, und diesmal unter Schlägen der Stille, und ich hob wie zur Abwehr das Buch hoch, da hörte ich plötzlich meinen Vater fragen, ob die Gedichte, die ich da von einem Georg Trakl lese, vielleicht von einem Georg Trakl aus Salzburg stammten, und als ich dies mit der Mitteilung bejahte, der Band enthalte Gedichte auf Schloß Mirabell und den Mönchsberg, und sonst manche Zeile, die man auf eine Bischofsstadt beziehen könne, zog ein Lächeln der Genugtuung über das immer noch ungläubige Gesicht meines Vaters; er sah über seine Rezepturen hinweg auf das Buch wie auf eine Geistererscheinung und sprach, seine Husarenschnüre streichelnd, mit kopfschüttelnder Verklärung: Dann sei also aus dem armen Schorschl doch noch etwas geworden.
Natürlich fragte ich, ob er Trakl kannte, und mein Vater nahm mir das Buch aus der Hand, und blätterte, und erklärte dabei, er sei Trakls Kamerad gewesen, gleichaltriger Heeresapotheker wie er, in der amtlichen Bezeichnung Medikamentenakzessist, was etwa dem Leutnantsrang entspreche, genau genommen noch etwas höher als Leutnant, wenn auch leider, nun ja, niemals so anerkannt, und er ließ das Buch sinken und erzählte, daß er in einer Sanitätskolonne, die im Frühherbst 1914 im Bereich der Festung Przemysl eingesetzt wurde, mit dem Schorsch oft dergestalt beisammengewesen, daß sie in der Messe nebeneinander speisten und auch manchmal ein Quartier miteinander teilten, weshalb er, wenn es mich interessiere, eine Unmenge von Schorschl erzählen könne: von seiner Spinnerei, seinem Sparren, denn verrückt sei dieser Bursche ohne Zweifel gewesen, wofür ihm natürlich ein gehöriges Maß an Fopperei zuteil geworden, und der Sechzigjährige nahm seinen Zwicker ab, und rieb sich, vom jähen Licht der Erinnerung geblendet, die Augen, und blinzelte, und seufzte versonnen:
Ujegerl, was habe man damals den Schorschl geuzt, manchmal sei’s ja schon ein bissel gar arg gewesen, vor allem, wie man ihn mit seinen Gedichterln aufgezogen habe, mit seinen Wasserleichen und seinen spaßigen Vögeln, da sei er ja manchmal am Tisch aufgesprungen, und hab nicht reden können, nur mit den Fäusten schwenken, und dann sei er auch hinausgerannt, daß man gedacht hab, er tue sich was an, doch er sei halt dermaßen spinnert gewesen, der Trakl Schorschl, daß man ihn einfach hab hochnehmen müssen, und dabei ein Kerl wie ein Bär, und ein kreuzguter Mensch, natürlich kein guter Apotheker, aber Wein habe er saufen können wie sonst nur noch der Stabsarzt, das seien ja ungeheuere Besäufnisse damals gewesen, in Galizien, zwischen Schlachten und Schlachten, ja und dann habe sich der Schorschl plötzlich verloren, wahrscheinlich habe man ihn entlassen, er sei ja wirklich nicht zu gebrauchen gewesen – und mit einmal, als fürchte er nach dreißig Jahren die Schuld einer verzögerten Kenntnisnahme, klemmte mein Vater den Zwicker wieder auf die Nase und begann zu lesen.
Draußen stand die Nacht, mit zerlöcherter Stirne, und sah mit mir meinem Vater zu, der sich nun in die Gedichte zu versenken versuchte und mit Erinnerungen stritt; er starrte lange auf eine Zeile, ohne die Augen zu bewegen, und sagte manchmal: „Mein Gott –“, und blickte hilflos lächelnd auf, und schluckte, und las zögernd weiter, und kaute, wie er es in Verlegenheitsmomenten tat, an den Enden seines Bürstenschnurrbarts, und dann blätterte er so zerstreut durch den Band, daß ich fürchtete, und zugleich auch wieder hoffte, er werde die Lesung mit irgendeiner Floskel beenden, doch mit einem Mal nickte er heftig und rief mit der augenweitenden Lust des Wiedererkennens: Ja, akkurat das sei es gewesen, das spinnerte Stückl, weswegen man den Schorschl bei einem Mullatschag so schrecklich gepflanzt hab, da habe man nämlich einmal Papiererl von ihm aufgestöbert und dann in der Messe reihum gegeben und vorgelesen, er entsinne sich wieder, Wort für Wort, und wie der Schorschl damals aufgebrüllt hab, und sich verfärbt hab, und ganz weiß geworden, und gezittert hab, daß man denken mußte, er haue jetzt drein mit seinen Bärenkräften, aber dann sei er nur dagesessen, kalkweiß, und unheimlich, als ob er gar nichts mehr höre −; und ehe ich ihn noch fragen konnte, welches Gedicht er meine, lachte der Mann in der braunen Husarenjoppe gutmütig und schallend und zitierte eine Wendung, um sie weiterlachend zu kommentieren: Solch einen Schmarrn könne wirklich kein gesunder Menschenverstand verstehen -; doch mitten im Lachen, als ob er spüre, daß jenes wütende Traurigsein in mir wuchs, das schon zweimal zu Tätlichkeiten zwischen uns geführt hatte, brach er ab, und klappte das Buch zu und schlug vor, auf das Wohl des armen Schorschl anzustoßen, er sei ein kreuzbraver Kerl gewesen und, wenngleich auch kein guter Apotheker, so doch gewiß der seltsamste Medikamentenakzessist in der an seltsamen Käuzen bestimmt nicht armen kaiserlich-königlichen österreichischen Armee.
