Gegenüber der politischen und gesellschaftlichen Bedeutung der Dreyfus-Affäre ist das Aufregende an der Story gern in Vergessenheit geraten. Es brauchte wohl einen Erzählprofi wie Robert Harris, um die Überlebenskrise der Dritten Republik im Frankreich der Pferdedroschken und gezwirbelten Schnauzbärte einmal als Thriller abrollen zu lassen .
Die Berge aus Akten, Studien und Zeugnissen wie Émile Zolas Zeitungsaufruf "J'accuse . . .!" mussten umgeschichtet, abgeschliffen, vereinfacht werden, um Aufwind für die Romanspannung zu schaffen (Siehe SZ-Interview vom 26. Oktober 2013).
Harris ist es gelungen, ohne gravierenden Verrat an der Substanz aus diesem Gemenge aus Antisemitismus, Staatsraison und sturer Bürokratie eine Geschichte zu machen, die einen von Anfang bis Ende in Atem hält. Intrigen und Gegenintrigen verzahnen sich haarscharf ineinander, das Fin de Siècle schimmert als Kulisse gerade so viel durch wie nötig, die Ereignisse des berühmten Justizirrtums, der einen Unschuldigen wegen Hochverrat auf die Teufelsinsel verbannte, laufen mit einer Anschaulichkeit vor unseren Augen ab, als stünden wir immer gerade in der vordersten Reihe.
Frühe Zweifel an der Schuld von Dreyfus
Kein Wunder. Harris erzählt aus der Perspektive jenes Oberstleutnants Picquart, der als Chef der Spionageabteilung in der Armee früh Zweifel an der Schuld von Alfred Dreyfus hegte und sich Klarheit verschaffen wollte. Er musste dafür mit Versetzung und Gefängnishaft bezahlen. Im Unterschied zum blassen und steifen Dreyfus war Picquart aber ein umgänglicher Mann, der auch komplizierte Situationen mit klaren Vorstellungen von Ehre schnell in den Griff bekam und Unausgesprochenes treffend zum Ausdruck bringen konnte.
Ihm folgen wir von dem Moment an, wo er die Dreyfus-Akte in die Hand bekommt, in einem ewigen Präsens durchs Labyrinth der Ereignisse bis zur Kaltstellung auf einem tunesischen Außenposten, dann zur Gefängnishaft, zum Gerichtsprozess gegen Zola, wo er als Zeuge auftritt, und schließlich zur Rehabilitierung.
Dieses ewige Präsens lässt uns unmittelbar an Ministergesprächen, Geheimtreffen, verborgenen Operationen, intimen Bettgeschichten teilnehmen. Harris stützt sich auf die umfangreiche Literatur und überlieferte Zeugnisse wie jene aus dem Geheimdossier zum Fall Dreyfus, die unlängst vom französischen Verteidigungsministerium freigegeben wurden. Einzelne Episoden hat er ausgebaut oder hinzuerfunden und so das Ganze zu einem fesselnden Spannungsszenario verknüpft.