Wir tranken, und die Nacht sah uns zu. Ich weiß heute nicht mehr, und wußte es sicher auch damals nicht, welches Gedicht mein Vater gemeint hatte, als er mir nach diesem Glaserheben das Buch wortlos über den Tisch zurückgab; vielleicht eines mit der Gestalt der Schwester als Mönchin, denn so will mir die von ihm zitierte Wendung im Gedächtnis jetzt laut werden, aber ich kann mich nicht festlegen. Ich entsinne mich nur an diesen Toast, und daß mein Vater mich nicht fragte, was ich von den Gedichten halte, ob sie mir gefielen, ob ich sie verstehe; er widmete sich wortlos wieder seinen Rezepten: dem Gift im Fuchsmaul, und dem Kraut der Träume, und vergrub sich in Folianten organischer Chemie, und ich scheute, oder fürchtete mich, ihn weiter nach seinem Kameraden, dem k.u.k. Medikamentenakzessisten Georg Trakl zu fragen, von dem ich damals noch nicht wußte, daß er sich eben in der Zeit, da mein Vater ihn entlassen wähnte, dem Greuel seines Tags in den Tod entzogen hatte, und dies wahrscheinlich durch eigene Hand. Ich kannte damals nichts vom Leben der Dichter; ich wollte kein Bild. So fragte ich denn nicht weiter, und nahm das Buch, und trank Wein, und glaube zu wissen, daß ich noch einmal das Gedicht las, das mich in jener Weise erschüttert hatte, von der man ahnt, daß die Risse erst später aufbrechen, den Untergang, seine dritte Strophe, die letzte, die nie wieder vergessene:
Immer klingen die weißen Mauern der Stadt.
Unter Dornenbogen
O mein Bruder klimmen wir blinde Zeiger gen Mitternacht.
(…)
FÜHMANN GELESEN
mit mir hätte er gern schach
gespielt, wenigstens eine halbe
partie, kurz vor dem ende
einer ewigen freundschaft, aber
es reichte nur zu halma
an diesem dunklen abend,
der so vieles vorwegnahm,
nebenan schlief schon
der stadtkommandant,
zeitweilig stationiert,
den schlaf aller gerechten,
ungerecht, wie die welt ist
auf allen erdteilen, leichter
wird es nun nicht, ohne ihn
weiterzuleben, mit dieser gewißheit
ins unlebbare hinein und mitten
hindurch, wozu auch, wozu bloß
immer so bieder hindurchgegangen,
nur ja nicht auffallen wollen,
sprich leiser hinter vorgehaltner hand,
der atem stockt vor jeder entscheidung,
verachtung, die kein wort findet,
die stimme stummgestellt,
und noch ein kurzer schritt
zum abgrund hin, du taumelst,
vor mir im sturz nur mehr ein flügel,
aber für immer gebrochen:
Fühmann gelesen.
Wulf Kirsten
AN TRAKL GEDACHT
Es tönt auf, das Schauen, zaghaft, blöde.
Er wehrt sich, geschaut zu haben:
die Fratzen „wahr und schön“.
Wer weiß das Wirre ihrer Schrift?
Wer liest es dann? Das Kalbsgesicht,
in dem der Gott erschreckt und schweigt,
den schwarzen Himmel, „Schnee
des Abgrunds“. Und ist tot?
Es war in seinem Haus, die Klage auch:
das Bild von nichts. Warum es sagen, ja,
es sagen müssen? Not, es zu verfehlen?
Vergißt es uns, von uns vergessen?
Er hielt es an, es riß ihn ein,
den es betraf, den es gelassen hat:
den Fremdling hinzuklingen, Enkel,
der nicht schweigen durfte, Zungengeist,
versengtes Wild. Die Witterung
verfärbt in Rätsel, ohne Weidegrund.
Die Windsbraut zwang ihn frei,
das Schicksal zu verlassen, das ihn brauchte.
Deine Stimme versagt in den Stimmen.
Die Dämmerung warnt. Vogelgefieder
schüttelt das Licht ab,
dem Morgen dann bleibt kein Jubel.
Erschreckende Helle. Die Augen zerstören
die Rede, zu viel Angesicht erpreßt,
verhindert Verwandeln, das Fließen,
das sich die Nacht schuf.
Der Lockruf genügt. Er reißt sich los,
unverlangt. Die Mitte des Rufes ist überall,
deine Stimme darin, mitgedreht,
ist die andere, sie gibt keinen Namen.
Alfred Kolleritsch
Heinz Ludwig Arnold: Georg Trakl zum Gedächtnis
Die Tat, 30.10.1964
Adrien Finck: Trakl hier und heute
Hans Weichselbaum (Hrsg.): Trakl-Forum 1987, Otto Müller Verlag, 1988
Norbert Hummelt: Strassen der Verwesung
Neue Zürcher Zeitung, 21.7.2014
Gunnar Decker: Wahrheit ist Schmerz
Neues Deutschland, 3.11.2014
Arno Widmann: „So einsam war es in der Welt“
Frankfurter Rundschau, 2.11.2014
Beatrice von Matt: Blaue Stille, dunkle Gifte
Neue Zürcher Zeitung, 3.11.2014
Gerald Heidegger: „Wie weh ist die Welt …“
orf.at, 3.11.2014
Dieter Kaltwasser: Lasst ihn in seiner Einsamkeit
literaturkritik.de, 3.11.2014
Peter Paul Wiplinger: Trakl – eine Betrachtung
editionslabor.de, 3.11.2014
Jan Kuhlbrodt: Der erste Kontakt
signaturen-magazin.de
Hans Richter: Ein verlorener Sohn Böhmens
Sinn und Form, Heft 4, Juli/August 1992
Walter G. Goes: Versuche über Literatur
Ostseezeitung Rügen, 14.1.2017
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